Die App assistiert bei der Diagnose

Schnellere Hilfe für Frido und Miezi? Drei Forscherinnen der h_da entwickeln gemeinsam mit zwei Tierärztinnen eine Diagnose-App für Haus- und Nutztiere. Sie soll Untersuchungen und Befunde in Veterinärpraxen vereinheitlichen, Krankheitsverläufe visualisieren und bei der Diagnosestellung unterstützen. Gefördert wird das Projekt vom Hessischen Ministerium für Digitale Strategie und Entwicklung.

Von Astrid Ludwig, 15.3.2023

Wenn Fridolin, der schwarzweiße Border Collie, zur Tierärztin muss, herrscht Ausnahmezustand. Er lässt sich nicht gerne anfassen, geschweige denn untersuchen. Der Rüde zappelt wild herum. Ihn festzuhalten und festzustellen, ob seine Arthrose voranschreitet, wo genau die Schmerzpunkte liegen und wie stark die Muskelverspannungen sind, damit hat die Veterinärin alle Hände voll zu tun. Zumal sie gleichzeitig die Ergebnisse schriftlich auf ihrem Untersuchungsbogen dokumentieren will, der neben dem Tier auf dem Boden liegt. 

Durch das Projekt „DDiT“ dürfte das in Zukunft einfacher werden. DDiT steht für die „Entwicklung einer Software zur digitalen Diagnoseunterstützung und Dokumentation in der Tiermedizin“. Die Idee: Statt auf Papier sollen die Befunde während der Behandlung des Vierbeiners künftig mit Hilfe einer App schnell, intuitiv und trotzdem präzise digital dokumentiert werden können. Die elektronische Patientenakte für Menschen wird derzeit heiß diskutiert. In der Tiermedizin ist man da etwas freier. Seit dem Herbst vergangenen Jahres hat sich an der Hochschule Darmstadt deshalb ein multidisziplinäres Team zusammengefunden, das eine entsprechende Anwendung bis 2025 entwickeln will. Darunter sind die Informatik-Professorinnen Elke Hergenröther und Ute Trapp, die Mathematik-Professorin Romana Piat sowie zwei Tiermedizinerinnen aus Deutschland und Norwegen.

Initiiert hat das Projekt, für das die h_da über das Förderprogramm „Distr@l“ der Landesregierung rund 300.000 Euro erhält, die Veterinärin Beate Egner. Sie leitet die Veterinary Academy of Higher Learning (VAHL) und ist Geschäftsführerin des VBS VetVerlages im hessischen Babenhausen. Zusammen mit der spanisch-norwegischen Tierärztin Barbara Esteve Ratsch, die auf Physikalische Medizin, Rehabilitation und Sportmedizin spezialisiert ist, bringt sie ihre praktischen Erfahrungen als Tiermedizinerin ein.

Unterstützung gerade für junge Praxis-Teams

So präsentiert Tierärztin Esteve Ratsch etwa den bisher üblichen Untersuchungsbogen eines Hundes, auf dem sie Vermerke handschriftlich notiert. Die Befunde nicht wie üblich als Text zu formulieren, sondern auf einer graphischen Darstellung des Tieres einzuzeichnen, war ihre Idee. Das soll die Dokumentation der Befunde beschleunigen. Gleichzeitig wird damit die Grundlage zur KI-unterstützten Erstellung einer Diagnose geschaffen. „Wir wollen das Rad nicht komplett neu erfinden“ sagt h_da-Informatik-Professorin Ute Trapp, Expertin für Anwendungsentwicklung und User Experience. Es gibt bereits digitale Praxismanagement-Systeme in der Tiermedizin, die zur Terminverwaltung, Rechnungserstellung, Verwaltung der Stammdaten und für die textbasierte Dokumentation von Befunden im Einsatz sind. In einer dieser Anwendungen kann die neue App der h_da-Wissenschaftlerinnen als Ergänzung integriert werden.

Das interdisziplinäre Forschungsteam will eine App fürs Tablet entwickeln, die einfach und dennoch genau bei der Dokumentation und Diagnose hilft. Die Forscherinnen arbeiten zudem an einem Interface, „das auch beim nächsten Praxisbesuch von Fridolin, die bereits erfassten Daten schnell erkennt und verfügbar macht“, erläutert Prof. Trapp. Es soll ein System sein, das die Befunde auch visuell und graphisch darstellen kann. Künftig, so schwebt es Elke Hergenröther, h_da-Fachfrau für Computer Graphik und Computer Vision vor, könnte ein Klick auf der App reichen, um einen Film abzuspielen, der die gesundheitlichen Veränderungen des Tieres aufzeigt und auch Vorschläge macht, woran das Tier leidet. „Das könnte gerade junge Ärzt*innen unterstützen, die noch nicht so viel Praxiserfahrung gesammelt haben“, ist das Team überzeugt.

Studierende haben einen Prototyp erstellt

Einen App-Prototypen für Hunde haben Studierende des dritten und fünften Semesters des Bachelorstudiengangs Informatik mit Schwerpunkt Kommunikation und Medien bereits erstellt. Die Handhabung scheint einfach: Mit einem Stift werden auf dem Display verschiedene Fenster und Icons angeklickt, die den vierbeinigen Patient*innen und der manuellen Untersuchung zugeordnet sind. Auf einer digitalen „Body Map“ des Tieres können per Stift oder Touch die Befunde am Körper genau eingezeichnet; Schmerz, Verspannung, Belastung oder Erkrankung je nach Intensität farblich unterschiedlich markiert werden.

Numerische und Machine Learning Verfahren werten die Daten und Befunde aus, erklärt Romana Piat die technischen Abläufe. Die Professorin ist auf numerische Mathematik spezialisiert. „Noch stehen wir am Anfang“, berichtet sie. Derzeit entwickelt ihr Team die für die App notwendigen numerischen Algorithmen. Dafür brauchen die Forscherinnen vor allem eine große Anzahl an Daten. „Zunächst von gesunden Tieren, um krankheitsbedingte Abweichungen überhaupt erkennen zu können“, so Prof. Piat. Die App wird zuerst für Hunde konzipiert.

Für die Anwendungssoftware müssen die Befunde und Diagnosen verschiedener Hunderassen erfasst werden, zudem Alter, Größe, Gewicht oder auch internistische Informationen wie Körpertemperatur, Blutwerte oder Blutdruck. Die Unterscheidung muss für das KI-basierte System eindeutig werden, da verschiedene Krankheitsbilder ähnliche Symptome aufweisen können. „Wir beginnen daher mit ganz eindeutigen Fällen“, berichtet Elke Hergenröther. In der Tierorthopädie sind das beispielsweise verrutsche Kniescheiben, „was bei jungen Hunden öfter vorkommen soll“, erzählt sie. Schrittweise wollen sich die Wissenschaftlerinnen gemeinsam mit den beiden Tiermedizinerinnen in der Erkennung und Diagnosestellung voran arbeiten und so das System verfeinern.

Interessant auch für Tierversicherungen

„Im Vergleich zur Informatik und Mathematik ist die Medizin eine andere Welt. Das macht das interdisziplinäre Projekt so spannend“, findet Hergenröther. Am Ende der Zusammenarbeit soll eine App zur Verfügung stehen, die mehrere Vorschläge für mögliche Erkrankungen machen kann und hilft, Behandlung, Therapie und Prävention in der Tiermedizin zu optimieren. Profitieren sollen von der Digitalisierung nicht nur die Arztpraxen, Vierbeiner, ihre Herrchen und Frauchen. Interessant sein kann die Forschung der h_da-Wissenschaftlerinnen auch für das mittlerweile große Feld der Tierversicherungen. „Die Ausbildung für Hunde, die Blinde führen, Diabetes oder Drogen erschnüffeln, verschüttete Menschen aufspüren oder bei Turnieren antreten, ist sehr langwierig und teuer“, weiß Ute Trapp. Die Software könne daher ebenso eine unterstützende Funktion für die Bewilligung von Leistungsansprüchen gegenüber Tierversicherungen übernehmen.

Die an der Hochschule entwickelte Anwendung soll ein lernendes System sein. Veterinär*innen sollen ihre Erfahrungen mit der App an einen Clouddienst geben können, wo sie wiederum von einem KI-System ausgewertet und ihr Feedback eingearbeitet werden. Die App soll laut Romana Piat kontinuierlich weiterentwickelt werden.

Die Förderung durch das Landesprogramm „Distr@l“ ermöglichte die Schaffung von drei halben Personalstellen an den Fachbereichen Informatik sowie Mathematik und Naturwissenschaften der h_da. In der Numerik, im Bereich Künstliche Intelligenz und App-Entwicklung forschen derzeit drei Fachleute an weiteren Aspekten, die ebenfalls bei der Entwicklung berücksichtig werden müssen, darunter Sicherheits- und Datenschutzfragen. „Die App“, sagt Anwendungs-Expertin Trapp, „soll mit nur wenigen Anpassung auf allen Systemen in den Praxen funktionieren.“

Eins stellen die drei Forscherinnen aber klar: Es wird keine App sein, die sich Tierbesitzer*innen im Internet zur Selbstdiagnose für ihre kranken Vierbeiner herunterladen können. „Es muss eine fundierte Untersuchung und professionelle Interpretation stattfinden“, betont Informatikerin Hergenröther. Letztlich liegen Auswertung und Entscheidungen in der Hand der ärztlichen Fachleute. Und auch die sollen bei der richtigen Bedienung und Nutzung der Software zunächst mit professionellen Schulungen und Seminaren begleitet werden. Ziel ist, so die Wissenschaftlerinnen, die App in zwei Jahren in die Hände der beteiligten Partnerunternehmen zu legen und dann zeitnah auf den Markt zu bringen.

Kontakt

Christina Janssen
Wissenschaftsredakteurin
Hochschulkommunikation
Tel.: +49.6151.533-60112
E-Mail: christina.janssen@h-da.de

Das Thema in den Medien

Frankfurter Rundschau, 2.6.23: KI In der Tierarztpraxis?