„Lernprozesse sind das, was bleibt“

Wissenschaft spielt sich im Elfenbeinturm ab? Ein Transferprojekt mit der Gemeinde Fischbachtal widerlegt dieses abgegriffene Klischee. Die mit knapp 3.000 Einwohner*innen kleinste Gemeinde des Landkreises Darmstadt-Dieburg liegt eine halbe Autostunde von Darmstadt entfernt im vorderen Odenwald. Fischbachtal ist ländlich, beschaulich – und vorbildlich! Ende September hat die Gemeindevertretung einstimmig beschlossen, ihre Bauleitplanungen neu auszurichten – mithilfe der „Toolbox klimafreundliche Bauleitplanung“. Die ist ein Ergebnis der Zusammenarbeit mit einem Team der h_da – aber nicht das einzige. Im impact-Interview spricht Prof. Dr. Birte Frommer, Professorin für Raum- und Umweltmanagement, über das Projekt und einen Prozess mit Leuchtturmcharakter.

Interview: Daniel Timme, 22.11.2024

impact: Frau Frommer, wie kam es zu dieser Zusammenarbeit?

Prof. Dr. Birte Frommer: Während des Corona-Lockdowns 2020 hatte uns Philipp Thoma, der Bürgermeister von Fischbachtal, im Rahmen eines studentischen Projekts ein Interview gegeben. Als die Gemeindevertretung dann Ende 2020 beschlossen hat, einen „Leitfaden für eine klimafreundliche Bauleitplanung“ zu entwickeln, kam er auf die Idee uns dazuzuholen.

impact: In welcher Form?

Frommer: In einem Telefonat im Januar 2021 habe ich Philipp Thoma davon abgeraten, Kriterien und Instrumente des Leitfadens von einem Planungsbüro ausarbeiten zu lassen. Da wäre wohl eine Hochglanzbroschüre herausgekommen. Aber wenn die Menschen in Politik und Verwaltung nicht daran mitwirken, es nicht verstehen und es keinen Prozess für die Umsetzung gibt, wäre das verschwendetes Geld gewesen. Also haben wir einen alternativen Plan entwickelt. Ein Bestandteil war fachlicher Input aus der Hochschule. Der andere war die Einrichtung eines fraktionsübergreifenden Arbeitskreises, um die Gemeindevertretung einzubinden.

impact: Wer war seitens der h_da noch beteiligt?

Frommer: Prof. Dr. Anja Hentschel vom Fachbereich Gesellschaftswissenschaften war eng eingebunden und in unserem interdisziplinären Team sehr wertvoll. Als Spezialistin für Umwelt- und Energierecht kennt sie die Auslegung von Gesetzen in der Praxis. Eine wichtige Säule war Iris Behr, unsere wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Bau- und Umweltingenieurwesen. Sie ist unheimlich erfahren in kommunalen Angelegenheiten, ist selbst ehrenamtliche Stadträtin und hat ein großes politisches Netzwerk. Und dann haben – zeitversetzt, teilweise überlappend – unsere drei Studierenden Sina Wilhelm, Lea Kallendrusch und Artem Schewtschenko enorm viel Arbeit geleistet und sich sehr mit der Aufgabe identifiziert.

impact: Gehörten Sie auch dem fraktionsübergreifenden Arbeitskreis an?

Frommer: Wir tun es noch! Der Arbeitskreis hat zwischen zwölf und 14 Mitglieder, darunter der Bürgermeister, der Erste Beigeordnete und der Leiter des Umweltamtes. Jede der vier Fraktionen der Gemeindevertretung entsendet ein Mitglied. Unsere Studierenden haben jeweils mindestens für die Dauer ihrer Bachelor- und Masterthesen mitgewirkt. Anja Hentschel, Iris Behr und ich sind durchgehend dabei.

Zur Person

Birte Frommer lehrt und forscht seit 2014 am Fachbereich Bau- und Umweltingenieurwesen der h_da, wo sie die Professur für Raum- und Umweltmanagement innehat. Frommer hat Geographie, Geologie und Landschaftsplanung an der TU Darmstadt und der Goethe-Universität Frankfurt studiert. Ehe sie an die h_da gewechselt ist, hat sie unter anderem im Planungsbüro „Infrastruktur & Umwelt“ gearbeitet. Derzeit forscht Birte Frommer unter anderem im Verbundprojekt „Governance der Gebäudemodernisierung in kleinen und mittleren hessischen Kommunen“ (Januar 2023 bis Februar 2025).

impact: Wie lief die Zusammenarbeit ab?

Frommer: Sina Wilhelm hat ab Sommer 2021 im Rahmen ihrer Masterarbeit den „Leitfaden zur klimafreundlichen Bauleitplanung“ entwickelt. Den haben wir bei vier Arbeitskreistreffen diskutiert, bis wir im Januar 2022 die abgestimmte Version hatten. Aber wir wollten das noch greifbarer machen. Also haben wir dem weitere Bachelor- und Masterarbeiten gewidmet und unsere Toolbox entwickelt. Der Arbeitskreis wurde weitergeführt – und das brachte für alle große Lerneffekte.

impact: Welche zum Beispiel?

Frommer: Die Studierenden mussten raus aus ihrer Komfortzone. Rein fachlich war klar, was Sache ist. Aber sie mussten das jetzt den Entscheidungsträger*innen erklären und an den kommunalpolitischen Abwägungsprozess andocken. Manche Mitglieder der Gemeindevertretung hatten das Aha-Erlebnis: ‚Wir können massiv steuern – müssen uns aber überlegen, wie viel wir vorgeben wollen.‘

impact: Worin besteht der politische Abwägungsprozess?

Frommer: Die Klimafreundlichkeit der Bauleitplanung ist nur ein Belang. Das Feld ist viel breiter. Es geht zum Beispiel auch um die technische und die soziale Infrastruktur. Da gibt es Zielkonflikte. Die Gemeindevertretung muss die verschiedenen Belange gerecht gegeneinander abwägen.

impact: Was hat es mit der Toolbox auf sich?

Frommer: Das sind zunächst fünf Tools, die helfen, klimafokussierte Ziele als Basis der Bebauungsplanung zu definieren. Dieser Werkzeugkasten lässt noch Platz für neue Instrumente: Die Kriterien sind erweiterbar – zumal sich technische und rechtliche Vorgaben ändern. Tool 1 dient der Zielfindung. Tool 2 untersucht die Rahmenbedingungen. Tool 3 ist das Herzstück: der Festsetzungskatalog. Tool 4 ist der ursprünglich entwickelte Leitfaden mitsamt einer Checkliste, das hilft vor allem beim Vergleich von Varianten. Tool 5 bezieht sich als Wirkungsanalyse zurück auf Tool 1.

impact: Dann fangen wir doch mal vorne an...

Frommer: Tool 1 enthält eine nicht abschließende Liste von 15 Stellschrauben für eine klimafreundliche Bauleitplanung. Das sind zum Beispiel: Anpassung an Extremwetterereignisse, Reduktion des Wärmeinseleffekts, Förderung klimaneutraler Energieträger oder die solaroptimierte Ausrichtung von Gebäuden.

impact: Man trifft also Festlegungen für das zu beplanende Gebiet?

Frommer: Genau. Und das speist man in Tool 3 ein, den „Interaktiven Festsetzungskatalog für B-Pläne“. Den hat Artem Schewtschenko in seiner Bachelorthesis entwickelt und dazu fleißig recherchiert und ausgewertet. Das Tool clustert sechs Haupthandlungsfelder: Wasserhaushalt, Energie, Bebauungsstruktur und Gebäudekonfiguration, Großflächige Grünstrukturen und Freiflächen, Kleinteilige Grünstrukturen sowie Verkehr. Dann dekliniert es Teilhandlungsfelder, Festsetzungsmöglichkeiten, Rechtsgrundlagen und Wirkungen durch. Mit diesem Excel-basierten Tool können Entscheidungsträger*innen und Planende verschiedene Maßgaben durchspielen. Es macht die Auswirkungen sichtbar und liefert Formulierungsvorschläge aus der Praxis.

impact: Okay, das geht deutlich über einen Leitfaden hinaus…

Frommer: Ja, Artem Schewtschenko hat die Toolbox in einem Masterprojekt zu dem weiterentwickelt, was sie jetzt ist. Trotzdem hatten wir Anfang dieses Jahres das Gefühl, wir müssten das noch besser vorbereiten. Wir wollten, dass die Nützlichkeit der Instrumente gesehen wird. Es wäre jammerschade gewesen, einen so tollen Prozess aufzusetzen, der dann nicht mitgetragen und beschlossen wird. Wir hatten die Idee, die Tools im Arbeitskreis bei einem Planspiel gemeinsam auszuprobieren. Wir wollten zeigen, dass die Toolbox die Entscheidungsfreiheit nicht einschränkt, sondern die Entscheidungsfindung begleitet.

impact: Ist Ihnen das gelungen?

Frommer: Das Planspiel im Juni war richtig gut – ein Schlüsselmoment. Wir haben mithilfe der Toolbox ein Neubaugebiet beplant. Die Kommunalpolitiker*innen haben uns zurückgemeldet: ‚Zum ersten Mal durften wir von Anfang an überlegen: Was soll da hin? Und welchen Einfluss haben unsere Ideen auf den entstehenden Plan?‘ Bisher bekam die Gemeindevertretung einen Planentwurf auf den Tisch, über den sie abstimmen durfte. Die Planung ist dann schon so weit gediehen, dass man nicht mehr viel beeinflussen kann. Der jetzige Grundsatzbeschluss bedeutet einen Paradigmenwechsel. Die Politik kommt nun viel früher ins Spiel. Das Planspiel hat erlebbar gemacht, was das konkret bedeutet und wie die Tools wirken.

impact: Leitfaden und Tools zielen auf neue Baugebiete. Was ist mit dem Bestand?

Frommer: Lea Kallendrusch hat sich in ihrer Masterthesis dem Bestand gewidmet und auch das ausgearbeitet. Das Instrument für die bestehende Bebauung wäre eine Gestaltungssatzung; die gibt es in Fischbachtal noch nicht. Der Arbeitskreis hat sich ein halbes Jahr lang damit befasst, verfolgt das aber zunächst nicht weiter. Eine Gestaltungssatzung ist ein mächtiges Instrument, das sehr große Potenziale haben kann – aber auch viel Konfliktpotenzial.

impact: Ist Ihr Job in Fischbachtal damit getan?

Frommer: Der einstimmige Grundsatzbeschluss der Gemeindevertretung Ende September war die Bestätigung unserer Arbeit, ein großer Moment für uns alle. Aber das Projekt ist damit nicht abgeschlossen, im Gegenteil! Unsere Toolbox wird jetzt erstmals auf das Neubaugebiet Teichäcker III in Niedernhausen angewendet. Das ist das Gebiet, für das Sina Wilhelm die Testplanung gemacht hatte und das wir im Planspiel beplant haben. Jetzt wird umgesetzt, was wir gemeinsam erarbeitet haben – das ist toll! Das beauftragte Planungsbüro arbeitet entlang der Vorgaben, die mit den Tools erstellt wurden. Der Arbeitskreis wird das Planungsbüro in die Toolbox einführen und es ab Dezember bei der Anwendung im Bauleitplanverfahren aktiv begleiten. So lernen die Planer*innen die Toolbox genau kennen – und die Politiker*innen im Arbeitskreis erleben durch die Zusammenarbeit den Praxischeck.

impact: Lassen sich die Tools auch in anderen Städten und Gemeinden einsetzen?

Frommer: Ja, die Toolbox als Instrumentenkasten ist generell anwendbar. Mehrere Kommunen aus der Region haben bereits Interesse signalisiert. Wir führen schon Gespräche und sind sicher, dass man das in der Fläche ausrollen kann. Auch ein gut gemachtes Planspiel hätte Potenzial. Es gibt auch schon Ideen, das inhaltlich noch auf andere Fachgebiete auszudehnen und instrumentell weiterzudrehen.

impact: Vier Jahre intensive Zusammenarbeit – wie sehen Sie das Verhältnis von Aufwand und Ertrag?

Frommer: Ein solches Projekt sollte man nicht nur unter den üblichen Kriterien der Forschungsbewertung betrachten. Schauen wir auf die Lernprozesse, ist es ein erfolgreiches, wertvolles Projekt, das unseren Transferauftrag als Hochschule erfüllt. Es ist so viel Fachwissen vorhanden – aber es wird zu selten angewendet! Mit solchen Prozessen über einen längeren Zeitraum transportieren wir dieses Wissen und machen es verständlich. Ich denke, dass wir auf Basis dessen, was wir erarbeitet haben, bei anderen Kommunen nun schneller ins Handeln kommen. Aber auf der kommunalen Ebene braucht so etwas seine Zeit – alleine schon wegen der Gremienzyklen. Und der Prozess muss sich einschleifen. Ich bin überzeugt: Alleine Tools und Inhalte führen nicht ans Ziel – die Lernprozesse sind mindestens so wichtig. Das ist das, was mit Menschen passiert und das, was bleibt.

Kontakt zur h_da-Wissenschaftsredaktion

Christina Janssen
Wissenschaftsredakteurin
Hochschulkommunikation
Tel.: +49.6151.533-60112
E-Mail: christina.janssen@h-da.de

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