„Corona hat Alleinerziehende extrem getroffen“

Alleinerziehende Frauen und ihre Kinder sind in Deutschland besonders häufig arm, obwohl die Mütter oft erwerbstätig sind. Warum das so ist und wie sich das ändern könnte, dazu forscht Professorin Anne Lenze vom Fachbereich Soziale Arbeit. Frappierende Erkenntnis ihrer neusten Studie: Trotz einiger Verbesserungen bleiben die Betroffenen arm und von Teilhabe ausgeschlossen. Hoffnung schürt die Aussicht auf Einführung einer Kindergrundsicherung nach der Bundestagswahl.

Ein Interview von Alexandra Welsch, 30.8.2021

impact: Frau Lenze, Sie forschen als Sozialrechtlerin seit Jahren zur schwierigen Situation Alleinerziehender. Warum interessiert Sie das Thema?

Anne Lenze: Das Ganze ist entstanden in einer größeren Expert:innenrunde bei der Bertelsmann-Stiftung zu der Frage, wie man Kinder in armen Einkommensverhältnissen fördern kann. Und da ist ganz zentral die Situation der Alleinerziehenden, weil die unter allen Familienformen am stärksten von Armut betroffen sind. Da war mein Fokus, dass ich mir das genauer anschaue.

impact: Hierzu haben Sie für die Bertelsmann-Stiftung nun eine dritte Studie seit 2014 verfasst. Gab es neue Erkenntnisse, die Sie überrascht haben?

Lenze: Das für mich Frappierende ist, dass durch einige Verbesserungen viele aus dem SGB-II-Bezug, also Hartz-IV, rausgekommen sind, aber dennoch arm geblieben.

impact: Wie wird denn Armut definiert?

Lenze: Wir haben einmal eine sozialrechtliche Messung von Armut, da gucken wir, wie viele Menschen Grundsicherungsleistung beziehen. Und wir haben die relative Armutsmessung, da schauen wir, wie viele  Menschen liegen 60 Prozent unterhalb des Durchschnittseinkommens in Deutschland. Da sind sie alle drunter geblieben.

impact: Gibt es Unterschiede in der Betroffenheit von alleinerziehenden Müttern und Vätern?

Lenze: Auf jeden Fall. Alleinerziehende Väter, ihr Anteil liegt bei nur 9 bis 10 Prozent, leben häufig nur mit einem Kind zusammen und dann auch mit Älteren, so dass es dann schon einfacher ist. Auch da gibt es Einbrüche beim Einkommen, aber nicht in dem Maße wie bei den Frauen. Männer bleiben häufiger voll erwerbstätig. Ihre Einkommenssituation ist erheblich besser als die von alleinerziehenden Müttern.

impact: 43 Prozent der Ein-Eltern-Familien gelten als einkommensarm. Und mit Abstand am meisten betroffen sind alleinerziehende Frauen, obwohl sie häufiger arbeiten als Mütter in Paarfamilien. Woran liegt das?

Lenze: Alleinerziehende Mütter haben ein eingeschränktes Erwerbspotenzial. Sie sind für die Erziehung der Kinder zuständig und arbeiten oft unterhalb ihrer Qualifikation, weil sie nehmen müssen, was sie bekommen. Sie sind häufiger in Branchen tätig, die schlecht verdienen. Und die zweite Dramatik: Der andere Elternteil soll für den Unterhalt zahlen, aber das ist in vielen Fällen nicht der Fall. Das liegt daran, dass wir in Deutschland einen Niedriglohnsektor tolerieren und viele Beschäftigte den Unterhalt gar nicht zahlen können. Ein Viertel aller Kinder von getrennt lebenden Eltern bezieht überhaupt nur einen Mindestunterhalt. Da sind viele Sachen, die Kinder brauchen, nicht drin.

impact: Was bedeutet das konkret im Alltag?

Lenze: Das sächliche Existenzminimum ist gedeckt, also Kleidung, ein Dach über dem Kopf, genug zu Essen. Aber der große Bereich der soziokulturellen Teilhabe, also Nachhilfe, Bücher, Klassenfahrten, mal ins Kino gehen, in den Urlaub fahren – das ist alles nicht möglich. Wir haben zudem jetzt vom Statistischen Bundesamt eine wichtige Auswertung, die zeigt, die größte Diskrepanz zwischen armen Kindern und denen der Mittelschicht besteht im Bereich der Gesundheit. Die ganzen Dinge, die die Krankenkasse nicht übernimmt, etwa die Zuzahlung für eine Zahnspange oder Gymnastik, das können arme Eltern nicht zahlen.

impact: Das ist ja auch eine Pandemie-Erkenntnis, dass einkommensarme Schichten stärker von Corona betroffen sind, weil die Gesundheitsbasis weniger robust ist.

Lenze: Ja, das hat Alleinerziehende nochmal extrem getroffen. Wir wissen, dass sie und ihre Kinder von allen Familienformen in Deutschland am wenigsten Wohnraum zur Verfügung haben, und das ist in einer Pandemie ja auch ein Aspekt von Gesundheit. Zudem sind Alleinerziehende häufig in Berufen tätig, die systemrelevant waren, als Kassiererin oder Pflegerin. Und zu Hause war keiner für die Kinder. Großeltern waren nicht mehr als Betreuungspersonen verfügbar. Wenn sie in Kurzarbeit waren, war ihr Einkommen auch noch weniger. Alleinerziehende verdienen ja im Schnitt schon nur zwei Drittel der Bruttoverdienste aller Erwerbstätigen, und mit Kurzarbeit ging das dann unter die Existenzminimumgrenze. Das war schon eine sehr harte Zeit.

impact: Wo müsste denn angesetzt werden, um die Lage Alleinerziehender grundsätzlich zu entspannen?

Lenze: Zentral ist die Frage des fehlenden Unterhalts. Eine Forderung meiner Studie ist, dass Unterhalt in Höhe des Betrags zur Verfügung stehen muss, der auch bei den Steuerpflichtigen als Kinderfreibetrag verschont wird. Das sind aktuell so 699 Euro pro Monat, von denen etwa das Bundesverfassungsgericht sagt: Da haben Kinder nicht nur das sächliche Existenzminimum, sondern das deckt auch den Bereich der soziokulturellen Teilhabe ab. Der Betrag müsste auch armen Kindern zur Verfügung stehen in Form einer Kindergrundsicherung. Es ist wichtig, sie aus dem Hartz-IV-Bezug der Eltern rauszunehmen und ihnen eine eigenständige Leistung zu geben. Das wäre ein großer Schritt.

impact: Was würde sich dadurch verbessern?

Lenze: Wir wissen, dass arme Grundschüler auch in der Regel arme Hauptschüler sind, die zu einem hohen Prozentsatz gerade mal den Hauptschulabschluss schaffen. Und dass sie damit auf Dauer von einer guten Erwerbstätigkeit ausgeschlossen sind. Das ist auch für unsere Gesellschaft katastrophal, weil wir nicht genug Nachwuchs haben und viele ältere Menschen, die in Rente gehen. Das ist desaströs für den Arbeitsmarkt, und alles kann man nicht durch Zuzug von außen lösen. Wir können uns gar nicht leisten, dass wir die zwanzig Prozent als arm geltenden Kinder nicht ausreichend fördern. Die Forschung hat in den letzten Jahren gut herausgearbeitet, dass die Teilhabe im soziokulturellen Bereich darüber bestimmt, ob ein Kind in die Mitte der Gesellschaft aufschließend kann oder am unteren Rand bleibt. Wenn man einmal im Jahr in den Urlaub fährt, gemeinsam ins Museum oder Kino geht, dann findet da auch Bildung statt. Und da sind die armen Kinder völlig von ausgeschlossen. 699 Euro Kindergrundsicherung hören sich viel an, aber man muss das als Investition in die Zukunft der Gesellschaft begreifen. 

Teil 3

impact: Nun ist seit 2015 der Anteil Alleinerziehender, die von Hartz IV leben, in Westdeutschland von 36 auf 34 Prozent zurückgegangen und im Osten sogar von 43 auf 33. Geht die Entwicklung nicht bereits in die richtige Richtung?

Lenze: Für viele ist es ein großer Schritt, wenn Sie aus dem SGB-II-Bezug raus sind. Sie beziehen dann andere Sozialleistungen, wie den Kinderzuschlag, Wohngeld, Zuschüsse für Klassenfahrten oder Schulessen. Aber das muss alles extra beantragt werden, das ist ein wahnsinniger Aufwand. Und sie sind nur knapp über Hartz IV und bleiben weiter im Bereich der Armen. Also eine kaputte Waschmaschine ersetzen oder mit den Kindern in den Urlaub fahren, das geht dann trotzdem nicht.

impact: Was hat denn in jüngerer Zeit bereits Linderung bewirkt?

Lenze: Der größte Faktor sind die Veränderungen beim Unterhaltsvorschuss. Da gab es bis 2018 eine doppelte Begrenzung. Man konnte maximal sechs Jahre lang Unterhaltsvorschuss für das Kind beziehen und maximal bis zum 12. Lebensjahr. Ausgerechnet die über Zwölfjährigen, die besonders teuer sind, die haben nie was bekommen. Diese Begrenzung hat man aufgehoben. Sie können für ein Kind, für das der Vater nicht zahlt, 18 Jahre lang Unterhaltsvorschuss vom Staat beziehen. Die Zahl der Kinder, die das beziehen, hat sich seither mehr als verdoppelt auf ungefähr 800.000, 900.000 Kinder, also von den 2,2 Millionen Kindern Alleinerziehender schon fast die Hälfte.

impact: Was war noch hilfreich?

Lenze: Der steuerliche Entlastungsfreibetrag wurde fast verdoppelt auf 4000 Euro im Jahr, somit zahlen Alleinerziehende weniger Steuern. Aber das müsste nochmal verdoppelt werden auf 9000 Euro. Es bedarf weiterer Schritte, die Einkommen der Alleinerziehenden steuerlich zu entlasten. Deutschland greift auf ihre Einkommen noch immer am stärksten zu, in ganz Europa.

impact: Nun ist bald Bundestagswahl, was sagt ein Blick in die Wahlprogramme im Hinblick darauf, was die Parteien für Alleinerziehende tun wollen?

Lenze: Ich habe ein bisschen geschaut auf das Thema Kindergrundsicherung. Da weiß ich, dass die Grünen, die Linke und auch die SPD Vorschläge haben. Und ich hoffe sehr, wenn es eine Regierungsbeteiligung der Grünen gibt, dass es dann zumindest einen Einstieg in die Kindergrundsicherung geben wird.

impact: All diese Verbesserungen setzen finanziell an. Aber ist es nicht auch eine Frage der Einstellung, Alleinerziehende mehr zu unterstützen?

Lenze: Da bin ich ein bisschen hoffnungsfroh, was die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt angeht. Wir spüren schon an vielen Ecken und Enden, dass Beschäftigte fehlen. Da können es sich Arbeitgeber einfach nicht mehr leisten, Frauen mit Kindern auszuschließen. Und es ist ja nicht so, auch das belegen auch Studien, dass Frauen mit Kindern weniger leistungsfähig sind. Sie arbeiten sogar zu schlechteren Arbeitszeiten, weil sie derartig auf die Arbeit angewiesen sind.

impact: Also besteht aus Ihrer Sicht mehr Anlass zu Hoffnung als Ernüchterung?

Lenze: Ja. Der demografische Wandel ist ein großer Treiber, der uns in die Hände spielt. Und wir sind auch auf dem Weg, dass die Bildungsintensität weiter zunimmt, also dass Frauen auch besser ausgebildet und selbstbewusster sind. Vor allem hat auch die Politik begriffen, dass man die vielen Kinder aus armen Familien nicht einfach zurücklassen kann. Jahrelang wurde da eher vertreten, man müsse vor allem die Bildungsstrukturen verbessern. Aber man muss vor allem die Familien fördern, weil Geld bedeutet auch Freiheit und Freiräume. Ich bin da guter Dinge, das ist jetzt ein Stück weit angekommen ist und wir den Einstieg in die Kindergrundsicherung im Herbst erleben werden.

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