Der Waldmeister

Rasende Radler, wütende Wanderer: Die stadtnahen Wälder sind zu Konfliktzonen geworden. Umweltpsychologe Eike von Lindern von der Hochschule Darmstadt (h_da) geht den Konflikten auf den Grund. Der naturbegeisterte Wissenschaftler macht konstruktive Lösungsvorschläge – und klare Ansagen.

Von Christina Janssen, 5.7.2021

Ein Bild sagt mehr als tausend Worte. Der virtuelle Hintergrund, den Umweltpsychologe Eike von Lindern fürs Interview gewählt hat, zeigt ein Kuppelzelt hoch oben in den Bergen des Yosemite Nationalparks. Wildnis. Weite. Einsamkeit. Abenteuer. Alles steckt drin in diesem Bild. Vor zwei Jahren hat von Lindern, der als Vertretungsprofessor an der h_da Umweltpsychologie lehrt, auf dem John Muir Trail im Südwesten der USA rund 400 Kilometer zu Fuß zurückgelegt. Vier Wochen in Wald und Wildnis – ein Selbstversuch: „Keine Fremdbestimmung, keine Bücher, kein Strom, kein Handy, aufstehen bei Tagesanbruch, schlafen gehen bei Sonnenuntergang – der eigene Takt ist im Einklang mit der Natur. Das hat etwas sehr Befreiendes“, schwärmt der Wissenschaftler.

Sehnsucht nach Freiheit

Es ist diese Sehnsucht nach Freiheit und Entspannung, die in Zeiten von Corona mehr Menschen denn je ins Grüne treibt. Doch wo Familien mit wuselnden Kindern, Seniorinnen und Senioren auf E-Bikes, junge Mountainbiker und Jogger, Hundefans und Meditierende sonnige Sonntage genießen möchten, gibt es immer häufiger Streit und Stress. Es ist eng geworden im Wald. Da klagen die einen über rasende Radler, die anderen über maulende Mamis, die absichtlich den Weg versperren. Eike von Lindern kennt die Diskussionen und rät zu gegen- seitigem Verständnis: „Wo es keine getrennten Wege gibt, hilft nur gegenseitige Rücksichtnahme“, meint der h_da-Professor. „Im Wald hat niemand, außer der Natur, das Vorrecht. Solange Gebiete für alle freigegeben sind, sind auch alle Bedürfnisse gleichermaßen berechtigt. Dann kommt es nur darauf an, wie wir miteinander umgehen.“

„Radler müssen bremsen, wenn es eng wird“

Von Lindern selbst ist joggend und wandernd im Wald unterwegs. „Oft muss ich jemanden überholen. Dann rufe ich mit ausreichend Abstand ‚Klingeling‘, die anderen drehen sich um – und lachen. So wird das zu einer netten Begegnung.“ Wer als Mountainbike-Purist partout auf die Klingel verzichten wollte, müsse es ihm eben gleichtun. Dass Radlerinnen und Radler vor Kurven und an engen Stellen abbremsten und beim Überholen rechtzeitig auf sich aufmerksam machten, sei eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Über Rowdies, die sich an solche ungeschriebenen Gesetze nicht halten, hat sich auch von Lindern schon geärgert. Im Urlaub in den österreichischen Alpen zum Beispiel. „Da kam mir ein E-Biker auf einem schmalen Pfad entgegen. Links ging es sehr steil runter und rechts sehr steil hoch, ich hatte eigentlich keine Möglichkeit auszuweichen. Trotzdem ist der einfach weitergebrettert und hat so etwas wie ‚blöder Wanderer‘ gegrummelt.“ Solche Erlebnisse seien Einzelfälle, betont der Forscher. Unsere Psyche neige aber dazu, negative Einzelereignisse überzubewerten. „Deshalb müssen wir uns vor Verallgemeinerungen hüten.  Die meisten Menschen, die im Wald unterwegs sind, verhalten sich freundlich und vorausschauend.“

An der h_da hat von Lindern derzeit eine Vertretungsprofessur am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften inne. Als Wissenschaftler und Berater ist er auch in der Schweiz aktiv, wo dieselben Konflikte diskutiert werden wie hierzulande. Am Zürichberg befasste er sich mit der Umgestaltung eines Naherholungsgebiets. Dort wurde schließlich für die Bikerinnen und Biker eine separate Strecke angelegt. „Der Fußweg verläuft heute parallel zur Downhill-Piste, sodass Wanderer den Bikern bei ihren abenteuerlichen Abfahrten und Sprüngen zu- sehen können“, berichtet von Lindern.

„Das Optimum ist es, die Strecken zu trennen“

Die Strecken zu trennen, ist das Optimum, aber nicht überall machbar, weil der Platz fehlt, das Geld – oder beides. Eine Alternative ist die Einrichtung von Mountainbike-Parks mit attraktiven Trainingsmöglichkeiten. Um junge Raser zu erreichen und zu sensibilisieren, schlägt der Umweltpsychologe außerdem vor, Influencer für maßgeschneiderte Medienkampagnen zu gewinnen. „Wenn ein cooler YouTuber erklärt, wo und wie man seinem Hobby nachgehen kann, ohne andere zu gefährden, stimmt die Ansprache und die Botschaft kommt an.“ Von neuen Regelungen und Gesetzen hält von Lindern nichts. „Wie viele Polizisten oder Förster bräuchte es, um strengere Regeln durchzusetzen? Das würde am Ende zu absurden Verfolgungsjagden im Wald führen.“

Sieht man im Wald vor lauter Konflikten die Bäume nicht mehr? Die Liste der Beschwerden sei lang, berichtet von Lindern: Ranger haben Probleme mit Pilzesammlern, die kreuz und quer durch Naturschutzgebiete kreuchen und dabei seltene Pflanzen zertrampeln. Im Winter sind es Schneeschuhläufer, die die Auerhühner in der Winterruhe aufschrecken. Die Förster sind verärgert über freilaufende Hunde, die den Wildtierbestand gefährden. Waldarbeiter beklagen, dass Wanderer und Radler ihre Absperrungen ignorieren. Fäkalien im Wald kontaminieren die Biotope mit Medikamentenrückständen und menschlichen Keimen, die für Wildtiere gefährlich sein können. Auch Müll ist ein Problem: „Oft gibt es an beliebten Picknickplätzen keine Mülleimer. Also lässt der Erste irgendwo eine Verpackung liegen, und die Nachfolgenden machen so weiter.“ Dabei seien Lösungen für solche Probleme oft einfach: „Man kann an Wanderparkplätzen kostenlos Mülltüten ausgeben und eine Sammelstation einrichten.“ Ein einfacher Beitrag dazu, den Wald zu schützen und ihn als wertvolle Ressource zu bewahren.

Heilende Kraft des Waldes

Denn der Wald hat heilende Kraft, weiß Eike von Lindern. Er berichtet von Beobachtungen an Patienten auf Intensivstationen aus den 1980er Jahren: „Diejenigen, die vom Krankenzimmer einen Ausblick ins Grüne hatten, wurden schneller gesund, brauchten weniger Schmerzmittel und hatten weniger Komplikationen als diejenigen, die nur auf eine Betonwand schauten.“ Diese zunächst zufälligen Befunde sind inzwischen wissenschaftlich abgesichert. Sie lassen sich auch auf andere Szenarien übertragen: Wenn   in grauen Hochhausvierteln Hauswände mit grünen Baummotiven bemalt werden, kann auch dies bei Anwohnern einen entspannenden Effekt haben. Illusion sticht Betonwüste. Auch die Medizin macht sich solche Erkenntnisse zunutze: „Man bekommt beim Zahnarzt eine Virtual-Reality-Brille aufgesetzt und macht während der Zahn-OP einen virtuellen Spaziergang durchs Grüne“, berichtet von Lindern. „Es gibt spannende Forschungsergebnisse dazu, dass Leute dann weniger Schmerzen und Angst empfinden als Patienten ohne diese ‚Naturerfahrung‘.“

Und wann darf sich der Wald vom Corona-Ansturm erholen? „Nach Corona wird es wieder leerer“, ist sich von Lindern sicher. Dann wird der Wald vielleicht wieder zu einem entspannteren Naturerlebnis. Es muss ja nicht gleich zu so abenteuerlichen Begegnungen kommen, wie von Lindern sie bei einer seiner Extremtouren erlebt hat: „Früh morgens – ich war noch in meinem Schlafsack eingemummt – hörte ich draußen schwere Schritte.“ Die Sonne ging gerade auf, und auf der Zeltwand zeichnete sich wie in einem Schattentheater die Riesensilhouette eines Bären ab. Ein amerikanischer Schwarzbär in der Morgensonne. Das Tier ließ sich vor dem Zelt nieder und schlürfte von Linderns Wasserbehälter leer. Zu einer näheren Bekanntschaft kam es glücklicherweise nicht.

Was macht eigentlich ein Umweltpsychologe?

Eike von Lindern hat seine Doktorarbeit in Zürich über die „Veränderung von mentalen Modellen zur Förderung eines nachhaltigen Ökosystem-Managements“ geschrieben. Im Rahmen seiner Dissertation hat er Fischer und Jäger interviewt, die ihm berichteten, dass es ihnen gar nicht um die und das „Beutemachen“ an sich gehe, sondern einfach darum, allein Ruhe und Zeit in der Natur zu haben.

Als Umweltpsychologe erforscht Eike von Lindern seit vielen Jahren „erholungsförderliche Aspekte“ der Umwelt – sowohl in städtischen als auch in natürlichen Umgebungen. Die zentrale Frage ist: Was hilft uns dabei, uns von Stress zu erholen? Wie wirkt die Umwelt auf uns, wie nehmen wir sie war – und wie können wir sie schützen?

Umweltpsychologen und -psychologinnen befassen sich auch mit Stadtplanung, der Nutzung und dem Management von Grünflächen und Naherholungsgebieten, mit Umweltkommunikation oder der Förderung nachhaltigen Verhaltens, gerade mit Blick auf den Klimawandel. Auch in der Politikberatung sind sie aktiv. Im Mainstream der Umweltpsychologie geht es um „gezähmte“ Natur, also nicht um das, was wir als Wildnis bezeichnen würden. Die ist in Europa auch kaum noch zu finden, wenn überhaupt, dann im hohen Norden. Als „Wildnis-Experte“ hat Eike von Lindern deshalb auf seinem ohnehin exotischen Gebiet noch einmal einen besonderen Exoten-Status. Weltweit ist es eine winzige Community von acht bis neun Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die sich dazu austauschen.

Der Original-Artikel findet sich in der neuen Ausgabe der campus_d: h-da.de/hochschule/presse-publikationen/publikationen/campus-d 

Kontakt

Christina Janssen
Wissenschaftsredakteurin
Hochschulkommunikation
Tel.: +49.6151.16-30112
E-Mail: christina.janssen@h-da.de
 

Wem gehört der Wald?

Hessen ist – gemeinsam mit Rheinland-Pfalz – das waldreichste deutsche Bundesland: Annähernd die Hälfte der Fläche (42 Prozent) ist von Wald bedeckt, insgesamt fast 900.000 Hektar. Zum Vergleich: Im Saarland sind es knapp 40 Prozent, in Baden-Württemberg 39 Prozent und in Bayern rund 37 Prozent. Größter Waldbesitzer ist das Land – und damit irgendwie wir alle: Dem Land Hessen gehören 38 Prozent der gesamten Waldfläche. 36 Prozent sind „Körperschaftswald“, der größtenteils zu Gemeinden gehört. Nur acht hessische Gemeinden besitzen keinen Wald. Ein Viertel der hessischen Waldfläche ist Privatwald, ein Drittel davon gehört zu Bauernhöfen. Insgesamt gibt es in Hessen rund 60.000 private Waldbesitzer. Quelle: https://umwelt.hessen.de/umwelt-natur/wald/wald-hessen