Nachhaltigkeit im Alltag aktiv leben und gleichzeitig das Gewohnheitstier in uns nicht überstrapazieren. Geht das? Ja, behauptet h_da Masterabsolventin Lisa Mattis und tritt mit ihrem ursprünglichen Masterprojekt, dem Online-Portal „Wandelbares Darmstadt“, den Beweis an. Die Plattform ist mittlerweile auch Seminarbestandteil im Studiengang Onlinejournalismus der h_da.
Ein herbsttrüber Mittwochmorgen, kurz vor 10 Uhr. Noch ist es ruhig auf den Gängen des zweistöckigen Container-Ensembles am Rande des h_da Mediencampus‘ Dieburg. Doch dann kommt Leben in Seminarraum 105. Das 15-köpfige Redaktionsteam von „Wandelbares Darmstadt“ trudelt ein. Bewaffnet mit Laptops, Büchern und: Thermokaffeebechern – ein erster Hinweis auf das Thema um das es gleich gehen wird. Nachhaltigkeit. Nach einer kurzen organisatorischen Einführung beginnt die Redaktionssitzung mit der Themenkonferenz. Nachhaltige Banken, Kleidertauschparty, Wochenmärkte, Fahrradfahren im Winter. Reihum informieren die Redaktionsmitglieder zu ihren Themen, erläutern Inhalt und Status ihrer Recherchen. Redaktionsleiterin Anna Kuschezki wacht über den Redaktionsplan, klärt Deadlines und Timings. Annas eigener Beitrag soll ein Feature zu Wochenmärkten in Darmstadt und Umgebung werden. Sie steckt bereits mitten in der Recherche und hat schon einen konkreten Plan zu Inhalt und Aufbau des Beitrags. Wer soll interviewt werden, welche Fotos sollen den Beitrag flankieren? „Man könnte doch bei den Händlern nachfragen, was mit den Nahrungsmitteln passiert, wenn der Markt zu Ende ist“, wirft Kollegin Elma Placo ein. Bestätigendes Nicken aus der Runde.
Was sich nach einem routinierten Redaktionsmeeting anhört, ist für viele der Beteiligten noch Neuland. Die Anwesenden sind Studierende im dritten Semester des Bachelorstudiengangs Onlinejournalismus. Die Redakteurinnen und Redakteure von morgen sammeln in dieser Lehrredaktion erste Praxiserfahrungen. Dreh- und Angelpunkt ist dabei das Online-Portal „Wandelbares Darmstadt“, das Dozentin und h_da-Absolventin Lisa Mattis für ihre Masterarbeit entwickelt hat. Die Website stellt Geschäfte, Institutionen, Projekte, Initiativen und Menschen vor, die im Kontext nachhaltiger Entwicklung engagiert sind.
(Land-)Karte im „Nachhaltigkeitsdschungel“
Den ersten Impuls für ihr späteres Projekt setzt der Job als Flugbegleiterin, der Lisa Mattis nach dem Abitur quer über den Globus führt: „Ich habe in meinem Job viel von der Welt gesehen – und dabei auch begriffen, dass es uns in Deutschland sehr gut geht und wie schützenswert die Natur ist. Das hat mir die Augen auch für mein eigenes Verhalten geöffnet.“ Als „Öko-Junkie“ würde sich Lisa Mattis jedoch nicht beschreiben. Bei Wind und Wetter nimmt sie aus Bequemlichkeit lieber das Auto als das Fahrrad. Und Reisen – auch per Flugzeug – gehört zu ihren Leidenschaften. Ein Profil, in dem sich viele wiedererkennen können. Ein ökologisch bewusstes Leben mit modernen Annehmlichkeiten in Einklang zu bringen, ist für sie dennoch kein Widerspruch.
Bevor ihr Weg sie 2017 an die h_da führt, absolviert Lisa Mattis ein Publizistik-Studium in Mainz und arbeitet sechs Jahre als freie Social-Media-Managerin. Das Fliegen gibt sie dennoch nicht auf, „einfach um Geld zu verdienen“, wie sie sagt. Im viersemestrigen Masterstudiengang Medienentwicklung am Fachbereich Media kann sie ihre konzeptionelle Stärke unter Beweis stellen. In ihrer Masterthesis – betreut durch Professor Dr. Torsten Schäfer und Professor Dr. Lorenz Lorenz-Meyer– entwickelt sie ein Konzept, um Nachhaltigkeit alltagstauglicher zu machen.
Ein Thema, das in den Medien und den Köpfen der Menschen immer präsenter ist. Dennoch hätten viele immer noch das Gefühl, nachhaltig zu leben sei kompliziert und mit Einschränkungen verbunden. „Ich habe eine Art ‚Nachhaltigkeitsverdrossenheit‘ um mich herum wahrgenommen, der ich etwas entgegensetzen wollte“, erläutert Lisa Mattis ihre Entscheidung. Ihre Idee: Ein Webportal, das über Nachhaltigkeitsaktivitäten in Darmstadt informiert, Hemmschwellen abbaut und es Bürgerinnen und Bürgern erleichtert, Nachhaltigkeit in den Alltag zu integrieren. Daraus entstanden ist schließlich in Kooperation mit der Initiative Transition Town Darmstadt das Non-Profit-Projekt „Wandelbares Darmstadt“. Herzstück des Portals ist der Darmstadt-Ausschnitt der „Karte von morgen“, auf der auch die von Transition Town und Weltladen Darmstadt entwickelte „Wandelkarte Darmstadt“ basiert. „Ich hatte zunächst die Befürchtung, dass meine Idee bereits realisiert sein könnte und tatsächlich hat die Wandelkarte, die übrigens zeitgleich entstand, einen ähnlichen Ansatz“, erinnert sich Lisa Mattis. „Doch als ich dort anfragte, war schnell klar, dass sich beides gut ergänzt. So kam auch die Kooperation zustande.“ Sehr wertvoll sei daneben auch der Input ihrer betreuenden Professoren gewesen. „Ich war zwar sehr selbstständig unterwegs, habe mich aber immer sehr individuell und gut betreut gefühlt. Das kreative Mitdenken und die große Praxiserfahrung von Professor Dr. Schäfer und Professor Dr. Lorenz-Meyer waren extrem hilfreich“, resümiert Lisa Mattis.
Mit kleinen Schritten ans Ziel
Dass nicht jeder in jeder Hinsicht ökologisch unterwegs sein kann, ist Lisa Mattis bewusst. „Ich bin Realistin genug, um zu wissen, dass nicht jeder gleich sein Leben umkrempeln, auf das Auto verzichten, nie wieder fliegen und nur noch im ‚Unverpacktladen‘ einkaufen wird“, reflektiert Lisa Mattis. „Ich möchte auch nicht missionieren, sondern aufzeigen, dass Nachhaltigkeit keine Entweder-oder-Entscheidung sein muss.“ Ob Bauernmärkte, öffentliche Bücherschränke, Secondhandläden oder Foodsharing – „Wandelbares Darmstadt“ informiert und zeigt Wege auf, wie ökologisch bewusster Konsum leicht in den Alltag zu integrieren ist. Lisa Mattis ist überzeugt: „Wenn jeder das tut, was er kann, ist schon einiges getan. Denn auch die kleinen Schritte zählen und können in ihrer Gesamtheit mehr bewegen als einzelne große Gesten.“ Dem trägt auch ein weiterer Aspekt des Portals Rechnung: Es lädt zum Partizipieren ein und lebt von den Informationen, die Bürgerinnen und Bürger miteinander teilen. So kann man beispielsweise zu einzelnen Kategorien wie Einkaufen, Essen und Trinken, Bewegen oder Erleben persönliche Tipps und Hinweise listen. Im zum Portal gehörigen Wandel-Blog erzählt Lisa Mattis zudem die Geschichten, die hinter den Initiativen stehen. Auch hier können Engagierte, als Teil des ehrenamtlichen Redaktionsteams, ihren Beitrag zum Wandel in Darmstadt leisten.
Nachhaltige journalistische Stimmen fördern
Wesentlich zur Lebendigkeit des Wandel-Blogs tragen derzeit die Studierenden des Bachelor-Studiengangs Onlinejournalismus im Rahmen der Lehrredaktion bei. Als Initiatorin des Portals, das die Grundlage der Lehrredaktion bildet, hat Lisa Mattis seit diesem Semester hier die Lehraufgabe übernommen. „Das ist eine ganz neue Erfahrung für mich und macht wahnsinnig viel Spaß!“ Den Impuls dazu gab Professor Dr. Torsten Schäfer. „Die Studierenden können hier echtes Redaktionsgeschehen vor dem Hintergrund angewandter umweltjournalistischer und klimakommunikativer Forschung und Entwicklung trainieren“, so Schäfer. Dies zahle überdies auf ein wichtiges Ziel der h_da ein: die journalistische Sicht auf den Begriff der Nachhaltigkeit zu verändern und das Potenzial neuer Geschichten und Themen wie zum Beispiel das der Digitalisierung aufzuzeigen. Hierbei seien, gerade in der Digitalstadt Darmstadt, unabhängige journalistische Stimmen gefragt.
Die Lehrredaktion setzt daher voll auf praktisches Erleben und verzichtet ganz auf Frontalunterricht. „Mir ist wichtig, dass die Studierenden sich in einem geschützten Raum ausprobieren können. Sie sollen hier und nicht zu Hause an ihren Beiträgen arbeiten, wo sie auch Fragen stellen können“, so Lisa Mattis. Neben journalistischem Schreiben will sie auch an das Thema Arbeitsorganisation heranführen sowie Unterschiede und Vorteile der Vor-Ort-Arbeit in einer Präsenzredaktion und dem selbstbestimmten Arbeiten im Sinne des New Work vermitteln.
Freies Arbeiten mit Veröffentlichungsgarantie
Ein weiterer Mehrwert: Jeder Beitrag, den die Studierenden im Laufe des Semesters zu einem selbstgewählten Thema für den „Wandel-Blog“ erstellen, wird auch – anders als in Lehrredaktionen bisher üblich – nach Abstimmung mit Lisa Mattis veröffentlicht. Wie sie sich dabei organisieren, ist den Studierenden selbst überlassen. „Dass wir hier frei arbeiten können und uns auch die Zeit selbst einteilen, ist eine Herausforderung, macht aber in der guten Atmosphäre hier auch sehr viel Spaß“, sagt Rosalie Spengler, die gemeinsam mit ihren Studienkolleginnen Laura Gil und Elma Placo zum Secondhandshop Pompadour, dem nachhaltigen Restaurant EinFach und der App „Too good to go“ recherchiert. „Trotzdem sind wir nicht auf uns allein gestellt. Lisa gibt uns beispielsweise hilfreiche Tipps zu Recherche und dem Führen von Interviews.“ Alle drei haben bisher wenig und meist theoretische Vorerfahrung mit redaktionellem Arbeiten und schätzen daher die Möglichkeit, sich hier intensiv mit einem Thema zu beschäftigen. Das hat auch einen weiteren Effekt, wie Kollegin Laura ergänzt: „Die Auseinandersetzung mit nachhaltigen Themen hat auch meine Einstellung verändert. Ich kaufe zum Beispiel noch bewusster ein und nehme meine Rolle als Multiplikatorin stärker wahr.“
Ein paar Tische weiter ist Annalena Barnickel gerade mit der Pflege des Veranstaltungskalenders beschäftigt, der alle Events in und um Darmstadt auflistet, die sich um das Thema Nachhaltigkeit drehen. Sitznachbarin und Redaktionsleiterin Anna fasst ihre ersten Erfahrungen zusammen: „Neben der praktischen Recherche und Texterstellung habe ich herausgefunden, dass Organisieren zu meinen Stärken gehört. Daher habe ich mich auch für die Rolle der Redaktionsleitung gemeldet. Das sind wichtige Erkenntnisse im Hinblick auf meinen späteren Berufsweg.“
Neben der Redaktionsleitung gibt es noch eine weitere Sonderrolle. So hat die Redaktion mit Jacqueline Burggraf und Simon Schönfeld ihr eigenes Social-Media-Team. Ihre Aufgabe: mit geteilten Eigen- oder Fremdbeiträgen zum Thema Nachhaltigkeit und selbstentwickelten Instagram-Storys Traffic auf die Seite bringen. „Ich würde den Output der Lehrredaktion als Win-win-Situation beschreiben“, so Lisa Mattis. Die Studierenden sammelten wichtige Erfahrungen und könnten bereits erste Beiträge veröffentlichen, sich ein Portfolio erarbeiten. Zudem erhielten sie nicht nur Feedback in Form von Noten, sondern echte Leserreaktionen. Zum anderen lebe das Portal durch den Content der Studierenden weiter. „Das ermöglicht es mir, mehr Zeit in den Ausbau weiterer Kooperationen und die Aktivierung unserer Social-Media-Kanäle zu investieren“, freut sie sich.
Wie geht es weiter?
„Wandelbares Darmstadt“ begreift die Initiatorin als ihre Form des ehrenamtlichen Engagements. Daher soll die Plattform auch weiterhin ein Non-Profit-Projekt bleiben. Denn nur so könne man letztendlich auch Authentizität bewahren. Derzeit arbeitet sie an Kriterien, um Unternehmen und Initiativen, die Greenwashing betreiben – sich also „grüner“ geben als sie sind – zu identifizieren. Das soll helfen, zukünftig noch besser prüfen zu können, ob die Angebote auch wirklich nachhaltig sind. „Neben den Beiträgen unserer Studierenden, lebt die Plattform vor allem vom Input vieler Darmstädterinnen und Darmstädter. Die Resonanz ist bisher sehr positiv“, freut sich Lisa Mattis. Und das will „Wandelbares Darmstadt“ auch weiterhin sein: Sprachrohr für nachhaltige Ideen und Partizipationsplattform, die zum Mitmachen einlädt. Und die Lehrredaktion? Sie ist erst einmal nur für das aktuelle Semester geplant. Über eine Fortführung im Lehrkontext „Nachhaltigkeit und Digitalisierung“ wird jedoch nachgedacht.