„Der Hype ist größer als die tatsächliche Veränderung“

Machen uns ChatGPT und Co. irgendwann überflüssig? Mitnichten, sagt Eva-Maria Walker vom Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Hochschule Darmstadt. Was die häufig angstgetriebene Debatte über Künstliche Intelligenz (KI) und die Ersetzbarkeit menschlicher Arbeit angeht, rät die Soziologie-Professorin dazu, zwischen Hype und Realität zu unterscheiden. So seien beispielsweise „Einfach-Jobs“ – wie etwa in der Logistik oder der industriellen Produktion – nach heutigem Wissensstand weniger stark gefährdet, als gemeinhin angenommen. Auch historisch gebe es keine Beispiele dafür, dass eine technologische Revolution zu Massenarbeitslosigkeit geführt habe. In den Mittelpunkt ihrer Forschung stellt die Wissenschaftlerin deshalb die Frage, wie der technologische Wandel aktiv gesellschaftlich gestaltet werden kann.

Interview: Christina Janssen, 8.9.2023

impact: „Genial oder gefährlich?“, haben wir in unserem letzten impact-Artikel zu ChatGPT gefragt. Was sagen Sie?

Prof. Dr. Eva-Maria Walker: Als Soziologin würde ich an einer anderen Stelle anfangen zu fragen, nämlich: Was ist die Vision – und wie entscheidet sie sich von dem, was tatsächlich passiert?

impact: Eine Vision, die viele umtreibt, ist das Schlagwort „Ersetzbarkeit menschlicher Arbeit“. Wird ein Interview wie dieses hier demnächst von ChatGPT geschrieben?

Walker: Also, die kreative Arbeit ist ja diejenige, der eine hohe Überlebenswahrscheinlichkeit prognostiziert wird. Aber das trifft natürlich nicht den Kern Ihrer Frage. Ich möchte hier erst einmal aus der Historie heraus antworten: Technische Quantensprünge, wie wir sie jetzt erleben, erscheinen uns erstmal wahnsinnig radikal. Es wird ja auch überall darüber berichtet. Wir wissen aber, dass sich der Zusammenhang zwischen technischem Quantensprung und der Ersetzbarkeit von Arbeit in dieser Kausalität nie realisiert hat.

impact: Sie widersprechen der Aussage: Was technisch möglich ist, wird auch gemacht. Allerdings: Die Atombombe ist in der Welt, Klonschaf Dolly war vor rund 25 Jahren nur der Anfang der genetischen Entzauberung des Individuums, Agrarkonzerne verkaufen genetisch optimiertes Saatgut, Handys und Videospiele haben ihren Siegeszug rund um den Globus weitgehend abgeschlossen und die Bücher aus den Kinderzimmern verdrängt. Gibt es auch Beispiele, die dagegen sprechen, dass jetzt ChatGPT und Co. ungebremst zum Einsatz kommen?

Walker: Es gibt Gegenbewegungen. Es gibt Menschen, die sich zum Beispiel ganz bewusst wieder für einen alten Nokia-Knochen entscheiden. Es gibt Debatten um „Digital Detox“. Als die erste Eisenbahnstrecke eröffnet wurde, meinten Kritiker, das sei viel zu schnell. Jede gesellschaftliche Entwicklung lässt erst mal die Möglichkeit einer Gegenentwicklung zu. Und hier würde ich auch die Aufgabe der soziologischen Forschung sehen, Bürger*innen, Beschäftigte, Studierende dazu in die Lage zu versetzen, Entwicklungen kritisch zu reflektieren: Was wollen wir, was brauchen wir, wie wollen wir unsere Gesellschaft gestalten?

impact: Trotzdem haben viele Menschen Angst.

Walker: Ja, trotzdem bleibt dieses starke Narrativ: Ich werde ersetzt und habe sowieso keinen Handlungsspielraum. Dabei gibt es nie nur eine Entwicklung. Aktuell erleben wir auch den zunehmenden Fachkräftemangel und den demografischen Wandel. Das sind Entwicklungen, die die Macht der Beschäftigten stärken. Deshalb ist es für mich überraschend, dass wir jetzt in dieser Angstschleife stecken.

impact: Und deshalb ist Ihnen eine Diskussion über Gestaltungsspielräume wichtiger als eine Angst-Debatte?

Walker: Mir geht es darum zu fragen: Wie kann man Beschäftigten erklären, dass sie eine ziemlich starke Verhandlungsposition haben? Wir haben uns in einem Forschungsprojekt ganz konkret die Ersetzbarkeit von sogenannten Einfach-Beschäftigten in einem großen Logistik-Konzern angeschaut. Also die Beschäftigtengruppe, von der alle sagen würden: Ihr seid quasi übermorgen weg. Und das Spannende an unseren Ergebnissen ist, dass wir zeigen konnten, dass diese Arbeit eben nicht ersetzt wird. Oder nur unter bestimmten Bedingungen. Es gibt keinen einfachen Mechanismus zwischen technischer Möglichkeit und faktischer Ersetzbarkeit. Und das scheint mir eine ganz wichtige Erkenntnis zu sein.

Seit Juni 2022 lehrt Eva-Maria Walker Sozialwissenschaften mit dem Schwerpunkt Transformation von Arbeit an der Hochschule Darmstadt. Außerdem ist sie als freie Dozentin der Friedrich-Ebert-Stiftung in der Weiterbildung für Arbeitnehmer*innen und Betriebsrät*innen tätig. Die Soziologin befasst sich in ihrer Forschung mit den Wechselwirkungen von Arbeit, Organisation und Gesellschaft. Konkret geht es dabei um Themen wie Technikakzeptanz, Sinn- und Gerechtigkeitsansprüche an Arbeit, neue Formen der Organisation von Arbeit wie etwa agiles Arbeiten und den Strukturwandel infolge der digitalen Transformation. Derzeit baut sie am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften den Master-Studiengang Angewandte Sozialwissenschaften auf, der sich aus interdisziplinärer Perspektive mit Transformationsprozessen in Arbeitswelt, Wirtschaft und Gesellschaft befasst.

impact: Einer der Angst-Treiber ist eine Studie aus dem Jahr 2013. Darin kamen die Oxford-Professoren Carl Benedikt Frey und Michael Osborne zu dem Ergebnis, knapp die Hälfte aller Arbeitsplätze sei durch Digitalisierung und Automatisierung in Gefahr. Da geben Sie Entwarnung?

Walker: Genau. Wir haben uns Einfach-Beschäftigte in der Handelslogistik angeschaut. Das sind Beschäftigte, die Ware auf Paletten packen. Das ist im Kern ihre Arbeit. Und sie müssen die Ware so auf die Paletten packen, dass die Ware in sich stabil bleibt, die Paletten nicht umstürzen und die Ware nicht bricht. Klingt recht simpel.

impact: Hier würde man tatsächlich vermuten: Das bekommt eine Maschine locker hin.

Walker: Und das war tatsächlich die Ausgangslage in dem Unternehmen. Einige Standorte waren schon teil-automatisiert; und das Ziel war, eine Teilautomatisierung auch an dem Standort einzuführen, den wir uns genauer angesehen haben. Der unterschied sich aber von den anderen, weil es dort eine große Varianz bei den Produkten gab, die kommissioniert werden. Und allein diese kleine Stellschraube hat dazu geführt, dass der Automatisierungsschritt nicht so einfach war, wie von der Geschäftsführung erhofft. Einfach-Arbeit ist oft komplexer, als in quantitativen Studien dargestellt. Hier kommt das Stichwort Erfahrungswissen ins Spiel.

impact: Aber das ist es doch eigentlich, was ein KI-System auszeichnet: dass es sich Erfahrungswissen aneignen kann. Ist es nicht doch nur eine Frage der Zeit, bis diese Beschäftigten ihre Jobs verlieren?

Walker: Das ist eine total spannende Frage. Es wird immer eine Differenz geben zwischen dem, was eine Technik, und dem, was menschliche Kreativität leisten kann. Die Frage ist: Wie gehen wir mit diesem Unterschied um? Ich habe kürzlich mit einem Kollegen gesprochen, da ging es um KI in der medizinischen Diagnostik. Es ist ja jetzt schon möglich, mit KI-Verfahren Karzinome zu erkennen. Aber es bleibt immer eine Rest-Ungewissheit. Und wem überlassen wir am Ende die Verantwortung? Das hängt auch davon ab, in welchem gesellschaftlichen Bereich wir uns bewegen. In der Logistik hängt kein Leben davon ab, wenn eine Palette mal falsch kommissioniert ist. Das ist in der Medizin oder in der Flugsicherung anders.

impact: Die „KI“ macht die Arbeit, die Verantwortung trägt aber am Ende ein Mensch. Ist das die Arbeitsteilung der Zukunft?

Walker: Alle Arbeitnehmervertreter wünschen sich genau das: Die anstrengende und ermüdende, repetitive Arbeit übernimmt die Maschine, und die angenehme oder spannendere wird vom Menschen erledigt. Das kann durchaus normatives Ziel eines Unternehmens sein. Es kann aber auch eine strategische Überlegung sein zu sagen: Der Mensch bringt sein Erfahrungswissen ein, das eigentlich viel günstiger ist, als wenn ich das KI-System immer auf den neuesten Stand programmieren muss. Der Mensch weiß beispielsweise, dass wir diese Woche, aber auch nur diese Woche, die Produkte für eine bestimmte Filiale in einer anderen Reihenfolge auf die Palette bringen müssen. Es wäre viel zu aufwendig, die Software für eine Woche und nur für eine Filiale neu zu programmieren. Dann ist es eine knallharte ökonomische Überlegung zu sagen: Das lasse ich weiterhin den Menschen entscheiden.

impact: Welche Bedingungen müssen denn in einem Betrieb erfüllt sein, damit Beschäftigte den technologischen Wandel angstfrei mitgestalten können?

Walker: Es passiert in soziologischen Studien häufig, dass man den ersten Befund schon beim Feldzugang hat. Wir haben unterschiedliche Logistikunternehmen befragt. Dort, wo wir Beschäftigten mit einer hohen Offenheit begegnet sind, gab es auch eine von Vertrauen geprägte Unternehmenskultur. Damit wurde direkt ein wichtiger Punkt für die Gestaltung von Technik sichtbar: Es ist wichtig, dass Unternehmen auf der Basis von Vertrauen und Transparenz eine neue Technologie einführen. Dort, wo es von vornherein eine hohe Verbindlichkeit gab, einen starken Betriebsrat oder eine starke Interessensvertretung, hatten wir es erstens leichter, mit den Beschäftigten ins Gespräch zu kommen. Und zweitens war diese Angstkultur dort nicht so verbreitet. Dort war die Annahme eher: „Selbst wenn unsere Arbeit wegfällt, werden wir für eine andere Position weiterqualifiziert. Oder wir übernehmen eine andere Anlerntätigkeit."

impact: Zumindest noch für eine Weile. Wie sieht es mit der Haltbarkeit solcher Erkenntnisse aus, wagen Sie eine Prognose?

Walker: Für Prognosen sind Soziologen ja eigentlich nicht zuständig. Ich würde eine Analyse vergangener Prognosen machen: Wir haben schon so oft das Ende der Arbeit prognostiziert. Es gab große Finanzkrisen, es gab x Krisen der Wirtschaftswelt. Und jetzt blicken alle auf Künstliche Intelligenz und Digitalisierung. Aber die pessimistischen Prognosen haben sich meist nicht bewahrheitet.

impact: Was bedeutet das alles für uns als Hochschule? Dafür, wie wir junge Menschen ausbilden?

Walker: Ich habe aus der Studie mitgenommen, dass Führungskräfte solche Prozesse besser gestalten konnten, wenn sie nicht nur einen technischen Hintergrund mitbrachten, sondern auch eine gesellschaftswissenschaftliche Perspektive. Und das ist auch für uns an der Hochschule zentral: Studierende der MINT-Fächer darin zu befähigen, auch aus der anderen Perspektive zu denken. Man muss ja nicht zwangsläufig danach handeln, aber sie mit zu bedenken, scheint mir erfolgversprechend.

impact: Vielen Dank für das Gespräch.

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Christina Janssen
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