Kontroverse um den Wolf

Zum Abschluss der dreisemestrigen Reihe „Tier-Mensch-Verhältnis“ im Sozial- und Kulturwissenschaftlichen Begleitstudium diskutieren Studierende und Fachleute über den Umgang mit dem Raubtier, das wieder zunehmend durch heimische Lande zieht. Von zentraler Bedeutung ist dabei die Erkenntnis, wie gewinnbringend eine auf Fakten und Sachlichkeit fußende Debattenkultur ist.

Von Alexandra Welsch, 25.7.2023

Er hat einen stechenden Blick, ein langes, spitzes Maul und einen zielstrebigen Gang. Selbst dann noch, wenn er, wie hier, ausgestopft in einer Vitrine im „Café Glaskasten“ der Hochschule Darmstadt steht: Der Wolf ist ein Tier, das Eindruck hinterlässt. Umso mehr, seit er nach seiner Beinahe-Ausrottung zunehmend auch wieder in Deutschland als Rückkehrer durch die Lande streift. Als lebensgroßes Ausstellungsstück und vor allem als kontrovers diskutiertes Thema hielt er nun auch an der h_da Einzug beim Wolfstag zum Abschluss der Veranstaltungsreihe „Tier-Mensch-Verhältnis“ im Rahmen des Sozial- und Kulturwissenschaftlichen Begleitstudiums. Und da wurde deutlich: Die Rückkehr des Wolfs ist eine Herausforderung für den modernen Menschen und auch dessen Diskussionskultur.

„Das Tier-Mensch-Verhältnis ist an vielen Stellen neu zu kalibrieren“, erläutert Matthias Herrgen vom Fachbereich Gesellschaftswissenschaften den Ansatz der Vortrags- und Seminarreihe. „In sehr vielen Bereichen merkt man, dass das Tier einen anderen Stellenwert bekommt.“ So war bei einem vorherigen Symposium zur Überraschung vieler Studierender von einer Merck-Vertreterin zu erfahren, wie intensiv dort an tierversuchsfreien Medikamententests arbeitet. Und generell verweist Herrgen auf die Debatten über Tierethik oder Vegetarismus. „Bei Studierenden ist das Thema sehr beliebt“, weiß der Anthropologe. Es herrsche eine große Sensibilität für Umwelt- und Tierschutz, viele engagierten sich dafür.

„Der Wolf polarisiert am stärksten“

Der Wolf eigne sich als exemplarisches Thema deshalb gut, weil dabei der Natur-Kultur-Konflikt besonders zur Geltung komme. „Der Wolf polarisiert am stärksten.“ Weil die Debatte teils sehr emotional geführt werde, nähmen sie sich dieses Themas als Wissenschaftler*innen ganz bewusst an, betont Herrgen. Die besondere Rolle dabei unterstreicht auch Nicola Erny, Philosophie-Professorin am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften, die zu Beginn des Wolfstags fast mahnend in die Runde warf: „Die Hochschule zeigt sich hier als der Raum, an dem kontrovers diskutierte Themen sachlich verhandelt werden.“

Seit 2010 lehrt Prof. Dr. Nicola Erny Philosophie am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Hochschule Darmstadt. Ihre thematischen Schwerpunkte die sind Angewandte Ethik und Sozialphilosophie. 

Dr. Matthias Herrgen ist Anthropologe und Lehrkraft für besondere Aufgaben am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften. Gemeinsam mit Nicola Erny zeichnet er für die Reihe "Tier-Mensch-Verhältnis" verantwortlich. 

Laptop-Tastaturen klappern und Notizhefte füllen sich mit Zeilen – die Studierenden schrieben sich regelrecht einen Wolf beim faktendichten Vortrag über „Das Problem Wolf“ von Diplom-Biologe Dr. Dirk Wewers, Zooinspektor und Kurator im Tierpark Nordhorn in Niedersachsen. Er machte gleich zu Beginn deutlich, dass er selbst mitten im Spannungsfeld steht: In seinem Tierpark leben Wölfe, und er selbst hält Schafe, in deren Nähe sich eine Wolfsherde angesiedelt hat. Doch stellte der Biologe klar, dass er die Rückkehr der Wölfe begrüßt. Schließlich gelte natürlicherweise: „Der Grauwolf ist bei uns heimisch.“

Bis ins vorige Jahrhundert hinein wurde das größte Raubtier aus der Familie der Hunde in Deutschland intensiv bejagt. Es habe in dieser Zeit relativ wenige Waldtiere gegeben, und Nutztiere waren schlechter geschützt als heutzutage, erläuterte Wewers. „Der Wolf wurde zum Nahrungskonkurrenten des Menschen.“ 1841 sei der letzte Wolf in Hessen erlegt worden, 1904 der letzte in Deutschland. Und erst, als er Jahrzehnte später in den 1990er Jahren unter Schutz gestellt wurde, kehrte er sukzessive wieder zurück. 2022 wurden bundesweit 161 Rudel, 43 Paare und 21 Einzeltiere gezählt. Über ein Wolfsmonitoring mittels Bildkameras, genetischer Vor-Ort-Proben oder Sendereinsatz behält man sie im Blick. So weiß man etwa, dass manches Jungtier pro Nacht 70 Kilometer laufe.

Seit 1950 neun Angriffe auf Menschen

Zooinspektor Wewers machte allerdings auch klar, dass er Panikmache für unbegründet hält. Punkt 1: „Die Entwicklung schwächt sich ab.“ Da ein Wolfsrudel eine Reviergröße von 100 bis 350 Quadratkilometern beanspruche, werde beim Bestand rein flächenmäßig irgendwann eine Grenze erreicht. Punkt 2: „Der Mensch passt nicht ins Beuteschema.“ Laut NINA-Wolfstudie des Norwegischen Instituts für Naturforschung habe es seit 1950 in Deutschland neun Angriffe auf Menschen gegeben, davon fünf unter Tollwut-Einfluss und vier als Folge eines Anfütterns durch Menschen. Wewers: „Ich hätte viel mehr Angst, einem Wildschwein zu begegnen.“ Und auch um Rehe machte er sich keine größeren Sorgen: Ein Wolfsrudel, bestehend aus rund zehn Tieren, fresse 200 Rehe im Jahr. Bei Wildunfällen seien allein 2019 mehr als 200.000 Rehe umgekommen und weitere 1,26 Millionen geschossen worden.

Dann wurde es zwischendurch ziemlich blutig: Der Referent beamte Fotos gerissener Schafe und zerfetzter Ziegen an die Wand im Glaskasten. Und kam zum Nutztierschaden, den der Wolf durchaus anrichtet. Dabei gelte: In 50 Prozent der Todesfälle könne der Wolf ausgeschlossen werden. „Häufig ist es ein Hund gewesen.“ Dennoch weiß er, nicht zuletzt aus eigener Erfahrung, um die Betroffenheit von Tierhaltern. Diese würden unterstützt durch Entschädigungen, wenn ihre Tiere trotz Schutzvorkehrungen wie E-Zäunen von Wölfen gerissen werden. Und wenn ein Tier wiederholt Probleme mache, könne es auch zum Abschuss freigegeben werden. Das bestätigte Ulrich-Götz Heimberger vom Naturschutzdezernat des Regierungspräsidiums Darmstadt aus dem Publikum. „Wir haben zurzeit einen Wolf, der öfter an Schafen war, die ausreichend geschützt werden.“ Da stehe erstmals in Hessen die Frage eines Abschusses im Raum. Wirkung entfalte das auch deshalb, weil der Rest des Rudels dann gewarnt sei.

Tierhalter fordern: „Wolfsbestand regulieren“

Doch Volker Lein, Vizepräsident des Hessischen Bauernverbands, ging das nicht weit genug. „Wolfsbestand regulieren, sonst hat die Weidetierhaltung keine Chance“: Mit dieser Forderung war sein Vortrag überschrieben. „Als Tierhalter ist man finanziell betroffen und hat einen ganz anderen Stand“, befand der Besitzer eines Milchviehbetriebs in Homberg, der auch Wildschadenschätzer ist. Er verwies auf Zahlen, wonach im ersten Halbjahr 2023 in Hessen 56 Schafe, zehn Rehe und zwei Kälber gerissen wurden. „Nutztiere sind die einfachste Nahrungsquelle, da sie eingesperrt sind.“ Sicher könne man das Einzäunen noch verbessern. Aber es sei unmöglich, alle Vorgaben einzuhalten. So lasse manch schwierige Boden- oder Geländesituation keine Einzäunung zu. Und Zäune würden auch übersprungen.

Egal ob Ausgleichzahlungen und Einzäunungen, fasste Lein zusammen: „Das ist uns zu wenig.“ Statt viele Millionen Euro auszugegeben für Herdenschutz, sollten mehr als nur Problemwölfe zum Abschuss freigegeben werden. Zumal der Wolf seit 2007 nicht mehr als bedrohte Tierart gelte. Und schließlich werde er in 14 Staaten der EU bejagt. „Der Wolf gehört zur Natur“, stimmte auch der Bauernvizepräsident zu. „Und wir wollen auch nicht sinnlos Wölfe ‚abballern‘ – aber Grenzen aufzeigen. Und dazu gehört für uns auch die Entnahme.“

„Wir sind gar nicht so weit voneinander entfernt“

Den Wolf Wolf sein lassen oder seinen Bestand begrenzen? Zwischen diesen Polen bewegten sich die Teilnehmenden auch in zwei Diskursgruppen und der Podiumsdiskussion. „Es ist eine Frage der Betroffenheit“, brachte es Volker Lein vom Bauernverband da auf den Punkt. „Wir sind eigentlich gar nicht so weit voneinander entfernt“, befand Biologe Dirk Wewers. Und Professorin Nicola Erny verwies abschließend einmal mehr auf die Verantwortung, den eigenen, in der Regel anthropozentrischen Standpunkt sachlich zu reflektieren, um dieses gesellschaftspolitisch brisante Thema im Diskurs angemessen weiterentwickeln zu können.

Bei ihren Studierenden war diese Erkenntnis wissenschaftlicher Differenziertheit längst angekommen und angewandt: „Wir waren uns einig, dass der Wolf geschützt, aber auch reguliert werden soll“, fasste Studentin Mathilda Waidelich ein zentrales Ergebnis aus ihrer Diskursgruppe zusammen. „Ihn zu vertreiben, ist keine Lösung“, ergänzte Nora Hameister für die andere Gruppe. „Man muss eine Balance finden und lernen, in diesem Spannungsfeld zu leben.

Kontakt

Christina Janssen
Wissenschaftsredakteurin
Hochschulkommunikation
Tel.: +49.6151.533-60112
E-Mail: christina.janssen@h-da.de

Das Auftakt-Interview zur Reihe „Tier-Mensch-Verhältnis“ am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der h_da mit Nicola Erny und Matthias Herrgen können Sie hier nachlesen: impact.h-da.de/tierethik