Digitaler Wandel: Die Querdenker

Unternehmen und ihre Beschäftigten fit für die Arbeitswelt von morgen machen – darauf zielt „ALLE im digitalen Wandel“. Als Trägerin des vom Bund geförderten Projekts hat die h_da an ihrem Forschungszentrum Digitale Kommunikation und Medien-Innovation ein Team gebildet, das mit den sechs Projektpartnern neue Pfade erforscht. Die Teilnehmenden kommen von einem DAX-Konzern, einem Software-Anbieter oder aus der Verwaltung. Gemeinsam experimentieren und lernen sie. Zum Beispiel beim „Neugier-Tag“ bei Merck.

Sie ist überall. Wo wir gehen und stehen, leben und arbeiten. Wir können uns ihr nicht entziehen. Sie macht alles neu. Manche feiern, was sie möglich macht, einige fürchten sich davor. Viele tun beides. Sie fordert uns, sie überfordert uns: Digitalisierung. An unseren Arbeitsplätzen verlangen digitalisierte Werkzeuge und Prozesse von uns Veränderungsfähigkeit, neue Strategien und Entscheidungen. Mal lässt uns die digitale Transformation bangen – „Schaffe ich das?“, „Ist mein Job gefährdet?“ – dann wieder macht sie uns euphorisch: „Super, das will ich ausprobieren!“, „So sollte unser Team künftig arbeiten!“ Begeisterung wie Bedenken sind berechtigt. Im Projekt „ALLE im digitalen Wandel“ betrachtet ein interdisziplinäres Team der h_da gemeinsam mit Partnern aus Unternehmen und Verwaltung die Veränderungsprozesse im Zuge der digitalen Transformation auf organisationsübergreifender Ebene. Was trockener klingt als es ist. Die Projektpartner arbeiten abseits ihres Tagesgeschäfts branchenübergreifend zusammen, tauschen sich aus, hinterfragen sich und probieren mit Verve neue Wege aus.

„ALLE im digitalen Wandel“ wurde Ende 2018 gestartet und läuft bis November 2021. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) fördert das Projekt mit 912.000 Euro; Eigenfördermittel stocken das Budget auf insgesamt 1,3 Millionen Euro auf. „Arbeitsorganisation, selbstgesteuertes lebenslanges Lernen und Veränderungskommunikation sind untrennbar miteinander verbunden – und zugleich Voraussetzung für das Gelingen der digitalen Transformation von Unternehmen und Verwaltungen.“ So lautet die Ausgangshypothese der Projektleiterinnen und -leiter der Fachbereiche Media und Wirtschaft der h_da, die im Forschungszentrum Digitale Kommunikation und Medien-Innovation (fz dkmi) zusammenarbeiten. „Die in unserer Hypothese genannten Themengebiete dienen uns als Ordnungsraster, sind aber an vielen Stellen eng verzahnt“, sagt Prof. Dr. Werner Stork, Professor für Organisation und Management am Fachbereich Wirtschaft und einer der Projektleiter. Diese Verschränkung veranschaulicht auch das dreieckige Projektlogo aus den Segmenten Arbeitsorganisation, lebenslanges Lernen und Veränderungskommunikation.

Techniken und Tools, Mindset und Interaktion

„Die Aufgaben und Ansatzpunkte liegen auf verschiedenen Ebenen“, sagt Werner Stork. Zum einen sind da die „äußeren Kompetenzfelder“: Inhalte oder Fähigkeiten, die sich verstehen oder aneignen lassen wie digitale Lese- und Schreibkompetenzen, neue Arbeitsmethoden und -umgebungen. Dazu werden im Projekt spannende Ideen, Techniken und Tools vorgestellt. Im Februar 2019 kamen die Teilnehmenden erstmals in großer Runde zusammen. Beim „Tool-Tag“ im Juni trafen sie sich im gerade erst eingeweihten „Innovation-Lab“, einem Experimentierraum auf dem Mediencampus Dieburg. Dort erarbeiteten sie gemeinsam, welches Werkzeug für sie wann, wie und warum passend ist.

Zwischen den großen Projekttreffen werden in Einzelgesprächen mit den Netzwerkpartnern Erwartungen abgeglichen, individuelle Problemstellungen und interne Projekte konkretisiert. „Wir glauben, es braucht heute statt fester Formate wie klassischen Schulungen eine Probier- und Testkultur des Lernens“, sagt Werner Stork. „Wenn man es auf diese Art erfährt und ausprobiert, versteht man besser – und kommt eher auf überraschende, aus dem Silo herausdenkende Lösungen.“ Schwerer beeinflussbar als die äußeren Kompetenzfelder sind die inneren Prozesse in Menschen und Organisationen. „Diese Ebene interessiert uns besonders“, erklärt Stork. „Um die großen Veränderungen bewältigen zu können, die Digitalisierung und künstliche Intelligenz mit sich bringen, braucht es zum Beispiel ein agiles Mindset, Resilienz, soziale Interaktion und die Bereitschaft zum lebenslangen Lernen.“

Das „agile Mindset“ – die „Einstellung des Denkens“, die grundsätzliche innere Haltung, Denk- und Herangehensweise – ist wiederum eng mit der sozialen Interaktion verwoben. „Wir sind beim neuen Arbeiten viel mehr auf Teamarbeit angewiesen, müssen sie aktiv suchen“, erklärt Stork. „Dazu müssen wir Vorgesetzten und Kolleginnen vertrauen und uns auf sie verlassen können.“ Gute Teamfähigkeit der Arbeitnehmer fruchte aber erst dann richtig, wenn auch die Arbeitgeber und Führungskräfte eine offene Kultur und Kommunikation pflegten, sagt Stork. Sie müssten eine gewisse Teamautonomie gewähren und eine Veränderungskommunikation praktizieren, die die Mitarbeitenden abholt. „Ob unsere Annahmen zutreffen, beforschen wir innerhalb des Projekts mit Befragungen und Untersuchungen“, erklärt Stork.

Wichtige Ressourcen vom fz dkmi

„Die Plattform, auf der wir uns getroffen und ausgetauscht haben, war das fz dkmi“, blickt Prof. Dr. Thomas Pleil auf die Anfänge des Projekts zurück. Pleil ist Professor für Public Relations, Sprecher des Forschungszentrums und einer der Projektleiter. Das fz dkmi, eines von vier Forschungszentren der h_da, erforscht Fragestellungen zur medialen, insbesondere der digitalen Kommunikation und integriert dazu Ansätze aus technischen, sozial- und gesellschaftswissenschaftlichen Fächern. „Wir haben dieses Projekt mithilfe der materiellen und personellen Ressourcen des fz dkmi gemeinsam auf den Weg gebracht und angeschoben“, sagt Pleil.

Dr. Götz Richter von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) in Dortmund begleitet das Projekt fachlich. Er ist die Schnittstelle zum BMAS. Das Projekt wurde als einer von 17 „Experimentierräumen“ im Rahmen der Initiative Neue Qualität der Arbeit (INQA) geschaffen. Als geschützte Umgebungen schaffen sie den Netzwerken Chancen zum gemeinsamen Reflektieren, Ausprobieren und Aneignen. „INQA-geförderte Projekte haben eine sozialpartnerschaftliche Philosophie und den Anspruch, nah an den betrieblichen Problemlagen zu sein“, erklärt Richter. „Sie vereinen die Beschäftigten- und die Arbeitgeber-Perspektive.“ Richter sind Selbstbestimmtheit und Mitbestimmung der Beschäftigten wichtig: „Wir sollten sie nicht als Werkzeuge wahrnehmen, sondern als Gestalter von Veränderung.“

In den von der h_da initiierten Experimentierraum wurden bewusst ganz unterschiedliche Partner eingeladen. Prominenteste Teilnehmerin ist die Merck KGaA (Darmstadt). Außerdem dabei: ein Hersteller von Notstromaggregaten (Kunzler Service GmbH, Maintal), ein Anbieter von E-Learning-Plattformen (Schenck.de AG, Mülheim an der Ruhr), ein Hersteller von Bildverarbeitungssystemen (Vitronic GmbH, Wiesbaden), eine auf Veränderungskommunikation spezialisierte Kommunikationsagentur (Fink & Fuchs AG, Wiesbaden) und der Kreisausschuss Darmstadt-Dieburg, das Verwaltungsorgan der Kreisverwaltung. „Im Projekt befassen sich alle aus ihrer jeweiligen Perspektive heraus mit dem Thema Digitalisierung und lernen gemeinsam – online und in Workshops oder Barcamps. Dabei schwingt immer die Frage mit, wie sie künftig arbeiten und zusammenarbeiten möchten“, sagt Prof. Dr. Pia Helferich. Sie lehrt Onlinekommunikation mit Schwerpunkt Organisationskommunikation am Fachbereich Media und ist die dritte Projektverantwortliche.

„Wir waren gespannt und etwas angespannt wegen der sehr verschiedenartigen Partner, Umfelder und Branchen“, verrät Pia Helferich. „Aber es passt. Alle kommen mit unveränderter Begeisterung zu den Treffen. Sie wollen den Austausch, weil sie spüren, dass es neue Lösungen braucht – und dass der Weg dorthin über Offenheit führt.“ Das gemeinsame Lernen im geschützten Raum funktioniere noch besser als erwartet, stellen Helferich und Stork nach einem Jahr Projektlaufzeit fest. Die Netzwerkpartner hätten sehr rasch Vertrauen entwickelt. Das ermögliche offenes Feedback und eine gesunde Fehlerkultur, die Scheitern erlaube.

Ein Neugier-Tag bei Merck

Das dritte Projekttreffen im November 2019 stand unter dem Tagesmotto „ALLE entdecken: Neugier“. Projektpartner Merck (siehe Infobox) hatte an den Stammsitz in Darmstadt eingeladen, 30 Teilnehmende waren gekommen. Bei Merck ist „Curiosity“ (Neugier) schon seit 2015 sehr präsent. Das Wissenschafts- und Technologieunternehmen hat unter anderem ein Experten-Netzwerk geknüpft und für die eigene Neugierstudie 2018 mehr als 3.000 seiner Mitarbeitenden befragt. Kurzfristiges Ziel: Hindernisse und Anreize für Neugier am Arbeitsplatz ermitteln. Mittelfristiges Ziel: die Neugier der eigenen Belegschaft fördern.

„Neugier ist ein wichtiger Erfolgsfaktor. Nur neugierige Unternehmen sind innovationsfähig!“ Das sagt Dr. Carl Naughton, der die Neugier-Initiativen von Merck begleitet. Der charismatische Engländer ist Wirtschaftspsychologe, ausgebildeter Schauspieler – und „Deutschlands führender Neugierforscher“. Beim Neugier-Tag füllt der gefragte Redner und Moderator gleich beide Rollen aus. Gemäß seinem Credo „Heiter denkt weiter“ erreicht er sein Publikum, indem er unterhält statt zu unterrichten. „Wir leben in einer Gesellschaft, die Sicherheit will. Sie will vorher schlauer sein als hinterher. Das ist kontraproduktiv“, sagt er. Naughton irritiert, inspiriert und aktiviert. Er liefert überraschende Erkenntnisse, geistreiche Denkanstöße und verblüffende Einsichten, garniert mit Anstiftungen zu geistigen Selbstversuchen. Sein heutiges Auditorium nimmt der Schnelldenker sofort für sich ein. Naughton leitet schlüssig her, dass wir evolutionär darauf gepolt sind, schnell Antworten auf Fragen zu finden. „Aber wir sollten vom Antwortenmodus in den Fragemodus schalten!“ Wie? Zum Beispiel mit „Question Storming“ statt Brainstorming – also Fragen statt Antworten sammeln.

„Offenheit für die Ideen anderer wird immer wichtiger, wenn wir vernetzt arbeiten“, bestätigt Naughton eine Grundannahme des Projekts. Eine Erkenntnis betont er besonders: „Es ist nicht so, dass wir unser Denken verändern und dann im zweiten Schritt das Handeln – sondern das Tun verändert das Denken!“ Naughton regt an, zeitweise in die Rolle des „Chief Destruction Officers“ zu schlüpfen, der auf Schwächen und Sollbruchstellen fokussiert. Oder sich einmal im „Never ever thinking“ zu versuchen, einer Technik gegen den „Das haben wir noch nie gemacht!“-Reflex. Dazu sollten Unternehmen sich fragen: Was würden wir bestimmt niemals tun, weil es kontraproduktiv und fahrlässig wäre? Sich über solche Techniken das vermeintlich Absurde vor Augen zu führen, könne helfen, unbewusste Denkbarrieren aufzuheben und auf neue Ideen zu kommen, sagt Naughton.

Via World Café auf Zeitreise

Nach der Mittagspause wird der frische Input beim „World Café“ sofort angewandt. Jetzt sind Kreativität und Vorstellungsvermögen gefragt. Die Arbeitshypothese katapultiert die Teilnehmenden ins Jahr 2030: „Wie hat der Faktor Neugier dazu beigetragen, dass Ihr Unternehmen heute zu den innovativsten und erfolgreichsten seiner Branche gehört?“ An vier Thementischen sollen Teilaspekte der Hypothese herausgearbeitet werden: lebenslanges Lernen, Führung, Kultur, Ausbildung. In den Raumecken werden auf Flipcharts die Ideen gesammelt. Jakob Bürkner, Maximilian Grund, Dr. Jochen Robes und Hannah Schürr moderieren den Prozess. Die vier wissenschaftlichen Mitarbeiter komplettieren das interdisziplinäre Team der h_da. Sie bringen ihre fachliche Expertise ein – zum Beispiel zu E-Learning, Resilienz oder Veränderungskommunikation – und kümmern sich um Projektmanagement und Öffentlichkeitsarbeit.

Das Format funktioniert: Bald wird lebhaft diskutiert und haben alle Teams schon die zweite und dritte Seite beschrieben. Und zwar im Fragemodus: „Wie können wir Neugier schon in der Ausbildung einen hohen Stellenwert geben?“, „Über welche Aktivitäten können wir die Entwicklung einer Kultur der Neugier stärken?“ oder „Sollte forschendes Lernen ein Leitmotiv in der Weiterbildung sein?“ Die anschließende Diskussion ergibt verblüffend große Schnittmengen zwischen lebenslangem Lernen, Führen und Neugier.

Christine Stock von Fink & Fuchs reflektiert ihre Erkenntnisse so: „Gerade bei konzeptionellem Arbeiten läuft man leicht in die Falle, die Wege zu gehen, auf denen man sich sicher fühlt. Stattdessen sollte man regelmäßig in den Fragemodus schalten.“ Hans Prillwitz von Kunzlerstrom sagt: „Sich auf Veränderung persönlich einzulassen, fällt leichter, wenn man solche Tools an der Hand hat. Ich habe mir vorgenommen, mir den Killersatz ‚Das geht nicht‘ abzugewöhnen.“ Und Tobias Schenck, Gründer und Vorstand von Schenck.de, lobt: „Ich bin begeistert vom Projekt! Vom offenen Austausch profitiert jeder Einzelne.“ Das Projekt wirke bereits in sein Unternehmen hinein: „Wir haben aus verschiedenen Abteilungen drei Mikroteams zusammengewürfelt. In denen loten wir aus, was Virtual Reality und künstliche Intelligenz für das Lernen bedeuten können.“ Die Ideen und Ergebnisse des Neugier-Tags fließen in die noch folgenden Treffen und Inhalte ein. Beim nächsten Projekttreffen im Mai steht dann „Veränderungskommunikation“ im Zentrum.

Autor

Daniel Timme
Februar 2020

Kontakt

Daniel Timme
Hochschulkommunikation
Tel.: +49.6151.16-37783
E-Mail: daniel.timme@h-da.de

Wandel à la Merck

An Merck zeigt sich, dass Geschichte und Größe nicht Unbeweglichkeit und Veränderungsfeindlichkeit bedeuten müssen. Jahrzehntelang war das Unternehmen auf die Rolle des Pharma- und Chemieanbieters abonniert. Heute versteht sich die Merck KGaA – weltweit etwa 55.000 Mitarbeiter und seit 2007 DAX-Konzern – als „führendes Wissenschafts- und Technologieunternehmen in den Bereichen Healthcare, Life Science und Performance Materials“. Diese zunächst auf Leitungsebene formulierte Selbstbeschreibung ist in das Selbstverständnis eingesickert. Das Portfolio umfasst heute unter anderem Biotechnologie und Genom-Editierung, spezialisierte Krebsmedikamente und Elektronikchemikalien für Mikroprozessoren. Bei Merck wurde früh erkannt, dass aktuelle Megatrends und disruptive Technologien einschneidende Veränderungen erfordern. Schon vor mehreren Jahren hat das Management dem Unternehmen deshalb einen Umbau verordnet. Merck trennte sich von Sparten, schuf neue.
Im Zuge des 350. Geburtstags des Unternehmens 2018 wurde eine Milliarde Euro in Um- und Neubauten am Stammsitz in Darmstadt investiert. Das Werksgelände wurde architektonisch zur Umgebung hin geöffnet. Größtes Projekt war das neue Innovation Center. Der großzügige, offene Bau ist zugleich das neue Entree des Standorts. Unter anderem finden hier Start-ups für begrenzte Zeit eine Heimat und erfahren Förderung, um ihre Ideen auszuarbeiten. Versuch und Irrtum wurden damit institutionalisiert. Über Darmstadt hinaus sichtbares Signal für den Merck-Wandel war der Wechsel des Logos, der eine kontroverse Diskussion auslöste. Von „gewöhnungsbedürftig“ über „gewagt“ bis „gescheitert“ lauteten die Urteile vieler Beobachter. Inzwischen haben sich Merckianer und Öffentlichkeit an die neue Identität gewöhnt. Das alte Logo wirkt wie aus der Zeit gefallen.