Mit KI gegen Brustkrebs

Mehr als 70.000 Fälle von Brustkrebs werden in Deutschland jährlich diagnostiziert, weltweit waren es im Jahr 2020 rund 22,3 Millionen. Noch immer ist Brustkrebs die Krebserkrankung, die bei Frauen die meisten Todesfälle verursacht. Johannes Gregori, Professor für Physik und Industrielle Bildverarbeitung an der Hochschule Darmstadt, und sein Doktorand Yaqeen Ali forschen in einem europäischen Konsortium an neuen Diagnosemethoden: Das Großprojekt „BosomShield“ zielt darauf ab, Diagnose-Verfahren wie Ultraschall, Mammografie oder Biopsie miteinander zu kombinieren und in einem KI-gestützten System zu analysieren. Dies soll präzisere Diagnosen ermöglichen – und wirksamere Therapien.

Von Christina Janssen, 22.9.2023

Es ist ein komplexes Puzzle, das Johannes Gregori und sein Doktorand Yaqeen Ali zusammensetzen möchten: Gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen in ganz Europa arbeiten sie daran, die Brustkrebsdiagnostik auf eine neue Basis zu stellen. Ultraschall, Mammografie, MRT-Bilder, Biopsie, Genanalysen – bislang werden die Ergebnisse aus all diesen Einzeluntersuchung getrennt betrachtet und bewertet. Eine Schwachstelle, meint Physiker Gregori, der seit zwei Jahren an der h_da lehrt und forscht. „Es gibt eine Lücke zwischen dem, was wir diagnostizieren, und dem, was wir in der Therapie erreichen könnten. Mit dem Projekt BosomShield wollen wir diese Lücke schließen.“ Verschiedene Diagnose-Techniken sollen kombiniert werden, um so zu präziseren Diagnosen zu kommen. Konkret erhoffen sich die Wissenschaftler dadurch exaktere Erkenntnisse über Tumortyp, Rezidiv-Wahrscheinlichkeit und mögliche Therapien. Das Projekt könnte also einen Beitrag dazu leisten, die Überlebenschancen von Brustkrebspatientinnen zu erhöhen.

Von der EU gefördertes Doktorandennetzwerk

Insgesamt acht Universitäten und zwei Industriepartner in Deutschland, Frankreich, Italien, den Niederlanden, Schweden, Slowenien, Spanien und Polen sind am Projekt BosomShield beteiligt. Koordiniert wird das Vorhaben von der Universität Rovira i Virgili in Tarragona, gefördert wird es von der Europäischen Union im Rahmen des Marie Skłodowska-Curie Doktorandennetzwerks, das an jedem der zehn Standorte einen Doktoranden bzw. eine Doktorandin finanziert. Da die Nachwuchsforscher nicht aus dem Land stammen dürfen, in dem sie eingestellt wurden, musste jede Stelle international ausgeschrieben werden. Gregoris Doktorand Yaqeen Ali kommt aus Pakistan, hat den Master in Informatik an der COMSATS University in Lahore gemacht und wurde über eine internationale PhD-Website auf die Ausschreibung aufmerksam. „Beim Kick-off habe ich alle anderen Doktorandinnen und Doktoranden aus dem Projekt kennengerlernt“, berichtet er. „Die meisten von uns sind Informatiker, einige sind Mathematiker, alle haben einen starken Bezug zum Thema Machine Learning und Deep Learning. Wir können uns fachlich also gut austauschen und gegenseitig unterstützen.“  

Im Projekt bearbeitet jeder Partner einen speziellen Aspekt. „Ein Kollege beschäftigt sich zum Beispiel mit dem Thema relapse prediction, also mit der Rückfallwahrscheinlichkeit bei einem Tumor“, erläutert Ali. „Andere konzentrieren sich auf die Auswertung von Mammografiebildern, wieder andere auf histologische Bilder und so weiter.“ Von deutscher Seite ist das auf medizinische Bildgebung spezialisierte Heidelberger Unternehmen mediri an Bord, das Gregori vor seinem Wechsel an die h_da zehn Jahre lang als Geschäftsführer leitete. Yaqeen Ali ist in Heidelberg angestellt und wird als Doktorand fachlich an der h_da betreut.  Während die Partnerinstitutionen einzelne Puzzleteile zuliefern, setzen Gregori, Ali und weitere Teammitglieder in Darmstadt und Heidelberg alles zusammen: „Wir arbeiten an einem computergestützten Diagnose-System (CAD), in dem sämtliche Datensätze zu einer Patientin hochgeladen und für die Auswertung miteinander kombiniert werden können“, berichtet Professor Gregori. Dabei sollen strengste Datenschutzregeln gewahrt bleiben. „Ansätze hierzu gibt es schon, aber in unserem Projekt werden erstmals wirklich alle Daten und Auswertungstechniken in einer cloud-basierten Plattform zusammengeführt.“

Datenschutz steht ganz oben

Damit das KI-System später zuverlässig funktioniert, muss es trainiert werden – mit zehntausenden von Tumor-Bildern, die vorab von Hand klassifiziert wurden. Dem System wird die Information, ob ein Bild einen gutartigen oder bösartigen Tumor zeigt, in der Lernphase also mitgeliefert. So lernt die KI, Muster zu erkennen. Für dieses Training nutzt das h_da-Team Bildmaterial aus öffentlich zugänglichen Datenbanken. Aktuelle Patientendaten können in dieser frühen Entwicklungsphase aus Datenschutzgründen nicht verwendet werden. „Wir simulieren in unserem Modell deshalb die verschiedenen Krankenhäuser und weisen ihnen die Daten zu“, beschreibt Gregori die Vorgehensweise.

Der Schutz extrem sensibler Patientendaten soll auch später im realen Betrieb gewahrt bleiben. Um dieses Dilemma aufzulösen, kommt im Projekt BosomShield ein neuer Ansatz ins Spiel: das federated learning, deutsch: Föderales Lernen. Die Daten, die an den einzelnen Standorten gesammelt werden, werden nicht untereinander ausgetauscht. Trainiert wird mit lokalen Datensätzen jeweils vor Ort. „Erst danach werden die Ergebnisse zusammengeführt.“ Das Prinzip: Wenn der Berg nicht zum Propheten kommt, muss der Prophet wohl zum Berg kommen. „Zu dieser Technik gibt es noch sehr wenige Publikationen im Bereich Brustkrebs. Das ist der Kern der wissenschaftlichen Arbeit, die wir in dieser Doktorarbeit angehen.“

Tumore mit künstlicher Intelligenz exakt klassifizieren

Eine der größten Herausforderungen im Projekt besteht darin, dass jede Klinik ein wenig anders arbeitet – mit anderen MRT- oder Ultraschallgeräten, die unterschiedlich eingestellt sind. Auch die Art und Weise, wie die Daten erfasst werden, kann variieren. Herauszufinden, wie die Verarbeitung solch heterogener Daten die Ergebnisse beeinflusst, ist deshalb einer der Knackpunkte: „Was genau geschieht, wenn wir Bilder aus verschiedenen Quellen miteinander kombinieren, welche Fehler können dadurch entstehen?“ Am Ende, erläutert Yaqeen Ali, muss das System Unterschiede erkennen und ausgleichen, damit alle „Puzzleteile“ passen und Patientinnen die für sie individuell optimale Therapie bekommen.

Manche Ärzte sehen diese Entwicklung skeptisch. „Deep-Learning-Systeme sind eine Black Box“, erklärt Professor Gregori. „Oft bleibt unklar, wie genau ein Deep-Learning-System seine Entscheidungen trifft. Das muss bei der Entwicklung und beim Einsatz mitberücksichtigt werden.“ Ärztinnen und Ärzten macht es das nicht gerade leicht, solchen Systemen zu vertrauen. Zudem steht auch hier die Frage im Raum: Macht Künstliche Intelligenz Radiologinnen und Radiologen irgendwann überflüssig? „Bestimmt nicht“, meint Gregori. „Aber das Berufsbild kann sich stark verändern. Radiologen werden KI-gestützte Helfer an die Hand bekommen und können ihre Arbeit dann noch effizienter machen.“

„Vielen Menschen helfen“

An der Hochschule Darmstadt hat Gregori, der seit seiner Diplomarbeit an der Schnittstelle zwischen Physik, Informatik und Medizin arbeitet, das Thema medizinische Bildverarbeitung auch in der Lehre verankert. Im Studiengang Optotechnik und Bildverarbeitung hat er für die Studierenden ein entsprechendes Wahlpflichtfach eingeführt und trägt damit zur Ausbildung von Expertinnen und Experten bei, die in der Industrie händeringend gesucht werden. „Es gib viele Bereiche, in denen unsere Studierenden gefragt sind,“ erläutert Gregori, „Medizintechnikunternehmen wie Sirona, wo man inzwischen stark auf KI-Anwendungen setzt, oder das Optik-Unternehmen Leica, das auch mit Produkten für die Histologie, also für Gewebeuntersuchungen, die Brustkrebsdiagnostik unterstützt, brauchen dringend Spezialisten. Und natürlich sind unsere Absolventinnen und Absolventen in allen großen Software-Unternehmen gefragt.“

Das weiß auch Doktorand Yaqeen Ali, der seine berufliche Zukunft fest im Blick hat: Seine Promotion möchte er in drei Jahren abschließen und dann noch einige Zeit in Deutschland arbeiten, um sein Wissen zu vertiefen. Und vielleicht auch, um Deutschland und Europa noch etwas besser kennenzulernen, als es sein taffes Arbeitspensum derzeit erlaubt. Immerhin: Zum Programm des Doktorandennetzwerks zählen vier ein- bis zweimonatige Forschungsaufenthalte bei verschiedenen europäischen Partnern und jährliche Doktorandentrainings, zuletzt diesen Sommer im italienischen Triest. Zeit für Hobbys und Freunde bleibe bei all dem allerdings nur wenig, gibt Ali zu. Ein Problem sei das aber nicht: „Wir machen etwas, womit wir so vielen Menschen helfen können. Das motiviert mich sehr.“  Hauptsache, alle Puzzleteile passen.

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Christina Janssen
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