„Das gäbe eine Kettenreaktion“

Ökonom Sebastian Herold plädiert für gezielte Zuschüsse statt Energiepreisdeckelung

Der Darmstädter Energiewirtschafts-Professor Sebastian Herold ist derzeit ein gefragter Experte. Ein Gespräch über ein häufig unterschätztes Fachgebiet, die Tücken des Merit-Order-Prinzips – und darüber, wie seine Absolventen mithelfen, die Energiewende voranzutreiben.

Ein Interview von Kilian Kirchgeßner, 7.10.2022

impact: Herr Herold, erinnern Sie sich an den Moment, in dem Sie gemerkt haben, dass da ein Tsunami auf Sie als Experten im Bereich der Energiewirtschaft zurollt?

Prof. Dr. Sebastian Herold: Tatsächlich habe ich so viele Anfragen für Interviews und Vorträge wie vorher noch nie. Die Dramatik der aktuellen Situation hat sich aber allmählich entwickelt, die von Russland errichtete Drohkulisse zeichnete sich im vergangenen Jahr ab und wurde dort auch bereits in Fachkreisen diskutiert. Ich selbst habe Ende 2021 einen Beitrag veröffentlicht, dass die niedrigen Füllstände der hiesigen Gazprom-Speicher ein bewusst herbeigeführtes Druckmittel gegen Europa im Allgemeinen und Deutschland im Besonderen sein dürften.

impact: In der Öffentlichkeit waren viele überrascht davon, wie abhängig Deutschland von Energieimporten aus Russland ist. Gibt es etwas in der Energiekrise, das auch Sie überrascht hat?

Herold: Da fällt mir etwas Positives ein: Es gibt die Chance, tatsächlich ohne Rationierung durch den Winter zu kommen – trotz aller Härten, die die explodierenden Preise für viele Menschen und auch für Unternehmen bedeuten. Aber das ist angesichts der Abhängigkeit, die im Kalten Krieg viel geringer war und in den vergangenen Jahren immer stärker wuchs, trotzdem eine erstaunliche Leistung. Denken Sie allein an die Lieferungen von verflüssigtem Erdgas, das an Häfen anlandet und über die Niederlande, Belgien und Frankreich seinen Weg nach Deutschland findet. Das hat die Flexibilität des globalen Marktes gezeigt, und die hat mich sehr positiv überrascht.

impact: Sie beobachten den Energiemarkt seit Jahrzehnten. Was fasziniert Sie daran so?

Herold: Es gibt in diesem Bereich schon lange die strategische Komponente – und die fasziniert mich. Inwieweit darf man jemandem trauen? Sich in Abhängigkeiten begeben? Die strategischen und politischen Implikationen machen das Thema zusätzlich zu den wirtschaftlichen Aspekten nochmal besonders interessant, finde ich. Schon meine Diplomarbeit habe ich zu russischen Erdgas-Beziehungen geschrieben.

impact: Sie haben Volkswirtschaft studiert…

Herold: …und an der Energie-Thematik lassen sich volkswirtschaftliche Fragestellungen hervorragend illustrieren. Energie ist die Basis der Wirtschaft, die auf sehr ausdifferenzierten Märkten koordiniert wird: Energieunternehmen agieren jeden Tag parallel auf Großhandels- und Konsumentenmärkten, es gibt Verflechtungen, Abhängigkeiten und Querverbindungen – das sieht man ja gerade sehr gut, wenn wegen des hohen Gaspreises die Stromkosten steigen.

impact: Das liegt an den Gaskraftwerken, die dadurch teuren Strom produzieren. Dahinter steht das Merit-Order-Prinzip, das seit kurzem in aller Munde ist. Wie oft mussten sie es in den vergangenen Wochen erklären?

Herold (lacht): Ich erkläre das gerade ständig, zuletzt sogar einmal im Kontext einer Satire-Sendung im Fernsehen. Dieses Prinzip ist in den Medien derzeit wirklich allgegenwärtig, denn es steht ja hinter den stark gestiegenen Strompreisen.

impact: Das Merit-Order-Prinzip besagt, dass der Strom immer so viel kostet, wie das teuerste Kraftwerk verlangt. Wenn 99 Prozent des Stroms aus günstigen Quellen kommen, aber das letzte Prozent von einem teuren Gaskraftwerk erzeugt wird, kostet alles so viel wie dieses letzte Prozent. Gibt es nicht eine vorteilhaftere Alternative dazu?

Herold: Merit Order ist letztlich nur ein spezieller Begriff für ein völlig normales Angebotsverhalten. Das gibt es auf allen anderen Märkten mit homogenen Gütern auch, aber da heißt es halt anders. Und natürlich könnte der Staat die Preise festsetzen oder deckeln, um damit das Merit-Order-Prinzip zu durchbrechen.

impact: Das hört sich nach einem Aber an.

Herold: Genau: Das wäre alles andere als sinnvoll. Erstens zieht ein Staatseingriff stets den nächsten nach sich, das gäbe eine Kettenreaktion. Und zweitens bedeuten die hohen Preise ja nicht nur, dass irgendwo Gewinne eingefahren und verteilt werden. In der volkswirtschaftlichen Betrachtungsweise zeigen sie an, wie groß Knappheiten tatsächlich sind. Das hat unmittelbar eine steuernde Wirkung auf den Verbrauch und es lenkt künftige Investitionen. Befristete Zuschüsse können bedürftigen Haushalten und Unternehmen viel zielgerichteter helfen als Preiseingriffe.

impact: Was machen die hohen Preise eigentlich mit der Energiebranche – herrscht dort Aufbruchsstimmung, weil Bewegung in den Markt kommt, oder eine ähnliche Panik wie bei vielen Verbrauchern?

Herold: Das kommt immer darauf an, wen Sie in der Branche fragen. Manche in der Branche stehen vor der Herausforderung, für das nächste Jahr Energie zu beschaffen – die sind angesichts der Preise natürlich im Stress, da ist Risikomanagement gefragt. Gleichzeitig lohnen sich durch die hohen Preise plötzlich Projekte, die vorher nicht wirtschaftlich waren, etwa im Bereich der Erneuerbaren Energien. Auf diesem Feld können jetzt Ideen angestoßen werden, die sich vorher schlicht nicht gelohnt hätten.

impact: Merken Sie eigentlich einen Ansturm auf den Studiengang Energiewirtschaft – jetzt, wo die Relevanz des Themas allgemein deutlich wird?

Herold: Das Thema war vorher schon sehr präsent – Energiewirtschaft und Klimaschutz sind schließlich zwei Seiten derselben Medaille, denn der Großteil der CO2-Emmissionen entsteht in der Energiewirtschaft. Daran etwas zu ändern, ist für viele junge Menschen ein verlockender Gedanke. Gleichzeitig steht dahinter eine Branche mit einer ungeheuren Dynamik, in der in den nächsten Jahren viele Veränderungen geschehen werden. Daraus ergeben sich für die Absolventen große Chancen.

impact: Wie viele Leute schreiben sich denn ein?

Herold: Wir haben üblicherweise 30 bis 40 Studierende pro Jahrgang im Bachelorstudiengang und rund 25 im Masterstudiengang. Wenn energiewirtschaftliche Themen besonders im Fokus der Öffentlichkeit stehen, steigert das nicht sofort im nächsten Semester das Interesse, das merken wir erst mit einiger zeitlicher Verzögerung an der Zahl unserer Studieninteressenten.

impact: Wie groß ist der Beitrag, den Experten für Energiewirtschaft für die Energiewende leisten können – werden da nicht eher Ingenieure und Ingenieurinnen benötigt?

Herold: Ohne funktionierende Technik geht es nicht, das ist klar. Aber die energiewirtschaftlichen Fragen und die energiepolitische Ausgestaltung entscheiden darüber, wie schnell und wie tiefgreifend die Energiewende umgesetzt werden kann – und zu welchen Kosten. Sie bestimmen ebenfalls, wie Marktteilnehmer künftig miteinander umgehen, welche Freiheitsgrade sie haben, wer einen wie großen Gewinn macht und ob dieser Gewinn durch gute Ideen und gutes Management im Wettbewerb oder durch Lobbyismus eher über Staatseingriffe entsteht. Auf dieses Umfeld bereiten wir unsere Studierenden vor.

impact: Wie genau sieht diese Vorbereitung aus?

Herold: Unser Studiengang an der Hochschule Darmstadt hat ein Alleinstellungsmerkmal: Wir vermitteln sowohl umfassende energietechnische als auch umfassende energiewirtschaftliche Kenntnisse. Die Studierenden belegen also neben energiewirtschaftlichen Fächern auch energietechnische Kurse, die Kolleginnen und Kollegen aus dem ingenieurwissenschaftlichen Bereich für sie halten, und darüber hinaus auch allgemeine betriebswirtschaftliche Veranstaltungen. Damit bekommen sie ein ausgezeichnetes Rüstzeug: In der Energiewirtschaft geht es ja immer darum, Technik und wirtschaftliche Aspekte zusammen zu denken. Unsere Absolventen verstehen auch die Sprache der Ingenieure, und das ist ungeheuer wichtig, weil sie damit gemeinsame Projekte angehen und auch koordinieren können.

impact: Ihre Absolventen könnten also ein Umspannwerk aufbauen?

Herold (lacht): Sie sind natürlich Energiewirte und keine Elektrotechnik-Ingenieure. Aber nach entsprechender Berufserfahrung können sie auf jeden Fall ein Projekt leiten, in dem ein Umspannwerk gebaut wird.

impact: Und im Smalltalk sind Experten für Energiewirtschaft derzeit ja auch nicht um Themen verlegen, oder?

Herold: Da haben Sie Recht: Die Frage nach dem richtigen Zeitpunkt für den Heizöleinkauf war immer schon ein Klassiker. In jüngster Zeit stand im Fokus, wie hoch die Gas- und Strompreise denn noch steigen können. Aber tiefe Kenntnisse aus der Branche hin oder her: Eine Kristallkugel haben auch wir nicht.

Kontakt

Christina Janssen
Wissenschaftsredakteurin
Hochschulkommunikation
Tel.: +49.6151.533-60112
E-Mail: christina.janssen@h-da.de

Zur Person

Prof. Dr. Sebastian Herold ist Professor für Energiewirtschaft an der Hochschule Darmstadt. Der Volkswirt hat in der Energiebranche langjährige Praxiserfahrungen in den Bereichen Märkte, Regulierung, Vertrieb und Portfoliomanagement gesammelt, bevor er als Professor an die Hochschule wechselte. Er ist Studiendekan im Fachbereich Wirtschaft und Studiengangsleiter für die energiewirtschaftlichen Studiengänge.

Website: fbw.h-da.de/herold