Kirchennutzung neu gedacht

Die Kirchen verlieren immer mehr Mitglieder. Gottesdienste sind schlecht besucht, Sparkurse werden Gemeinden dazu zwingen, Immobilien abzustoßen. Wie kann es gelingen, Kirchengebäude mit neuem Leben zu füllen und Kirchen somit zurück in die gesellschaftliche Mitte zu bringen? Gleich mehrere Studierendenprojekte am Fachbereich Architektur der h_da haben sich mit der künftigen Nutzung von Kirchengebäuden beschäftigt. Ohne Schere im Kopf haben die Studierenden Kirche neu gedacht. Ihre Visionen sollen den Gemeinden nun als Inspiration dienen.

Von Simon Colin, 29.11.2023

Die Katholische Kirche St. Michael in Frankfurt-Sossenheim. Der riesige Stahlbetonbau aus den späten 60ern erstreckt sich auf 1.600 Quadratmetern. Innen viel Stille, und meist ganz viel Leere. Gleiches gilt für die wenige hundert Meter entfernte evangelische Kirche der Regenbogengemeinde. Das neugotische Gebäude aus dem Jahr 1898 ist mit knapp 300 Quadratmetern deutlich kleiner, aber nicht viel besser besucht.

Mit Sorge blicken derzeit viele Gemeinden auf leere Gotteshäuser und Mitgliederschwund. Zusätzlich drohend wirken Sparzwänge, etwa durch das Programm „ekhn 2030“ der evangelischen Landeskirche. Ein Strukturreformprozess, zugleich aber auch ein drastischer Sparkurs, der Gemeinden dazu zwingt, sich von Immobilien zu trennen. Was tun? Hanna-Lena Neuser hat sich dazu entschieden, in die Offensive zu gehen. Die Direktorin der Evangelischen Akademie Frankfurt hat den dringenden Handlungsbedarf erkannt und möchte Gemeinden ermutigen, sich neu zu erfinden. „Was will Kirche künftig für die Menschen sein?“, fragt sie.

Radikale Ideen fürs Kircheninnere

Neuser vernetzte sich mit Christian Holl, Landessekretär beim Bund der Architekten Hessen, und Professor Lars Uwe Bleher vom Fachbereich Architektur der Hochschule Darmstadt. Der scharte zwölf Studierendenteams um sich, die bereit waren, sich ein Semester lang mit neuen Ideen für Kirchenräume zu beschäftigen. Gemeinsam entschied man sich für die Kirchen in Frankfurt-Sossenheim und gab dem überkonfessionellen Projekt auch einen Namen: „Metamorphose – Kirchenräume als Begegnungsorte der Zukunft?“

Mit ihren Masterstudierenden schwangen sich Professor Lars Uwe Bleher und Katharina Körber, Lehrkraft für besondere Aufgaben, zunächst einmal aufs Rad. Frankfurt erkunden und somit die Umgebung der Kirchengebäude. Eugen Hildmann und Svenja Zimmermann wurde in Sossenheim schnell klar: „Die Kirchen sind ziemlich nah beieinander, doch eine Verbindung zwischen den Standorten und somit auch im Stadtteil fehlt.“ In ihrem Entwurf begrünen sie die Straßenzüge zwischen den Kirchen mit Bäumen und Pflanzen, positionieren Sitzmöbel in den Stadtraum, schaffen Rad- und Fußwege neu und versehen sogar die Fassaden der Kirchtürme mit Pflanzengrün, um ein auffälliges visuelles Signal zu setzen.

„Wir haben recht radikal gedacht“, erläutert Eugen Hildmann. Was sich auch daran zeigt, dass er und Svenja Zimmermann sich gedanklich und letztlich auch baulich von den Gemeindehäusern trennen. Das, was darin bislang stattfindet, sehen sie künftig in den Kirchengebäuden oder drumherum vor. Zusätzlich wollen sie auch das direkte Umfeld der Kirchen öffentlich beleben mit Sportmöglichkeiten, Gastronomie oder Open Air-Gottesdiensten. Rund um die Katholische Kirche soll eine neue Ortsmitte entstehen inklusive Marktplatz und einer Fläche für Veranstaltungen. Gesellschaft und Kirche sollen wieder enger miteinander verbunden sein.

Kirche als Zentrum fürs gesellschaftliche Miteinander

Mutig gehen sie speziell mit dem Innenleben der Katholischen Kirche vor. Das riesige Gebäude soll der Gemeinde auch künftig noch als Raum für Gottesdienste und Gemeindeleben dienen, vor allen Dingen aber auch von der Stadtgesellschaft genutzt werden. Die Studierenden sehen Boxen vor, die sie in den Kirchenraum stellen und die künftig flexibel für unterschiedlichste Zwecke gemietet werden können, etwa für Nachhilfestunden oder Bandproben. Und somit für Aktivitäten, die bislang bereits stattfanden, allerdings im Gemeindehaus. Auch Konzerte, Flohmärkte oder Wochenmärkte sind im Gebäude denkbar. „Wir möchten mehr Berührungspunkte zwischen beiden Welten schaffen“, erläutert Svenja Zimmermann.

Die Kirche künftig ein neues Zentrum für gesellschaftliches Miteinander – eine ganz schöne Umstellung für Traditionalisten. Denn tatsächlich sehen die Studierenden nur noch einen kleinen fixen Bereich im Kirchengebäude für die klassische sakrale Nutzung vor. Flexibel kann für größere Gottesdienste der große Saal genutzt werden, der aber eben auch für andere Zwecke Verwendung findet. Hanna-Lena Neuser versteht, dass es gegenüber mutigen, komplett neu gedachten Ansätzen auch erst einmal Skepsis gibt. „Doch schnell wird es als Geschenk betrachtet, dass sich Menschen Gedanken gemacht haben. Kirche soll ja auch ein Ort für Gesellschaft und nicht nur für Getaufte sein. Kirchen waren zudem schon immer Orte des Zusammenfindens. So gehen wir nun ´back to the roots´ unter neuen Voraussetzungen“, sagt Neuser. „Die Arbeit der Studierenden hat jedenfalls beiden Sossenheimer Gemeinden gutgetan, denn der Leidensdruck ist groß.“

Etwas weniger radikal sind die Ideen für die kleinere, evangelische Sossenheimer Kirche. Hier haben sich die Studierenden für das Innere ein Vorhangsystem ausgedacht, das je nach Bedarf flexibel den Raum trennt. Gerade diese flexible Nutzung der Innenräume durchzieht viele Entwürfe der Studierenden. So auch im Projekt, dass die Professoren Henning Baurmann und Robert Zeimer mit studentischen Teams für die Maria Frieden-Kirche im baden-württembergischen Calw-Wimberg umgesetzt haben. Verschiebbare Wände, ein mobiler Altar und auch ein Künstleratelier im Glockenturm zählen zu den Ideen der Studierenden für den katholischen Bau aus den 60ern.

„Was machen mit Gebäuden, die nicht mehr adäquat genutzt werden?“

Doch sind die Ideen der Studierenden nicht nur gedankliche Spielereien. Die Professoren mahnen an, sich als Gesellschaft über die Zukunft von Kirchengebäuden ernsthaft zu unterhalten. „Was mache ich mit Gebäuden, die nicht mehr adäquat genutzt werden?“, fragt Professor Henning Baurmann. „Dazu ist eine gesellschaftliche Verständigung nötig, sonst kommen Investoren.“ Zugleich sieht er die neu gedachte Nutzung von Kirchenräumen auch als Maßnahme gegen eine gesellschaftliche Spaltung. Dem stimmt Professor Lars Uwe Bleher zu. „Kirchenräume machen es als so genannte Dritte Orte möglich, sich nicht-kommerziell und ohne Konsumdenken gesellschaftlich zu treffen. Dazu müssen wir als Gemeinschaft aber zusammenrücken und Lösungen finden für Immobilien, die ansonsten abgestoßen werden.“

Nicht in Frage steht die Darmstädter Stadtkirche. Doch Pfarrer Karten Gollnow ist es schon seit längerem wichtig, das Gebäude noch stärker zu öffnen. Kulturveranstaltungen finden hier regelmäßig statt und er kann sich auch vorstellen, die Stadtkirche aus- und umzubauen zu einem „spirituellen und kulturellen Begegnungszentrum in der Innenstadt. Kirchen waren eigentlich schon immer die Innenstadtbegegnungszentren schlechthin, waren Orte für soziale Begegnung, Kultur und Kunst, Religion, für Geschäfte und für Festlichkeiten.“ Er nahm Kontakt auf zu Professorin Anke Mensing und ihrer wissenschaftlichen Mitarbeiterin Céline Grieb, die sich mit ihren Studierenden daranmachten, Ideen für eine künftige Nutzung der evangelischen Kirche zu entwickeln.

17 Arbeiten entstanden, die in der Kirche vor Publikum präsentiert wurden. Zuvor hatten sich die Studierenden intensiv mit dem Gebäude beschäftigt, eine ganze Woche vor Ort gearbeitet, den Alltag mitbekommen und teils auch in der Kirche übernachtet. Studentin Elisa Wagner beschäftigte sich speziell mit dem Hauptschiff und dem Chor. Um mehr Licht in die Kirche zu lassen, setzt sie in ihrem Entwurf die Empore zurück, macht sie mit Treppen besser zugänglich und versieht sie mit Vorhängen für eine flexible Nutzung. Keine Berührungsängste zeigt sie auch bei der künftigen Nutzung des Chorraums. Per Vorhang lässt er sich abtrennen und etwa als Ausstellungsraum nutzen.

Andere Gemeinden ermutigen, auf Dritte zuzugehen

Liska Bittel, Julia Lelito, Leonie Müller und Roberto Gabriel lassen in ihrem Entwurf die Kirche von innen leuchten. Dazu setzen sie zwei große, beleuchtete Kuben in die Seitenschiffe, die die Blicke auf sich ziehen. Auch der Eingangsbereich der Kirche ist erleuchtet, um den Menschen zu signalisieren, dass das Gebäude geöffnet ist. Pfarrer Karsten Gollnow begrüßt solche Entwürfe, die die Kirche nach außen hin öffnen. Auch hat er kein Problem mit Umbauten im Innern: „Kirchen wurden früher andauernd umgebaut“, sagt er. Doch wie geht es mit den Visionen der Studierenden nun weiter? „Die Arbeiten der Studierenden haben teilweise gezeigt, was von den Wünschen der Stadtkirche realisierbar ist und was nicht und sind sicherlich eine gute Grundlage für die Vorbereitungen des von der Kirche geplanten Architekturwettbewerbs“, sagt Professorin Anke Mensing.

Impulse und Anreize, das können die Studierenden geben, bilanziert Professor Lars Uwe Bleher. Lösungen für die Umsetzung müssten die Gemeinden aber zusammen mit der Gesellschaft finden. „Wichtig ist es jetzt, andere Gemeinden zu ermuntern, auf Dritte zuzugehen“, sagt Hanna-Lena Neuser. „Viele Gemeinden leiden gerade, anstatt Menschen einzubeziehen, die mit Kirche vielleicht erst einmal nichts zu tun haben und daher befreit denken können.“ In Frankfurt-Sossenheim wirken die Impulse der Studierenden weiter. Für Anfang 2024 ist eine Ausstellung der Entwürfe geplant, die Menschen zum Nachdenken und Diskutieren über die Zukunft der kirchlichen Immobilien anregen soll. Hanna-Lena Neuser würde es begrüßen, wenn die h_da-Studierenden weiter ins Projekt eingebunden sein könnten. „Denn die Detailtiefe und Professionalität der Entwürfe ist beeindruckend.“

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Simon Colin
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