Die digitale Transformation ist eine gewaltige Aufgabe. Und sie eröffnet riesige Chancen. Zum Beispiel für Designer. Professor Philipp Thesen, früherer Designchef der Deutschen Telekom, versteht das Design eher als strategische Tätigkeit, die die Menschen durch den Wandel begleitet, denn als reine Produktgestaltung. Studierende des Industrie-Designs entwickeln in seinen Entwurfsprojekten Prototypen, die von ihren Nutzern her gedacht sind: Sie sind nicht nur schön, sondern auch intuitiv, hilfreich und funktional.
Auf den ersten Blick sind es nur Helme, schwarz und weiß, mit auffälligem Visier: das eine blaugrünmetallic-changierend, das andere glasklar. Zugegeben, sie sehen schnittig-reduziert, hochmodern, ja, futuristisch aus – und das sind sie auch. Denn in ihnen steckt viel mehr als in ihren Vorläufermodellen. Nicht nur Tragegefühl und -komfort werden dank kleiner Luftkammern eines Polstersystems aufs angenehmste gesteigert, auch der Einsatz neuer technologischer Entwicklungen verleiht den Helmen und ihren Nutzern ungeahnte Möglichkeiten.
Die Entwürfe, die im Fachbereich Gestaltung an der h_da unter der Leitung des Professorenteams Philipp Thesen (Mensch-System-Interaktion), Tom Philipps (Technisches Design) und Dr. Elke Hergenröther (Informatik) von den Studierenden entwickelt wurden, sind mit künstlicher Intelligenz (KI) ausgestattet. Auf der Skipiste kann man durch Anwendung von erweiterter Realität, Augmented Reality (AR), über Sprachsteuerung kommunizieren und sich etwa über Geschwindigkeit oder zurückgelegte Kilometer informieren. Und das ohne Bedienung des Smartphones – was in dieser Situation mit Handschuhen höchst umständlich wäre. Bei Unfällen lassen sich Personen orten. Nutzer dieser Helme können sich aber auch mit Freunden verabreden oder sich Appetit auf ein bestimmtes Gericht der Menükarte einer angepeilten Berghütte holen. Ein anderer Helm dient zum Schutz beim Arbeiten unter Tage oder für Polizeieinsätze: Er hält Stößen und extremer Hitze stand, ermöglicht dank AR die Koordination, Organisation wie Kommunikation untereinander und zeigt in Notfällen den bestmöglichen Fluchtweg an.
Über das heute Machbare hinausgedacht
Bisher existieren der Skihelm „Air Ride“ und die anderen „AR-Schutzhelme“ nur als Prototypen auf Basis der Microsoft HoloLens, einer Mixed-Reality-Brille. Die Aufgabe der Studierenden war es, Technologien zu verstehen, sie anzuwenden und mit ihren Entwürfen über das heute technisch Machbare hinaus zu denken. So haben sie innerhalb des Seminars sowohl das digitale Mixed-Reality-Erlebnis als auch die Hardware des Helmes gestaltet.
Immer schon waren Designer gefordert, in komplexen Zusammenhängen und branchenübergreifend zu denken, sich mit Anwendungsszenarien auseinanderzusetzen. Ihre stilprägenden Entwürfe sollten den Wunsch der Konsumenten nach persönlicher, sinnlicher Erfahrung erfüllen oder diesen erst wecken. Das Seminar bei Philipp Thesen sollte sie aber lehren, dass es in der digitalen Transformation längst nicht mehr um reine Produktgestaltung geht. Denn diese betrifft alle Unternehmen, wie Thesen betont. „Die digitale Transformation ist Chance und Herausforderung zugleich“, sagt er. Damit diese besser angenommen wird und uns Angst oder Unbehagen davor nimmt, plädiert er dafür, „die Technologie zu humanisieren“, was künftig mehr und mehr Industrie-Designer herausfordern werde.
Design vernetzt, organisiert und stiftet Sinn
„Der Aufstieg der KI bestimmt unsere Zukunft. Sie soll uns aber nicht beherrschen, sondern uns das Leben erleichtern“, sagt Philipp Thesen. Hierfür müsse die Industrie radikal vom Menschen aus denken und nicht einfach nur Technologie einkaufen oder entwickeln, um sie dann dem Benutzer zuzumuten. Dass dies vor allem eine Frage des Designs ist, dafür sensibilisiert Thesen seine Studierenden – auch deshalb, weil Unternehmen „händeringend Gestalter suchen“. Besonders bei großen Organisationen spiele Digital System Design eine zentrale Rolle: „Viele Abteilungen arbeiten an unterschiedlichen Produkten und Dienstleistungen. Diese gilt es, effizient und flexibel zusammenzuführen.“ Hierin lägen verantwortungsvolle Aufgaben. Denn Design, sagt Thesen, sei die Disziplin, die alle anderen zusammenführt, organisiert und moderiert, um ein ganzheitliches Nutzungs- und Markenerlebnis zu schaffen.
Philipp Thesen weiß, wovon er spricht. Als Executive Creative Director und später Designchef der Deutschen Telekom war er rund zehn Jahre lang dafür verantwortlich, wie deren Produkte sinnlich wahrgenommen werden. Von diesem Wissen profitieren nun die Studierenden. Auch, weil bei Projekten vernetzt mit Professoren anderer Disziplinen zusammengearbeitet und -gedacht wurde und wird. So schöpften sie sämtliche Methoden von Gestaltern aus – ganz im Sinne von Design Thinking. Ihre Ergebnisse, etwa die „intelligenten“ Helme, wurden bereits ausgestellt, mehrfach ausgezeichnet und weckten bei einem führenden Helmhersteller große Aufmerksamkeit.
Die Studierenden beobachteten, erforschten und analysierten. Ihre „Research“ war langwierig und tiefgreifend, wie sie berichten. Denn mit der Entscheidung, einem Produkt Funktionen zu übertragen, müssten Designer erhebliche Anstrengungen leisten: Sie wollten „den Menschen mit der Maschine versöhnen“, wie sie sagen. Das Design bestimme das Verhältnis des Menschen zu den Dingen. Und um KI zu humanisieren, müsse sie für den Verbraucher zugänglich sowie leicht erlern- und anwendbar sein. Die Technologie sollte so ausgestaltet werden, dass man sie gern nutzt und als angenehm, ja, sogar als empathisch empfindet.
Banking ohne Machtgefälle
Designer müssten in die Lage versetzt werden, komplette Business-Ökosysteme durchzugestalten, sagt Philipp Thesen. Nur so lasse sich gesellschaftliche Akzeptanz für technologische Errungenschaften erreichen. Eine weitere Studierendengruppe hatte deshalb die Chance, dies zusammen mit Akteuren von Neugelb Studios, der Service-Design-Agentur der Commerzbank, umzusetzen. Sie machte sich Gedanken über das „Zukunftserlebnis des Banking“ sowie über das „Machtgefälle von der Bank zum Kunden“. Gerade bei einem Bankhaus sind Kundenbindung und Vertrauen existenziell. Deshalb erarbeiteten die Studierenden Konzepte, die Transparenz und eine gleichberechtigte Beziehung in der Kommunikation zwischen Bankberater und Kunde schaffen. Dafür entwickelten sie ein Board für zwei Handys und Bildschirme im Stil der Commerzbank-Einrichtung. Dieser Sitzmöbelaufsatz ermöglicht Kunde wie Berater offenen Zugang zu sämtlichen relevanten Daten und Produkten der Bank. Beide blicken gemeinsam auf die Displays, beide können über die Inhalte diskutieren. Die Studierenden legten damit Beratungsabläufe der Bank, beispielsweise bei der Baufinanzierung, anschaulich und transparent dar, womit allen Beteiligten gedient ist.
„Durch Übersetzung von Technologie in nachhaltige Kundenerlebnisse stiftet Design Sinn für den Konsumenten und leistet damit einen fundamentalen Beitrag für den Unternehmenserfolg von morgen“, fasst Professor Thesen den Prozess zusammen. Doch solche komplexen Aufgaben verlangten ein Umdenken, es müssten neue Prioritäten gesetzt werden: Die digitale Transformation stelle traditionelle Geschäftsmodelle und Unternehmensprozesse infrage.
VR-Installation zum Bauhaus
Dass Digitalisierung aber auch helfen kann, Vergangenheit erlebbar zu machen, um sich der Zukunft zu nähern, zeigt ein weiteres Entwurfsprojekt aus der Lehre von Philipp Thesen. Innerhalb der Ausstellung „Gestalt und Hinterhalt – Das Bauhaus im Spiegel der Mathildenhöhe“ im Designhaus in der Nachbarschaft des Fachbereichs Gestaltung haben Studierende Ende 2019 eine aufwendig realisierte interaktive Virtual-Reality-Installation präsentiert. Hier hatten Besucher die Möglichkeit, mithilfe einer VR-Brille vor der reizvollen Kulisse des Musenhügels zu erfahren, wie man dort das Bauhaus hätte etablieren können, wenn es doch nur in Darmstadt ansässig geworden wäre. Besucher konnten treppauf und treppab durch sämtliche Bauhaus-Werkstätten wandeln, Objekte in die Hand nehmen, Stahlrohr biegen, Schubladen aufziehen, einen Film von Laszlo Moholy-Nagy ansehen oder Briefe von Walter Gropius lesen.
Anwendungen für künstliche Intelligenz dringen mehr und mehr in unseren Alltag vor. Bei der Erkennung und Klassifizierung von Sprache, Gesichtern, in der Verarbeitung von Übersetzungen oder Konversationen, im Gesundheitswesen oder bei Dienstleistungen in Hotels oder Restaurants, bei der Vorhersage des Online-Einkaufsverhaltens oder personalisierten Werbealgorithmen ist bereits KI im Spiel. Das, so ist Philipp Thesen überzeugt, hat klare Folgen für das Berufsbild des Designers: „Es braucht eine Neudefinition der Rolle des Designers im Unternehmen hin zu einem Begleiter für eine erfolgreiche digitale Transformation.”
Design, sagt Thesen, sei eine Kulturtechnik, um alle Mitarbeitenden in einer Organisation für Innovationen zu begeistern: ihnen Freiheiten und Möglichkeiten zu geben, damit sie kreatives Denken wagen, zu Veränderungen bereit sind und auch das Risiko eingehen, zu scheitern. „Wenn Design zu einer relevanten Säule der Unternehmensführung geworden ist, dann bekommt es eine Leadership-Funktion“, sagt Philipp Thesen. „Dann kann sich das Management systematisch mit dem Wandel und den Trends in Technologie und Gesellschaft auseinandersetzen und aus diesem Verständnis heraus neue Wachstumsmöglichkeiten und innovative Anwendungsmöglichkeiten entwickeln.”
Autorin
Sibylle Maxheimer
Februar 2020
Kontakt
Daniel Timme
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