Die Lippen des kosmischen Kumpels

Wenn CIMON, der schwebende Helfer der Astronaut:innen, in wenigen Tagen an der Seite von Matthias Maurer per Rakete ins All katapultiert wird, ist das auch für einige Designer der h_da ein erhebender Moment. Augen, Mund und Mimik des KI-gestützten kugelförmigen Roboters haben Prof. Christian K. Pfestorf und eine studentische Projektgruppe entwickelt und gestaltet. CIMON wird Maurer bei der Mission „Cosmic Kiss“ auf der internationalen Raumstation ISS unterstützen.

In Durchmesser und Gewicht gleicht er einem Medizinball. Das war’s dann aber auch mit den Gemeinsamkeiten. Denn Mensch muss ihn nicht mühsam bewegen – und sollte ihn tunlichst nicht werfen. Wozu kann er schließlich schweben? Und sehen, hören, sprechen, verstehen, autonom navigieren und … war noch was? Ach ja: denken. Gestatten, CIMON. Beruf: Astronaut:innen-Assistent oder: „Crew Interactive Mobile CompanioN“. CIMON ist geballte High-Tech. Und einige Gestalter der h_da haben ihren Anteil an seiner kometenhaften Karriere.

Schon 2018 bei Alexander Gersts zweiter Raumfahrtmission „Horizons“ war der fliegende Astro-Assi als Technologie-Demonstrator an Bord, quasi als Azubi. Ein Video zeigt, wie der frühe CIMON sich mit Gerst unterhält, auf dessen Order hin im Raum bewegt und die schwebende Musikbox gibt. Bei „Cosmic Kiss“, der Anfang November startenden ersten Mission des Deutschen Matthias Maurer, wird CIMON-2 die Crew bei Experimenten unterstützen. Er soll etwa Oberflächen untersuchen und deren Strukturen erkennen; Hintergrund ist die Erforschung neuer antimikrobieller Oberflächen.

Eine Mimik, die sich auch Taubstummen erschließt

Die Evolution des KI-gefütterten CIMON zum Assistenzsystem und vollwertigen Gesellen gründet nicht zuletzt auf seinen menschlichen Zügen. Für diese Spezialaufgabe haben CIMONs Entwickler:innen die Gestalter der h_da mit ins Boot, pardon, Raumschiff geholt. „Das Ziel war, einen genderneutralen, überkulturell und möglichst barrierefrei funktionierenden menschenähnlichen Gesichtsausdruck zu kreieren“, berichtet Professor Christian K. Pfestorf. „Unsere Ausgangsfrage lautete: Wie muss sich eine Künstliche Intelligenz präsentieren, die mit Astronauten interagiert, die in den Deep Space fliegen und den Sichtkontakt zur Erde verlieren? Eine besondere Herausforderung war, dass auch taubstumme Menschen die Mimik lesen können.“ Unter der Leitung Pfestorfs (siehe auch separate Infobox) und aus rechtlichen Gründen unter dem Dach des „Steinbeis-Beratungszentrums rhein.main.international.institute for advanced design technologies (rmii)“ nahm ein Team aus Gestaltern und jungen Absolventen der h_da 2018 die Arbeit daran auf.

Dutzende Fachleute haben den interaktiven schwebenden Roboter gemeinsam entwickelt und konstruiert. Geldgeber ist das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, Auftraggeber das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR). Als sprachgesteuerte Künstliche Intelligenz wirkt die Watson KI-Technologie aus der IBM Cloud. Gebaut wurde CIMON von Airbus in Bremen und Friedrichshafen am Bodensee (das er auf Nachfrage auch als seinen Herkunftsort nennt). Eine amüsante Randnotiz spricht dafür, dass CIMONs irdische Mütter und Väter ottonormalmenschlich sozialisiert sind: Die Vorlage für CIMON lieferte eine Figur der 80er-Jahre-Zeichentrickserie „Captain Future“. Zu dessen heldischer Crew gehörte Professor Simon Wright, ein denkendes, sprechendes und fliegendes „lebendes Gehirn“.

Es funktioniert – selbst maximal reduziert

Die angenehme Erscheinung von CIMON, neuester Stand, fußt auf der gegenüber CIMON-1 dunkleren und genderneutral angelegten Stimme und seiner neuen Mimik. Im Auftrag von Hardware-Lieferant Airbus hat das Team um Christian Pfestorf und Michael Hartmann, Lehrbeauftragter und enger Wegbegleiter Pfestorfs, einen Film produziert, der die gelungene Metamorphose zeigt. Die Mimik wirkt natürlich, sympathisch – eben menschlich – und erschließt sich intuitiv. Das neue Gesicht ist ausdrucksstark, obwohl es sich auf pupillenlose, durch Spiegelungen definierte Augen und einen Mund beschränkt – wenn überhaupt. „Im ‚butler mode‘ sind nur die Augen zu sehen“, erklärt Pfestorf. „In diesem Arbeitsmodus würde der Mund nur unnötig Aufmerksamkeit binden.“_Wie und warum funktioniert das? „Grundlage dazu sind bionische Studien“, verrät Pfestorf. Gegenstand der Bionik ist es, natürliche Phänomene auf die Technik zu übertragen. Dabei adaptiert der Mensch also Prinzipien oder Strukturen, die sich in der Natur bewährt haben, für eine technische Anwendung. „Die bionischen Ableitungen wurden in jahrzehntelanger Forschungsarbeit in weltweiten Projekten zusammengetragen.“

Hinter Vordenker und Steuermann Pfestorf arbeitete ein rund 15-köpfiges studentisches Team der h_da am Projekt mit. Ab dem Sommersemester 2018 schmiedete ein Entwurfskurs Ideen, später wurde CIMONs Mimik im kleineren Kreis im „rmii“ ausgetüftelt. Die inzwischen diplomierten Kommunikations-Designer Michael Eiden und Luca Haag haben das Projekt in ihrem Hauptstudium begleitet. „Wir haben in verteilten Rollen an Funktions- und Visualisierungskonzepten und der Software für die Mimik gearbeitet“, erzählt Eiden. „Ein wichtiger Mosaikstein war das Face Tracking: Das ist ein Codierungssystem, das die menschliche Mimik ins Digitale überträgt.“ Die Mimik wurde regelmäßig an Nutzer:innen getestet. Deren Reaktionen und Interaktionen flossen in die stetige Verbesserung ein.

„Lippenbewegungen sind die größte Herausforderung“

Spätere Teilaufgaben waren die Umsetzung in 3D, das Rendern oder die Dokumentation des Ganzen. Für das datenintensive Rendern, das Erzeugen der Bilder aus Rohdaten, nutzte Eiden zeitweise ein halbes Dutzend Hochleistungs-PCs des Fachbereichs gleichzeitig. In der heißen Phase des Projekts und rund um die Produktion des Films haben mit Eiden, Haag und Industrie-Designer Moritz Mohr drei bereits für verschiedene Arbeiten ausgezeichnete Absolventen ihr Know-how und viele Arbeitsstunden eingebracht. „Die Mimik ist die Königsklasse im Animation Design – und innerhalb dessen sind die Lippenbewegungen die größte Herausforderung“, sagt Eiden. Michael Hartmann, selbst Inhaber einer Designagentur, war regelmäßig Sparringspartner, gab Tipps und übernahm als Projektleiter organisatorische Aufgaben. Nach der Präsentation des Films im September 2020 bei Airbus in Friedrichshafen begann die intensive Vorbereitung auf die Cosmic-Kiss-Mission.

CIMONs neue Mimik kann nicht nur verschiedene Farben annehmen, sie beherrscht auch den fliegenden Wechsel. Sie ist nicht an das Display des runden Roboters gebunden, sondern kann auf benachbarte Anzeigen überspringen. „Die Mimik funktioniert auf verschiedenen User Interfaces“, sagt Pfestorf. „Sie interagiert mit diesen in einer übergreifenden, ebenfalls bionischen User Experience.“ Astronaut:innen und KI können auf den Displays durch geschickte Überlagerung gleichzeitig Daten von Control Panels der Raumstation beobachten und bewerten. Dafür, erklärt Pfestorf, habe man sich Erkenntnisse über das menschliche Wahrnehmungssystem zunutze gemacht: „Wir sind in der Lage, bestimmte Dinge auszublenden, quasi hindurchzuschauen.“ Funktion und Design der Mimik folgen damit der Philosophie hinter CIMON: nicht dominieren und Aufmerksamkeit binden, sondern bei Bedarf unterstützen. Indem die menschenähnliche Mimik viele Informationen nonverbal und beiläufig vermittelt, schont sie die Konzentration der Astronaut:innen. Denn die müssen unter extremen Bedingungen ihr eng getaktetes Arbeitsprogramm absolvieren.

Ein Gegenüber im All – und bald auch in der Pflege?

CIMON wird auf der ISS Tätigkeiten der Crew auf Video dokumentieren, für sie Anleitungen vorlesen oder bildlich darstellen. Dabei ist er auch der „Companion“ der Raumfahrer:innen – ein nicht menschliches Gegenüber der fern der Erde im All driftenden Astronaut:innen. Der Missionsleiter von „Cosmic Kiss“, Volker Schmid vom DLR, nennt das „psychosoziale Mensch-Maschine-Interaktion“. Die von CIMON verkörperten unterstützenden Funktionen könnten Beiträge leisten für den Einsatz KI-gestützter Assistenzsysteme in Medizin und Pflege oder Bildung und Erziehung. KI in ähnlicher Gestalt könnte zum Beispiel bald helfen, das selbstbestimmte Leben älterer oder kranker Menschen zu verlängern.

Der nächste Meilenstein aber ist der Start von Matthias Maurer und CIMON zur ISS. Den darf Christian Pfestorf als einer von 75 Mitwirkenden live vom DLR-Standort in Oberpfaffenhofen aus verfolgen – Standleitung zur Missionsleitung in Cape Canaveral inklusive. Schon bevor der Countdown einsetzt, lässt sich festhalten: Mission Mimik – erfüllt.

Christian K. Pfestorf: Ein Vierteljahrhundert h_da

Christian K. Pfestorf ist seit dem Wintersemester 1996/97 Professor für generalistischen Entwurf im Kommunikations-Design am Fachbereich Gestaltung. In 25 Jahren hat er die h_da aus verschiedenen Perspektiven kennengelernt und mitgeprägt. Er ist hochschulpolitisch aktiv, arbeitet seit Jahren intensiv in mehreren Gremien der Selbstverwaltung mit, unter anderem als Mitglied des Senats. Pfestorf hat das Corporate Design der h_da und des Studierendenwerks Darmstadt entwickelt, als Lehrender und künstlerisch Forschender unzählige Projekte initiiert, begleitet und durchgeführt.

In seiner Generalisten-Rolle begleitet Pfestorf jeweils über mehrere Jahre eine Gruppe von rund zehn Studierenden, die besonders begabt sind. „Design braucht Talent. Es ist nicht lehr-, nur coachbar“, erklärt er diese ungewöhnlich intensive Betreuung. Nur als Künstler will Pfestorf sich nicht verstanden wissen: „Künstler drücken sich selbst aus und erreichen damit oft nur einige wenige. Als Designer zielen wir darauf, im besten Fall alle Menschen zu erreichen – indem wir unsere Erzeugnisse in ein ausgewogenes Verhältnis von Ratio und Emotion versetzen und dabei von allem Geschmäcklerischen befreien.“

„Horizons“: Türöffner Wörner und ein emotionales Logo

Jan Wörner, ehemaliger Präsident der TU Darmstadt, hat für Christian K. Pfestorf Kontakt in die Raumfahrtbranche hergestellt. Wörner war bis 2015 Vorstandsvorsitzender des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR), dann bis Februar 2021 Generaldirektor der Europäischen Weltraumorganisation ESA. Auf dessen Vorschlag hin erstellte eine Gruppe Studierender des Kommunikations-Designs unter Leitung Pfestorfs 2017 acht Logo-Vorentwürfe für „Horizons“, Alexander Gersts zweite Mission. „Sie bildeten die Grundlage für ein Brainstorming mit Alex Gerst bei ESA und DLR, nach dem wir dann im Institut das Logo final gestaltet haben“, erzählt Pfestorf.

Das finale, vor allem in Schwarz und Weiß gehaltene Logo kommt mit wenigen effektvoll geschwungenen Linien aus, die umso eindrucksvoller wirkten. „Wie ist es möglich, dass so wenige Striche so viel Emotion auslösen?“, habe ein Journalist bei der Präsentation von Mission, Name und Logo gefragt, berichtet Pfestorf. „Auch hierbei“, erklärt der Professor, „spielen bionische Prinzipien aus der Natur eine maßgebliche Rolle“.