Das Lastenrad des Projekts "LieferradDA" fährt durch die Stadt.
Liefern lassen ohne schlechtes Gewissen

Das Forschungsprojekt "LieferradDA" versucht sich in der Quadratur des Kreises: Es macht Bestellen von der heimischen Couch aus möglich, aber beim lokalen Einzelhandel – und die Lieferung erfolgt umweltfreundlich per Lastenrad. Derzeit ist der Lieferservice noch kostenlos. In Zukunft soll er sich selbst tragen.

Von Nico Damm, 9. September 2020

Bewusste Verbraucherinnen und Verbraucher haben es nicht ganz einfach: Arbeit, Alltag, Kinder, und der Hund muss heute auch noch raus. Wer hat da noch Zeit, in die Stadt zu gehen? Viele bestellen dann doch im Netz - und haben hinterher ein schlechtes Gewissen. Denn der Transport belastet die Umwelt, Lieferwägen verstopfen die Straßen und so manches Online-Versandhaus glänzt nicht gerade bei der fairen Behandlung seiner Beschäftigten oder in Sachen Steuermoral. Außerdem gibt es ja Vieles beim sympathischen Laden nebenan. An diesem Punkt setzt "LieferradDA" an. Seit dem Frühsommer flitzen E-Lastenräder durch Darmstadt und bringen Waren aller Art bis vor die Haustür: Blumen, Wein, Bücher, Spielzeug, Klamotten und mehr. Die teilnehmenden Betriebe lebten zuvor fast ausschließlich vom Umsatz über die Ladentheke.

Bestellt wird per Telefon, Mail oder direkt im Laden, gezahlt wird aktuell per Rechnung oder im Onlineshop der Geschäfte. Geht die Bestellung bis 12 Uhr mittags ein, kommt die Ware am selben Tag. Das Ganze ist zurzeit kostenlos, denn der Service ist eingebettet in ein Forschungsprojekt. Ein Team der h_da sowie der Frankfurt University of Applied Sciences (FRA-UAS) will im Rahmen der Studie ausloten, unter welchen Rahmenbedingungen sich ein solcher Lieferservice selbst tragen könnte. Bis Ende 2020 stellt das Hessische Ministerium für Wirtschaft, Energie, Verkehr und Wohnen hierfür Mittel zur Verfügung. Aus denen werden nicht nur die wissenschaftlichen Hilfskräfte, sondern auch die Gehälter der Kuriere bezahlt. Unterstützt wird das Projekt auch von den Kooperationspartnern der Darmstadt Marketing GmbH, der Digitalstadt Darmstadt und dem Darmstadt Citymarketing.

Motivation des Teams der Wirtschafts- und Logistikexperten Prof. Dr. Johanna Bucerius (h_da), Prof. Dr. Axel Wolfermann (h_da) und Prof. Dr. Kai-Oliver Schocke (FRA-UAS): Die Unterstützung des lokalen Einzelhandels, Schonung der Umwelt, Entlastung des Verkehrssystems und faire Bezahlung der Arbeitskräfte. Keimzelle des Projekts ist das Projekt Systeminnovation für Nachhaltige Entwicklung (s:ne) an der h_da. "In diesem Rahmen bringen wir Akteure in der Region zusammen", sagt Wolfermann. "Zum Beispiel haben wir mit dem Darmstadt Citymarketing e.V. gesprochen, das ein digitales Schaufenster entwickelt hat." Die Idee: Die Website, auf der sich Darmstädter Läden vorstellen, mit einem Lieferservice zu verknüpfen. Das scheiterte letztlich an der Finanzierung, aber wenig später fand sich mit dem Wirtschaftsministerium ein Förderer - und mit dem Spargelhof Merlau in Arheilgen ein erster Partner, dem in der Corona-Krise die Umsätze einbrachen. Dass der Frankfurter Professor Schocke in der Nähe wohnt und die Spargelbauern gut kennt, half bei der Anbahnung der Kooperation. Mitte 2020 rollten dann die ersten Lastenräder mit dem frischen Gemüse durch Darmstadt.

Auch große Einzelhändler wie Henschel mit dabei

Heute gibt es über ein Dutzend teilnehmende Geschäfte, darunter auch große Einzelhändler wie das Modekaufhaus Henschel. Mittlerweile bietet LieferradDA seinen Service im gesamten Stadtgebiet an und verfügt über drei Räder, darunter eines für Lasten bis zu 200 Kilo. Auch hinter den Kulissen tut sich einiges: Ein siebenköpfiges Team, mehrheitlich Studierende, begleitet von den drei Lehrenden, kümmert sich um die Tourenplanung, das Marketing und die Gewinnung neuer Kunden, die Auslieferung selbst und vieles mehr. Auch mehrere Abschlussarbeiten in den h_da-Studiengängen Logistikmanagement sowie Risk Assessment and Sustainability Management entstehen zurzeit. Der wissenschaftliche Mitarbeiter Simon Steinpilz, der bereits als Studierender am Research Lab for Urban Transport der FRA-UAS mitwirkte, koordiniert gemeinsam mit Ann-Kathrin Bersch das Gesamtgebilde. "Die Arbeit ist ein bisschen wie bei einem Startup. Da gibt es noch nicht die seit Jahren etablierten Prozesse", sagt der Logistiker. Innerhalb kurzer Zeit sei aber viel entstanden. Gab es zu Anfang Tage gänzlich ohne Bestellungen, hat das Team kürzlich die Marke von acht Bestellungen am Tag geknackt. Um sich selbst zu tragen, wäre allerdings ungefähr die zehnfache Menge nötig. Das zeigt, wie ambitioniert das Projekt im Angesicht von Online-Giganten wie Amazon ist, die oft mit einer kostenlosen Lieferung locken.

In den Dumpingpreis-Wettbewerb will das LieferradDA-Team freilich nicht einsteigen - schließlich sollen die eigenen Beschäftigten fair bezahlt werden. Ziel der begleitenden Forschung ist es, zu erfahren, wie viel potenzielle Kundinnen und Kunden sowie Geschäfte bereit wären, zu bezahlen und wie viel der laufende Betrieb kostet. Ersteres soll eine Online-Befragung und Gespräche mit den Beteiligten ausloten, Letzteres wird im Betrieb erprobt. Bei gut optimierten Touren und voller Auslastung lägen die Kosten pro Lieferung bei rund vier Euro, schätzt Axel Wolfermann. "Wenn ich ein Buch für zehn Euro kaufe, steht das natürlich in keiner Relation. Deshalb wäre es eine Möglichkeit, dass ein Partner wie die Stadt den Betrieb unterstützt." Das müsse nicht zwingend finanzielle Hilfe sein - denkbar sei auch personelle Unterstützung oder die Bereitstellung von Parkflächen für die Räder.

Die Kommunen könnten damit auch etwas für Menschen mit eingeschränkter Mobilität tun. Für LieferradDA sind diese eine interessante Zielgruppe, die bisher noch nicht erreicht wird. Das Team steht deshalb in Kontakt mit dem Darmstädter Seniorenbeirat, der für den Service wirbt - auch mit dem Argument, dass im Gegensatz zum Online-Shopping keinerlei Technik-Kenntnisse nötig sind.

Lieferdienste als Daseinsvorsorge

Doch ist das nicht alles Zukunftsmusik? Angesichts des immer weiter zunehmenden Autoverkehrs und der Debatte um Stickoxide erkennt Wolfermann in vielen Städten ein Umdenken: Die Unterstützung nachhaltiger Lieferdienste werde öfter als Daseinsvorsorge gesehen. Vergleichbare Projekte wie das Kiezkaufhaus in Wiesbaden oder der hemdsärmlich mitten in der Corona-Krise aufgebaute Lieferdienst in Mainz zeigten das Potenzial. Die großen Lieferdienste stünden ohnehin schon in den Startlöchern, sagt Wolfermann: "Die ganze Branche bereitet sich darauf vor, Lieferräder breiter einzusetzen." Einige Städte, vor allem die mit dicht bebauter historischer Altstadt, hätten den Wandel schon erzwungen, um den punktuellen Verkehrskollaps zu stoppen: "Die haben die Innenstädte für den normalen Lieferverkehr gesperrt und die Paketdienstleister zur Kooperation mit einem umweltfreundlichen Lieferdienst verpflichtetet, wie etwa im italienischen Vicenza." Die Dienste liefern in einem solchen Fall bis zu einem Depot am Stadtrand, von dem aus Lastenräder oder kleine Elektrofahrzeuge zum Transport auf der letzten Meile ausschwärmen. Ein solches Mikro-Depot begleitet Prof. Dr. Johanna Bucerius vom Fachbereich Wirtschaft der h_da in einem Pilotversuch in Kooperation mit dem Dienstleister DPD in Bessungen und der Heimstättensiedlung. Die Stadt Darmstadt plant, die Fläche für den Container zur Verfügung zu stellen, in denen die Pakete und nachts auch die Lastenräder geparkt werden.

Jetzt will sich das LieferradDA-Team erst einmal auf Wachstum konzentrieren und spricht potenzielle neue Kunden wie Zeitungsverlage, Bau- und Supermärkte an. Die Suche nach einem Träger des Projekts läuft auf Hochtouren, schließlich werden die Hochschulen im kommenden Jahr nach Ende der Förderung die Organisation nicht mehr übernehmen können. Interessierte, die sich engagieren möchten – etwa als Kuriere Betreiberin oder Betreiber - können sich deshalb gerne melden.

Packstationen könnten das Projekt komplettieren

Auch die Zeit nach der Pandemie denkt das Team mit: "Momentan sind viele im Home-Office und können Pakete entgegennehmen", sagt Wolfermann. Aber wie kommen sie an die Ware, wenn sie nicht da sind? "Hier könnten Paketstationen helfen, an denen die Ware jederzeit abgeholt werden kann - ähnlich denen des Marktführers DHL, aber welche, die möglichst offen für alle Paketdienste sind. Diese könnten etwa in Mehrfamilienhäusern eingebaut werden oder an Freiflächen in der Stadt. Bei allem Zukunftspotenzial erfinde man das Rad mit dem Projekt LieferradDA übrigens nicht neu, findet Wolfermann: "Als Maggi richtig groß wurde, hat die Firma am Anfang auch ihre Produkte mit dem Lastenrad ausgefahren."

Kontakt

Nico Damm
Wissenschaftsredakteur
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