„Vielleicht gibt es die Eurozone bald nicht mehr“

Prof. Dr. Christoph Becker lehrt Mathematik an der Hochschule Darmstadt (h_da). Im impact-Interview erläutert der Finanzmarktexperte, wie die US-Zentralbank das internationale Finanzsystem in der Corona-Krise stabilisiert und warnt vor nationalen Egoismen. Die sogenannten „Corona-Bonds“, so Becker, wären ein richtiger Schritt hin zu einer gemeinsamen europäischen Finanzpolitik.

Ein Interview von Christina Janssen, 16. April 2020

impact: Herr Becker, durch die Corona-Pandemie rutscht die europäische Wirtschaft in die Rezession. Droht uns eine Eurokrise wie vor zehn Jahren?

Becker: Das Thema „Haften die Euroländer gemeinsam für ihre Schulden oder arbeitet letztlich jeder für sich“ wurde in der Eurokrise vor zehn Jahren erstmals akut und drohte die Eurozone zu zerreißen. Heute wiederholt sich das Thema mit noch größerer Heftigkeit. Es geht ja auch um noch (!) viel mehr als damals. Machen wir uns keine Illusionen, vielleicht gibt es die Eurozone bald nicht mehr.

impact: Viele Länder nehmen neue Schulden auf, um die Wirtschaft zu stützen. Das wird aber immer schwieriger oder vielmehr: immer teurer, denn in der aktuellen Krise sind weniger Investoren bereit, den Staaten Geld zu leihen. Sie setzen auf Cash statt auf Anleihen. Das gilt nicht nur für die EU, sondern auch für die USA und erst recht für die Schwellenländer. Wie kommen die Staaten heraus aus dieser Zwickmühle?

Becker: Durch Intervention der eigenen Zentralbank und internationale Zusammenarbeit aller großen Zentralbanken. Das heißt: Die Zentralbanken kaufen Staatsanleihen zu einem politisch akzeptablen Zinssatz und verschaffen dem Staat damit Handlungsspielraum. Ja, die Notenpresse rattert und manche sehen uns gleich auf dem Weg in die Hyperinflation, aber es gibt derzeit keinen Anlass zu glauben, dass die Inflation durch diese Maßnahme steigt. Vielen Finanzinstituten und Unternehmen ist mit Geld der eigenen Zentralbank aber nicht gedient. Sie haben sich in US-Dollar verschuldet, weil das die internationale Währung ist. Derzeit leiht die US-Zentralbank, die Federal Reserve, an zahlreiche andere Zentralbanken – so auch an die Europäische Zentralbank (EZB) – Dollar aus, damit die Zentralbanken wiederum Notkredite an die Banken in ihren jeweiligen Ländern vergeben können. Dies war in den letzten Wochen wohl die wichtigste Maßnahme, um das Finanzsystem auf internationaler Ebene zu stabilisieren.

impact: Für Deutschland ist die Situation weniger dramatisch als beispielsweise für Italien oder Spanien, die ohnehin schon hoch verschuldet sind. Müssen die starken EU-Länder den schwächeren unter die Arme greifen, so wie vor zehn Jahren, um die Eurozone zu retten?

Becker: Damals wurde Griechenland nicht nur finanziell unter die Arme gegriffen, sondern es bekam auch gleich die sogenannte „Troika“ geschickt, ein Expertenteam von EZB, EU-Kommission und Internationalem Währungsfonds, das viele Sparideen mitbrachte. Nach der Erfahrung Griechenlands möchte nun niemand mehr die Troika bei sich im Haus haben. Im Ernst: Unterstützt Deutschland Italien finanziell unter strengen wirtschaftlichen Auflagen oder im Vertrauen darauf, dass der enge Bündnispartner Italien das Geld sinnvoll nutzt? Ohne Hilfe durch Deutschland und die EZB wird Italien die Maßnahmen zur Krisenbekämpfung nach allem menschlichen Ermessen nicht finanzieren können. Diese Tatsache spricht für sich. Das Hilfspaket vom 9. April 2020 bietet Italien ESM-Kredite in Höhe von 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts an, zweckgebunden für Kosten im Gesundheitssystem. Zum Vergleich: Im Jahr 2007 lag die Staatsverschuldung Italiens bei 99 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, nach Finanz- und Eurokrise im Jahr 2014 bei 131 Prozent. Und angesichts der Stimmung in Italien ist noch unklar, ob Italien diese Kredite überhaupt in Anspruch nehmen wird. Wem es angesichts dieser Entwicklungen nicht für einen Moment die Sprache verschlägt, der hat nicht zugehört.

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impact: Wären Euro-Bonds oder „Corona-Bonds“, wie sie aus aktuellem Anlass bezeichnet werden, also gemeinsame „Schuldscheine“ aller Euroländer, ein Ausweg?

Becker: Selbstverständlich wären sie das. Und die Eurozone würde endlich zu dem Währungsraum werden, der sie immer sein wollte. Der Euro kann keine relevante internationale Reservewährung sein, wenn ausländische Zentralbanken ihr Geld in Euro nicht sicher parken können. Der natürliche Parkplatz sind aktuell deutsche Staatsanleihen, aber im Vergleich zu US-Staatsanleihen gibt es davon sehr wenige. Euro-Bonds hätten endlich das passende Volumen für eine sichere Anlagemöglichkeit institutioneller Investoren im Euroraum. Mit Euro-Bonds ist der nächste Schritt zu einem gemeinsamen Finanzministerium schon gemacht. Ich denke, dafür ist es nun an der Zeit. Wer teilt sich eine Währung, hat aber kein gemeinsames Finanzministerium? Das schaffen nur wir Europäer.

impact: Was muss auf internationaler Ebene geschehen, um das Finanzsystem zu stabilisieren?

Becker: Die Federal Reserve hat genau richtig reagiert und US-Dollar an andere Zentralbanken weitergeleitet. Wir bekommen also wahrscheinlich neben der Krise im Gesundheitssystem und der allgemeinen wirtschaftlichen Krise nicht auch noch zusätzlich einen Zusammenbruch des internationalen Finanzsystems. Aber die Geopolitik steht sinnvollen Maßnahmen oft im Weg. So hat beispielsweise China von der Federal Reserve keine US-Dollar geliehen bekommen.

impact: Wie erklären Sie diese komplexen Themen Ihren Studierenden? Spielt die „Corona-Krise“ im aktuellen Semester eine Rolle?

Becker: In Vorlesungen mit finanzwirtschaftlichem Bezug nutze ich seit einiger Zeit die ersten fünf bis zehn Minuten, um den Studierenden ein Update zu geben, was in der vergangenen Woche im Finanzsystem passiert ist oder worüber diskutiert wird. Ich ordne diese Entwicklungen in die laufende Vorlesung ein und dann geht’s mit der eigentlichen Vorlesung weiter. Ursprünglich wollte ich damit pünktliches Erscheinen belohnen, mittlerweile ist das wöchentliche Update für mich selbstverständlich geworden. Die Studierenden scheinen es sehr zu schätzen und bekommen eine ganz andere Perspektive auf die Vorlesungsinhalte.

impact: An den „Bankenrettungen“ vor zehn Jahren wurde viel Kritik geübt. Viele Bürger hatten das Gefühl, der Staat tue alles für die großen Konzerne, nicht aber für die Menschen im Land. Können Sie diese Kritik nachvollziehen?

Becker: Für die Sanierung der Hypo Real Estate floss ein zweistelliger Milliardenbetrag an Steuergeldern, aber das Finanzministerium wollte noch nicht einmal veröffentlichen, welcher Gläubiger mit dem Geld letztlich gerettet wird. Das ist ein Beispiel, das mir sofort in den Sinn kommt. Wie sollen sich die Bürger in so einer Situation wohl fair behandelt fühlen?

impact: Wann wird die Weltwirtschaft wieder Tritt fassen?

Becker: Wahrscheinlich nicht so schnell, und auch nicht mehr in der Form wie Ende 2019. Die Weltwirtschaft ist stark synchronisiert, Rohstoffe werden just in time geliefert. Die Lagerhaltung ist minimiert und findet auf der Autobahn im LKW statt. Ganz sicher werden Unternehmen wieder mehr Puffer einbauen oder ihre Lager vergrößern. Die starke Synchronisierung schafft beim Neustart der Wirtschaft Probleme, wenn die Pandemie nicht überall auf der Welt gleichzeitig endet, was sie nicht tun wird. Das V, von dem Ökonomen gerne sprechen, also ein schneller wirtschaftlicher Einbruch und genauso schnelle Erholung, könnte also durchaus ein W werden.

impact: Können wir aus der Corona-Krise etwas lernen, was Globalisierung und internationale Solidarität angeht?

Becker: Sehr viel sogar. Im Grunde geht es um die Frage, ob wir einander helfen oder ob sich jeder zurückzieht und sieht, wie er zurechtkommt. Auf wirtschaftlicher Ebene heißt das: Bleibt es bei der Globalisierung oder kehren wir zurück zu nationalen Lösungen? In der Vergangenheit wurde die Globalisierung immer als vorteilhaft für alle dargestellt, was sie nie war. Wir haben noch gar nicht angefangen zu diskutieren, wie eine fairere Version der Globalisierung aussehen könnte, aber diese Diskussion brauchen wir.

Willy Brandt meinte einmal, wenn die Leute sich am Ende eines Vortrags nicht besser fühlen als vor dem Vortrag, dann taugt der ganze Vortrag nichts. Im übertragenen Sinn bedeutet das wohl nichts Gutes für dieses Interview. Aber so schwierig die Situation auch gerade ist, ein Leben mit einer echten menschlichen Haltung können wir immer führen. Vielleicht entwickelt sich Deutschland ausgerechnet in dieser Krise zu dem guten Nachbarn, von dem Willy Brandt damals gerne gesprochen hat. Werden wir jetzt nicht zu guten Nachbarn in Europa, dann werden wir wohl sehr lange keine weitere Chance dafür bekommen. Aber das sollte uns nicht sorgen, es sollte unser Ansporn sein.

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Christina Janssen
Wissenschaftsredakteurin
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