Die digitalen Raumfahrer

Hochmoderne Raumsonden sollen dank Künstlicher Intelligenz den besten Landeplatz auf dem Mond entdecken, aber bei dieser Aufgabe versagt derzeit oftmals die Technik. Vor allem die zerklüftete Oberfläche auf dem Mond macht ihr zu schaffen. Mit vielen Gigabytes an Bilddaten sollen die Computer jetzt trainiert werden. Und Gamer:innen spielen dabei die tragende Rolle: In einem mitreißenden Spiel markieren sie nebenbei Mondkrater – und füttern die KI so mit unerlässlichen Informationen.

Von Kilian Kirchgeßner, 26.11.2023

Als Stephan Jacob die Mail öffnete, die ihn zu einer Art Raumfahrer machen sollte, waren gerade zwei Mondmissionen krachend gescheitert. Ein paar Meter nur fehlten der russischen und der japanischen unbemannten Raumsonde bis zur Landung auf dem Mond. Künstliche Intelligenz sollte sie bis zum Aufsetzen navigieren, aber in den allerletzten Momenten versagte die Technik und die Abermillionen Euro teuren Sonden stürzten kurz vor dem Ziel ab. Die europäische Raumfahrtagentur ESA plant jetzt gemeinsam mit der NASA für die nächsten Jahre eine eigene Mondbasis, für die etliche automatisierte Landemodule die Materialien liefern sollen – ein weitaus größeres Projekt als die verlorenen Raumsonden. Das zu meistern, dabei sollen Stephan Jacob und seine Studierenden helfen.

„Das Problem auf dem Mond sind die Krater“, sagt Jacob, Professor für Kreative Technologien in Digital Arts an der h_da. „Die sind wirklich überall und ganz dicht beieinander. Die kleinsten sind nur wenige Zentimeter breit, hervorgerufen von Einschlägen kleiner Meteoriten.“ Die Module, die dort landen sollen, haben zumeist vier Füße, mit denen sie aufsetzen – und wenn nur einer von ihnen in einem Krater landet und damit keinen stabilen Halt hat, kippt das gesamte Modul auf die Seite und ist verloren. Die Künstliche Intelligenz, die automatisiert die Krater erkennen soll, gibt es zwar schon, aber sie ist eben nicht genau genug. Bei rund 80 Prozent liegt die Wahrscheinlichkeit, mit der sie die Krater erkennt – „und in ein Flugzeug, das zu 80 Prozent sicher wieder landet, würde ich mich nicht reinsetzen“, sagt Stephan Jacob.

Bei ihm im Kopf startete gleich ein ganzes Feuerwerk an Ideen, als die Leute von der ESA sich per Mail bei ihm meldeten. Er ist Spezialist für die sogenannte Gamification; also für die Kunst, komplexe Zusammenhänge in mitreißende Computerspiele zu verwandeln. Ob er nicht einen Einfall habe, wie man Menschen dazu bringen könnte, auf realen Bildern von der Mondoberfläche alle Krater zu markieren, damit die Künstliche Intelligenz mit diesen Angaben trainiert werden kann, fragten sie ihn in der Mail. „Der Mensch nämlich“, sagt Stephan Jacob, „ist unheimlich gut darin, die Krater zu erkennen. Wir können hell und dunkel unterscheiden, wir können Formen erkennen, und das jeweils sehr gut. Und damit der Computer das auch lernt, müssen wir ihm die Daten gewissermaßen vorsortieren.“ Um 80 Millionen Datensätze von der Mondoberfläche geht es. Darauf per Hand die Krater zu markieren, gleicht einer Strafarbeit.

Ein explodierender Planet als Inspiration

Außer, man bringt Gamer:innen dazu, die Arbeit ganz nebenbei in einem mitreißenden Spiel zu erledigen. Für die Aufgabe ist Stephan Jacob genau der Richtige. „Eigentlich wollte ich mich schon immer mit der Raumfahrt beschäftigen“, sagt er, dann grinst er: „Ich habe sogar überlegt, Astrophysik zu studieren, bevor ich dann die Informatik gewählt habe.“ So aber bringt ihn jetzt sein Informatikstudium zurück zu den Sternen – und er kann an eine weitere alte Passion anknüpfen, die ihn im Berufsleben nicht loslässt. Vor seiner Berufung zum Professor nämlich war er Startup-Gründer: Zusammen mit zwei Kommilitonen baute er eine Firma auf, mit der man am Computer Landschaften gestalten kann. Eine verrückte Geschichte steckt dahinter: Eigentlich wollten sie im Studium ein Spiel programmieren, in dem ein Planet explodiert. Der Betrachter sollte bei diesem Spektakel nahtlos aus dem Weltraum auf die Erde fliegen können, eine atemberaubende Grafik. Bloß: Technisch ging das nicht. Also machte er sich mit seinen Studienfreunden daran, in diesem Bereich neue Innovationen zu erstellen. Ihre Firma wurde gewissermaßen zum Bühnenbildner für andere Spiele-Programmierer: Sie können sich mit der Software – die bezeichnenderweise World Creator heißt – genau die passenden Oberflächen für ihre Anwendungen modellieren: liebliche Hügel, schroffe Felswände oder eben auch Krater.

Und weil er die Gaming-Szene bis in die Details kennt, kamen Stephan Jacob nach der ESA-Anfrage gleich die vielen Ergebnisse von wissenschaftlichen Studien in den Sinn. Zum Beispiel dieses: Die sogenannten „serious games“ sind verbrannt, die haben einen schlechten Ruf unter Gamern. Tatsächlich hatte die ESA zuvor einen Versuch gestartet, Freiwillige in einer App dazu zu bringen, die Mondkrater zu markieren. „Da gab es in der Spitze mal 9000 Spieler:innen, und die haben schnell wieder aufgehört, weil sie gemerkt haben, wieviel Arbeit das ist“, sagt Stephan Jacob. „75 Prozent haben weniger als zehn Krater markiert, denn die Spieler wollen in erster Linie Spaß.“ In der Gaming-Industrie geschieht das meistens über Action: 90 Prozent der Spiele, so schätzt Stephan Jacob, beinhalten kompetitive Elemente, um die Spannung zu steigern. Das allerdings schloss die ESA für die gewünschte Krater-Markierung von vornherein aus, einen Krieg der Sterne konnte Stephan Jacob also nicht programmieren. „Wir entschieden uns dann für Siedlungsbau“, konstatiert er: „Das spricht nicht alle Spieler an, aber einen sehr enthusiastischen Teil der Community.“

Die Studierenden als Spieleentwickler

In dem Moment holte der Professor seine Studierenden ins Boot: Eine Truppe von 15 Weltraum-Begeisterten fand sich, die im Rahmen eines Wahlpflicht-Seminars überlegte, wie man ein Computerspiel rund um die Krater aufbauen könnte. „Spielemechanik“ heißt das im Fachjargon, also: Was müssen die Spieler tun, in welchem Setting finden sie sich wieder, welche Aufgabe haben sie, welche Belohnungen winken? Alles das, was die Theorie über Computerspiele weiß, muss hier einfließen. Die alte Weisheit zum Beispiel, dass Spielende einen Fortschritt erleben müssen, um am Ball zu bleiben. Und die Erkenntnis, dass die meisten Spiele inzwischen am Handy gespielt werden. Von den sprudelnden Ideen blieben im Seminar schließlich drei übrig, die tragfähig erschienen. Sie alle werden jetzt zusammengeworfen zu einer großen Spielidee für Smartphones, die jetzt in monatelanger Kleinarbeit programmiert wird.

Und wie sieht das Konzept nun aus? Die Spieler:innen schlüpfen in die Rolle von Raumfahrer:innen, die über dem Mond schweben und ein Landemodul sicher aufsetzen sollen. Dafür müssen sie auf der Mondoberfläche, die aus echten Bildern zusammengesetzt ist, die tückischen Krater erkennen und markieren. Sobald sie gelandet sind, fängt das Siedeln an: Sie suchen einen passenden Platz für eine Mondbasis. Der ideale Ort ist in einem großen Krater, dort kann sich die künftige Siedlung weitgehend geschützt hineinducken. Die Gamer:innen markieren also wiederum Krater, um den geeigneten Ort zu identifizieren. Und dann kommt immer mehr Spannung in die Sache: Ionenstürme ziehen auf, Meteoritenhagel fallen auf den Mond und die Spieler müssen sich und ihre Siedlung in Sicherheit bringen. Zum Glück bekommen sie als Belohnung für viele markierte Krater Zusatz-Features für ihre Rakete: Schutzschilde zum Beispiel oder einen stärkeren Motor. Wenn sie für ihre wachsende Siedlung Nachschub brauchen, müssen sie Transporter zwischen all den Kratern landen, die neue Solarmodule oder sonstige Bauteile anliefern – und damit die sicher landen, werden wieder Krater markiert. Und je besser sich die Spieler schlagen, desto mehr Bereiche der Mondoberfläche werden für sie freigeschaltet, damit die Siedlung größer und größer werden kann.

Von wegen Daddeln: Wie Spiele Nutzen bringen

Mit ihrem Spiel, dessen Entwicklung die ESA fördert, gehören die Darmstädter zugleich zu den Pionieren: Dass die Künstliche Intelligenz mit Daten trainiert wird, die Gamer:innen in einem Spiel quasi nebenbei generieren, ist ein ganz neuer Ansatz. Für Stephan Jacob liegt genau darin auch ein Reiz des Projekts: „Wir können endlich zeigen“, sagt er, „dass Videospiele nicht nur zum Rumdaddeln da sind, wie viele immer denken. Die Spiele haben oft einen tieferen Sinn!“ Genugtuung schwingt mit, wenn er das sagt, denn die Vorbehalte gegenüber den Computerspielen erlebt der Professor immer wieder. Wenn er jetzt mithelfen kann, die abzubauen, erfüllt er damit gleich noch eine Mission, die ihm neben der Raumfahrt selbst am Herzen liegt.

Einen Prototyp ihrer ersten Spielansätze hat das Team übrigens gleich am Anfang des Projekts gebaut. Die Grafik war noch sehr holzschnittartig, die Steuerung eher grobmotorisch, aber es waren schon die Elemente drin, die Spannung versprechen. Den ersten öffentlichen Auftritt mit diesem Projekt hatten sie bei der ESA in Darmstadt. Eingeladen zur Präsentation waren alle ESA-Mitarbeiter:innen, und der Konferenzraum füllte sich immer weiter. An das Ergebnis erinnert sich Stephan Jacob mit strahlenden Augen: Die Geräte, auf denen die Prototypen liefen, waren dicht umlagert, alle wollten die Spiele einmal selbst ausprobieren. „Den ersten Praxistest“, sagt Stephan Jacob, „haben wir damit bestanden.“

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Christina Janssen
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