Canan Topcu
„Ich habe mich immer dagegen gewehrt, Opfer zu sein“

Canan Topçu ist Journalistin und seit 2004 Dozentin an der Hochschule Darmstadt. Am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften bietet sie Seminare im Sozial- und kulturwissenschaftlichen Begleitstudium an – unter anderem zu Rhetorik, Medienkompetenz und Migrationsgesellschaft. Die heutige Antirassismus-Debatte empfindet die 56-Jährige, die Tochter türkischer Arbeitsmigranten ist, als zu aggressiv, anklagend und pauschalisierend. Gerade erschien ihr neues Buch, in dem sie dafür wirbt, „einander zuzuhören statt sich gegenseitig den Mund zu verbieten“. Topçu engagiert sich seit Jahren für eine Migrationspolitik auf Augenhöhe, will sich aber nicht einreihen in eine Bewegung, in der „Weiße und Deutsche“ per se die Schlechten und Diskriminierungsopfer die Guten sind. Eine Sichtweise, mit der sie sich mal wieder Feinde machen werde, sagt die streitbare Autorin.

Ein Interview von Astrid Ludwig, 18.11.2021

impact: Zu Ihren Lehrveranstaltungen an der h_da gehört der „Literarische Salon“. Dazu laden sie Autoren:innen mit Migrationsbezug ein und beginnen ihre Gespräche mit der Frage, wie sich die Gäste beschreiben würden. Wie beschreiben Sie sich denn selbst?

Canan Topçu: Als akkulturierte, türkischstämmige deutsche Staatsbürgerin. Und das ganz bewusst, auch um den Unterschied zwischen Geografie, Ethnie und rechtlichem Status zu benennen. Ich bin ja nicht in Deutschland geboren, deswegen fällt es mir schwer zu sagen, ich bin eine Deutsche.

impact: Sie leben seit Ihrem achten Lebensjahr in Deutschland. Fühlen Sie sich als Deutsche?

Topçu: Ich weiß doch gar nicht, wie man sich als Deutsche fühlt. Ich kann aber mit gutem Gewissen sagen: Ich bin deutsche Staatsbürgerin, und das sehr gerne. Ich stehe zu den Werten dieser Republik, ich bin eine Verfassungspatriotin. Mit allem, was mit Deutschtümelei oder Nationalismus zu tun hat – egal wo – habe ich jedoch massive Probleme.

impact: Als Muslima beschreiben Sie sich nicht?

Topçu: Wenn, dann als Kulturmuslima. Ich habe einen kulturellen Bezug, bin in einem muslimischen Umfeld aufgewachsen und sozialisiert worden. Ich bin spirituell und gläubig, aber nicht in den Kategorien, die heute so betont werden. Religion müsste meiner Ansicht nach nicht derart stark im öffentlichen Diskurs eine Rolle spielen, auch weil es zur Spaltung führt. Für meinen Umgang mit Menschen ist es irrelevant, ob jemand religiös ist und an was oder wen jemand glaubt. Ich versuche, jedem Menschen respektvoll zu begegnen.

impact: In Artikeln und Ihrem gerade erschienenen Buch „Nicht mein Antirassismus“ werben Sie für einen solchen respektvollen Umgang, für direkte Begegnungen und klare Debatten statt Angriffe. Was genau stört Sie an der aktuellen Rassismus-Debatte?

Topçu: Die zunehmende Aggressivität und Polarisierung. Autochthone Deutsche werden als „Weiße“ und somit per se als Rassisten kategorisiert und Menschen aus Minderheiten als Opfer. Einer Minderheitengruppe anzugehören, macht einen aber nicht zum besseren Menschen. Dieses Schwarz-Weiß-Schema ist mir zu einfach, zu einseitig. Die Gruppen, die die Antirassismus-Diskussion dominieren, sind schwarze Menschen und junge, akademisch gebildete Aktivisten:innen, die Nachkommen der Arbeitsmigranten:innen sind. Die Ressentiments oder Motive der Gruppen unterscheiden sich. Sie melden sich auf Social Media und auch in klassischen Medien zu Wort und zeichnen, meiner Ansicht nach, ein zu schlechtes Bild von Deutschland. Wenn ich die Beiträge höre, sehe oder lese, frage ich mich immer wieder, ob ich im selben Land lebe. Natürlich weiß ich um Diskriminierungen und Ausgrenzung. Klar gibt es den realen Rassismus gegen schwarze Menschen und die Ablehnung – das aber auch nicht nur aus rassistischen Gründen, sondern auch weil etwas als fremd oder anders angesehen wird. Ich diagnostiziere nicht reflexhaft Rassismus als Ursache jeder Abweisung und Missstände. Viele der Antirassismus-Akteure empfinden große Wut und Hass, das teile ich aber nicht, weil mir die Vorwürfe etwa gegen „alte weiße Männer“ zu pauschal und zu wenig differenziert sind. Man muss immer auf die Geschichten hinter den Menschen schauen. Viele alteingesessene Deutsche, „die Weißen“, um das Wording der Antirassismus-Aktivisten zu verwenden, haben sich auch hier ihr Leben oder ihre Privilegien hart erarbeiten müssen.

impact: Sie haben als Kind in Deutschland selbst rassistische Erfahrungen gemacht.

Topçu: Den Begriff Rassistisch gab es damals nicht. Ich bin in der Schule ausgegrenzt worden, weil ich anders war, fremd war. Das hat mich traurig gemacht. Die Frage war und bleibt für mich: Wie mit diesen Erfahrungen umgehen, was daraus machen? Das Elternhaus, das Umfeld ist wichtig, um mit Ausgrenzungserfahrungen klarzukommen. Meine Mutter beispielsweise hat meine Schwestern und mich bestärkt, uns Mut gemacht und gesagt: „Lasst Euch nicht klein kriegen. Egal, was die Leute Negatives über Euch sagen, das seid ihr nicht“. Ich habe mich immer dagegen gewehrt, Opfer zu sein oder so wahrgenommen zu werden. Ich bin der Überzeugung, dass es nicht guttut, sich in der Position der Schwachen zu sehen. Was aber bedacht werden sollte: Migration ist ein lebenslanges Trauma, auch für mich. Ich habe Momente, in denen ich mich hilflos fühle. Ich spreche darüber, um dafür zu sensibilisieren. Bewusst erzähle ich meine persönliche Migrationsgeschichte, möchte mit meiner Biografie für Verständigung, mehr Dialog werben - darum, den anderen zu sehen und ihm zuzuhören.

impact: Sie engagieren sich seit mehr als 25 Jahren gegen Ausgrenzung und Diskriminierung in politischen Gremien und zivilgesellschaftlichen Initiativen, etwa seit vielen Jahre im „Runden Tisches interkultureller Journalismus“. Sie sind Mitbegründerin des Netzwerks „Neue Deutsche Medienmacher“ und berufenes Mitglied im Dialogforum Islam, einem Gremium der Hessischen Landesregierung. Worin unterscheidet sich Ihr Engagement und das der älteren Generationen von dem der Aktivisten:innen heute? 

Topçu: Es hat sich etwas verschoben: Junge Angehörige aus Minderheiten und Migrantenfamilien positionieren sich zunehmen als Benachteiligte. Im Kontext der Arbeitsmigration gibt es Gruppen, die beklagen, dass ihre Großeltern in Deutschland ausgebeutet wurden, keine Wertschätzung erhielten und auch sie selbst von der deutschen Gesellschaft nicht bekommen, was ihnen zusteht. Oft bleibt unerwähnt, dass unsere Eltern oder Großeltern im Zuge der damaligen Anwerbeverfahren freiwillig nach Deutschland kamen und es ihnen in den Herkunftsländern nicht besser gegangen wäre.  

Menschen wie mir, die dankbar für die Freiheiten in diesem Land sind, werfen sie vor, den Rassismus nicht wahrzunehmen, sich der Realität nicht zu stellen. Es ist die Rede von strukturellem Rassismus in Deutschland. Mein Standpunkt ist: Es kann, muss aber nicht jede Ablehnung damit zusammenhängen, dass mein Gegenüber rassistisch ist. Das ist nicht mein Menschenbild und das unterscheidet mich von manch heutigen Akteuren:innen. Es gehört für mich zum Anständigsein dazu, dass ich mit jedem Menschen respektvoll umgehe, und dass ich lerne, auch meine Vorurteile zu reflektieren. Ich plädiere dafür, aus unterschiedlichen Perspektiven die Bedingungen des sozialen Miteinanders zu betrachten, sich empathisch und solidarisch für eine gerechtere Gesellschaft zu engagieren. Es gibt in meiner Biografie viele Menschen – auch alte „weiße Männer“ – die dazu beigetragen haben, dass aus mir etwas werden konnte. Ich finde, man tut dem Großteil der Gesellschaft unrecht, wenn man in Schwarz-Weiß-Kategorien urteilt.

impact: Sie kritisieren abgehobene Sprachcodes und eine Political Correctness, die viele Menschen verunsichere und das Miteinander verkrampfe. Für Sie ist die Frage nach der Herkunft beispielsweise kein Tabu?

Topçu: Wenn wir es hinbekommen wollen, dass die Pluralität dieses Landes als Normalität wahrgenommen wird, und jeder Teil dieses Landes sein kann, dann sollte diese Frage erlaubt sein. Wenn wir einen Menschen, der aussieht wie ich, in die Schublade „Sie ist nicht von hier“ packen, lässt sich das doch nur durch einen offenen Dialog korrigieren. Ich kann dann sagen, ich habe einen fremdländischen Namen, meine Eltern sind aus der Türkei und ich bin deutsche Staatsbürgerin. Ein Veränderungsprozess im Kopf, das Ende des Schubladendenkens, beginnt doch nur durch einen solchen Austausch. Wenn auf diese Frage geantwortet wird, ermöglichen wir der nächsten oder übernächsten Generation, damit nicht mehr konfrontiert zu werden. Die Littbarskis oder Lipinskys fragt ja heute auch keiner mehr, ob sie Deutsche sind. Ich sehe das als eine Übergangsphase. Nicht alle gesellschaftlichen Veränderungen sind in allen Milieus angekommen. Menschen leben in ihren Blasen, wo es eben nicht „normal“ ist, dass es Deutsche gibt, die nicht gleich zugeordnet werden können. Die Erwartung, dass auch für andere selbstverständlich ist, was für mich selbstverständlich ist, führt nur zu Konflikten.

impact: Sie leben in Hanau, der Stadt, in der ein rechtsextremer Attentäter neun Menschen mit Migrationshintergrund erschossen hat. Sie haben darüber berichtet und auch hier teilweise einen anderen Blick auf das Geschehen.

Topçu: Ich war fassungslos, die Tatorte lagen teils nur wenige hundert Meter von meinem Zuhause entfernt. Als Beobachterin, nicht als Betroffene schrieb ich über das, was in meiner Stadt passierte. Ich kann die Ohnmacht der Angehörigen verstehen angesichts der Versäumnisse der Behörden, ihre Fragen und ich kritisiere die mangelnde Kommunikation von Polizei und Justiz mit den Menschen, die ihre Liebsten verloren haben. Meine Beobachtungen wichen allerdings auch von manch medial vermitteltem Bild ab. Ich sah Dinge, die andere nicht sahen oder sehen wollten. In der Frankfurter Rundschau, für die ich viele Jahre gearbeitet habe, schrieb ich einen Kommentar. Darin verurteilte ich, dass die Demonstration vier Tage nach dem Anschlag, zu der viele Tausend Teilnehmer kamen, für ideologische und politische Zwecke missbraucht und das Leid der Opfer instrumentalisiert wurde. Per Rundmail hatten türkische Konsulate zuvor türkische Verbände, Vereine oder Moscheegemeinden dazu aufgefordert. Aus der ganzen Republik, teils mit gecharterten Bussen, waren türkischstämmige Demonstranten angereist. Bei dem Marsch sah ich Vertreter des türkischen Parlaments sowie viele türkische Fahnen schwenkende Männer und Frauen, die „Allahu akbar“ riefen oder „Nazis raus“. Es nahmen auch Menschen an der Demo teil, um ihre Anteilnahme auszudrücken, sie wurden aber zu Statisten im Szenario türkischer Nationalisten.

impact: Für diese Kritik haben Sie Drohungen erhalten?

Topçu: Ich erhielt Hassbotschaften und Drohanrufe, zog mich daraufhin zurück – auch weil eine Berichterstattung, die nicht per se die Perspektive der Opferangehörigen im Blick hat, kaum möglich und nicht erwünscht war.

impact: Was zurück zu Ihrem Plädoyer gegen eine Opferrolle migrantischer Menschen führt, und dass wir uns nicht den Mund verbieten sollten. Wie vermitteln Sie diesen Ansatz Ihren Studierenden an der h_da? 

Topçu: Ein Großteil meiner Studierenden hat einen migrantischen Hintergrund – auch weil sie sich gegenseitig meine Kurse empfehlen. Ich ermuntere sie, Abweisungen nicht persönlich zu nehmen, sondern sich auch um einen Perspektivwechsel zu bemühen. Warum handelt der andere so? Ich ermuntere sie, freundlich zu bleiben und ins Gespräch zu gehen.

Was ich feststelle: Wir brauchen viel mehr Kernkompetenzen in der Kommunikation und im Umgang miteinander. Um diese zu vermitteln, müsste mehr Geld in die Ausbildung von Pädagogen, Lehramtsstudierenden, in die Förderung und Fortbildung von Eltern fließen. Wenn man in die Zukunft eines Landes und eine gleichberechtigte Gesellschaft investieren möchte, sollte vorrangig in die Bildung investiert werden. Wenn ich wütend bin, dann über die miserable Bildungspolitik eines so reichen Landes wie Deutschland.

Das Buch zum Interview:

Canan Topçu, Nicht mein Antirassismus, Quadriga-Verlag, ISBN 978-3-86995-115-7 

Die Buchrezension von Christina Janssen im Deutschlandfunk können Sie hier nachhören:  "Andruck", 21.2.22