„Lust auf Leistung“

Der Wirtschaftspsychologe Ingo Hamm über erfüllende Arbeit in Zeiten der Digitalisierung, über die Kunst der Berufswahl – und darüber, was man in Sachen Job von der Fußball-Europameisterschaft lernen kann.

Interview: Kilian Kirchgeßner, 21.5.2024

impact: Herr Hamm, der Titel Ihres neuen Buchs – „Lust auf Leistung“ – klingt ja fast schon anachronistisch in einer Zeit, in der viele die 35-Stunden-Arbeitswoche fordern. Warum schwimmen Sie gegen den Zeitgeist?

Prof. Dr. Ingo Hamm: (lacht) Weil es mir am Herzen liegt, wieder eine Schaffensfreude auszulösen. Aber Vorsicht: Wenn man das platt ökonomisch betrachten würde – „Wir müssen halt alle wieder mehr arbeiten“ –, dann wäre es tatsächlich ein Anachronismus.

impact: Wie kann man es denn noch betrachten, wenn nicht ökonomisch?

Hamm: Ich bin Psychologe. Und wir alle bekommen mit, dass wir in unserer Gesellschaft viele Probleme haben; jeder erlebt in seinem Alltag eine ganze Menge von Dysfunktionalitäten, wo etwas nicht so läuft, wie es sein sollte. Und ich bin fest davon überzeugt, dass wir nicht auf irgendjemanden warten sollten, der diese Probleme für uns bewerkstelligt. Wir können nicht nur mosern, meckern, protestieren. Nein: Jeder hat die Möglichkeit, aber auch eine Verantwortung, selbst mit anzupacken. So können wir die Probleme in den Griff bekommen.

impact: Jetzt haben Sie die gesellschaftliche Perspektive gewählt. In Ihrem Buch geht es aber sehr stark auch um die psychologische Bedeutung von Arbeit…

Hamm: …und die ist extrem archaisch. Die Wahrnehmung der eigenen Wirksamkeit hängt damit zusammen, dass ich sehe, was ich zu leisten in der Lage bin. Dass ich am Abend anschauen kann, was ich mit meinen eigenen Händen geschaffen habe. Weil das heute immer weniger Leute können, befinden wir uns mit unserer modernen Gesellschaft einer Wirksamkeitskrise. Deren Wurzeln liegen schon Jahrzehnte zurück in der Automatisierung, in unseren Tagen kommt jetzt die Digitalisierung hinzu. In der Corona-Pandemie hat sich die Arbeit unheimlich flexibilisiert, und wir alle haben das am Anfang begrüßt: Wir denken, wir gewinnen im Homeoffice Freiheit und Freizeit. Dabei führt es vor allem zu einer professionellen Einsamkeit. Es wirken derzeit drei Phänomene zusammen; der Wirksamkeitsverlust, die gesellschaftliche Identitätskrise und die professionelle Einsamkeit. Und da fragen sich viele Menschen: „Verflixt, wo ist denn eigentlich der Sinn meiner Tätigkeit?“

impact: Moment: Zukunftsforscher haben doch prophezeit, dass irgendwann Roboter und Künstliche Intelligenz alle Arbeit übernehmen und wir Menschen im Sinne der Produktivität überflüssig sind. Sollten wir uns auf diese Aussicht nicht freuen?

Hamm: So eine arbeitsfreie Gesellschaft, die sich schon irgendwie selbst finanziert, halte ich für eine politische Utopie. Aus psychologischen Gründen halte ich sie überhaupt nicht für sinnvoll. Wir Menschen brauchen die Wirksamkeitserfahrung. Wir können nicht einfach den ganzen Tag in der Hängematte liegen und Cocktails schlürfen, das macht niemanden glücklich.

Zur Person

Ingo Hamm ist Professor für Wirtschaftspsychologie an der Hochschule Darmstadt. Nach seinem Studium der Psychologie und der Wirtschaftswissenschaften arbeitete er zunächst bei einer Unternehmensberatung und leitete anschließend bei einem Konzern internationale Projekte. 2015 wechselte er in die Wissenschaft. In seiner Forschung konzentriert er sich unter anderem auf die Zukunft der Arbeit. Als letztes ist von ihm das Buch „Lust auf Leistung – Wie wir Arbeit (wieder) lieben lernen“ erschienen.

impact: Die Entfremdung von der eigenen Arbeit wird ja schon diskutiert, seit Henry Ford das Fließband eingeführt hat. Warum kommen Sie mit Ihrem Buch gerade jetzt, gute 100 Jahre später?

Hamm: Das Interessante ist: Die Auswirkungen der Automatisierung wurden in den vergangenen Jahrzehnten ja immer wieder entschärft, gerade wegen solcher Debatten – durch die Einführung von Gruppenarbeit, durch teilautonome Arbeitsgruppen und andere Erkenntnisse aus der Arbeitspsychologie. Man hat also tatsächlich früh erkannt, dass Automatisierung in das psychologische Unglück führt. Interessanterweise gibt es genau diese Bemühungen um eine Balance im digitalen Bereich so gut wie gar nicht: Man bejubelt die Arbeitserleichterungen durch die KI, vergisst aber, dass der Mensch die Wirksamkeitserfahrung braucht, von der wir schon sprachen – und die ihm durch die Digitalisierung oft genommen wird. Aber es gibt noch einen Unterschied zwischen der Automatisierung und der Digitalisierung.

impact: Nämlich?

Hamm: Große Unternehmen haben schon vor mehr als hundert Jahren angefangen, einen Ausgleich für die negativen Effekte der Automatisierung zu schaffen. Denken Sie an die Freizeitangebote für Mitarbeitende: Betriebssportvereine, Feier- und Gesellschaftshäuser oder auch die Eisenbahnergärten, aus denen mittlerweile die Schrebergartenkolonien entstanden sind. Die Stärkung der Gemeinschaft, die Sinnstiftung stand da als Motivation dahinter. Etwas Vergleichbares findet jetzt bei der digitalen Revolution kaum statt.

impact: Sie verwenden in Ihrem Buch das Wort „Werkstolz“. Kann es einen solchen Stolz auf die Ergebnisse der eigenen Arbeit in unserer arbeitsteiligen Gesellschaft überhaupt noch geben – oder müssten wir dafür nicht alle Tischler werden mit eigener kleiner Werkstatt?

Hamm: Der Werkstolz ist ja nicht allein Handwerker:innen vorbehalten. Bei Pflegekräften oder Medizinerinnen und Medizinern zum Beispiel findet man – trotz des extrem harten Klinikalltags und endlos langen Schichten – oft einen Stolz auf ihre Arbeit: darauf, dass sie etwas bewirken, dass sie Menschen heilen. Und andere holen sich den Werkstolz in ihrer Freizeit, indem sie für die Kinder ein Baumhaus bauen oder im Ehrenamt beim Technischen Hilfswerk oder im örtlichen Anglerverein anpacken.

impact: Aber genau davor warnen Sie doch in Ihrem Buch: dass man versucht, die Erfüllung ins Private auszulagern und seine Stunden im Büro nur noch absitzt.

Hamm: Im idealen Fall vermittelt der Beruf Erfüllung, da haben Sie recht. Der erste Schritt dazu ist die Selbsterkenntnis: Was sind eigentlich meine natürlichen Kompetenzen? Jeder Mensch hat eine Art von Urtätigkeiten, die einem liegen. Früher gab es mal eine hervorragende Berufsberatung, in der tatsächlich diese Diagnostik an erster Stelle stand – die Selbsterforschung, was man von Kindesbeinen gut gemacht hat, womit man sich gern beschäftigt hat. Ist es etwas Handwerkliches, etwas Sportliches? Liegt es im Umgang mit Menschen? Dazu gibt es in der Psychologie eine Definition von 17 Urtypen. Sich selbst genau zu befragen, bevor man sich für einen konkreten Studiengang, eine Ausbildung oder eine bestimmte Karriere entscheidet, ist unheimlich wichtig.

impact: Dieser Rat betrifft ja vor allem junge Leute am Anfang ihres Berufslebens. Was aber, wenn jemand mit 40 oder 50 feststellt, dass er in einem völlig falschen Job gelandet ist?

Hamm: Es gibt da diese phantastischen Geschichten von einer Top-Managerin, die frustriert hinschmeißt und als Schäferin mit eigener Herde ihre Erfüllung findet – solche Geschichten faszinieren unheimlich viele Leute. Aber nur die wenigsten sind ökonomisch so gut abgefedert, dass sie sich solch einen radikalen Schnitt leisten können. Deshalb rate ich dringend davon ab, solche Traumbilder zu jagen.

impact: Also lieber resignieren?

Hamm: Nein, das ist nicht die Alternative! Jeder sollte erstens die Analyse nachholen, was ihm eigentlich besonders gut liegt. Ein zweiter Schritt könnte dann das sogenannte Job-Crafting sein: Schauen Sie mit Ihrem Arbeitgeber zusammen, wie Sie an Ihrem bestehenden Job so herumschrauben können, dass er Ihnen besser liegt. Was können Sie im Alltag verändern, im Arbeitsablauf, bei den übertragenen Kompetenzen? Es geht also darum, den Arbeitsplatz besser auf die eigenen Bedürfnisse auszurichten. Da lässt sich oft unheimlich viel erreichen, ohne dass man radikale Schritte geht. Studien belegen eindrucksvoll, wie hilfreich dieses Job-Crafting sein kann.

impact: Sie selbst haben ja Ihre Karriere bei der Unternehmensberatung McKinsey begonnen, die nicht gerade für eine 35-Stunden-Woche bekannt ist. Was haben Sie dort über die Arbeit gelernt?

Hamm: Ich sehe da eine Parallele zu Leistungssportlern: Die können ihre Spitzenleistungen nur dann bringen, wenn sie hart trainieren, Durchhaltevermögen zeigen, wenn sie lernbereit sind, wenn sie auch mal Umwege gehen. Wenn jetzt in diesen Tagen die Fußball-Europameisterschaft beginnt, werden wir wieder erleben, wieviel Identität, Stolz und Freude man aus solchen Spitzenleistungen schöpfen kann.

impact: Sie reden von Flow-Erlebnissen.

Hamm: Genau, vom absoluten Aufgehen in einer Tätigkeit. Das haben viele Menschen beim Sport, wenn sie für den Halbmarathon trainieren oder sich beim Surfen selbst ganz vergessen auf den Wellen. Aber auch aus der Musik kennen wir einen solchen Flow, beim Klavierspielen oder beim Auftritt mit der Band.

impact: Und wie sieht’s in der Arbeit aus – was bringt Sie persönlich als Wissenschaftler in den Flow?

Hamm: Natürlich gibt’s den Flow auch in der Arbeit! Bei mir selbst ist es das Schreiben: Ich kann stundenlang sitzen und mich mit Texten beschäftigen. Auch im Hörsaal, in Seminarräumen oder bei Vorträgen und Workshops komme ich beruflich in den Flow. Das ist übrigens auch der Grund, warum ich mich entschieden habe, nicht in der Unternehmensberatung weiterzumachen oder eine Konzern-Karriere anzustreben: Hier an der Hochschule habe die Möglichkeit gefunden, eine meiner Passionen zum Beruf zu machen.

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