Wenn der Storch die Kinder bringt

Prof. Dr. Sebastian Döhler lehrt Mathematik und Data Science an der Hochschule Darmstadt. Er ist Sprecher des Darmstadt Institut für Statistik & Operations Research (DISO). Seine Forschungsschwerpunkte sind Data Science und Statistik. Im impact-Interview erklärt er, warum Statistiken mit Vorsicht zu genießen sind, nicht nur in Zeiten von Corona.

Ein Interview von Christina Janssen, 2. April 2020

impact: Herr Döhler, es kursieren viele, teils abenteuerliche Hypothesen zu Corona. Eine davon, die über ein Video in den sozialen Medien verbreitet wird, lautet: Die neue Mobilfunktechnologie 5G hat die Epidemie ausgelöst. Was sagen Sie dazu?

Döhler: In dem Video wird behauptet, die großen Epidemien der letzten 150 Jahre seien gleichzeitig mit „Sprüngen“ in der Elektrifizierung unserer Gesellschaften aufgetreten, also sei Elektrosmog der Verursacher. Ein klassischer Fehlschluss: Hier werden Korrelation und Kausalität verwechselt. Genauso gut könnte man sagen: Der Storch bringt die Kinder. Das lässt sich statistisch ebenfalls „beweisen“: Ein Kollege aus Großbritannien hat sich den Scherz erlaubt, in 17 Ländern die Geburtenraten und die Anzahl der dort lebenden Storchenpaare aufzulisten. Das Ergebnis: Je mehr Störche, desto höher die Geburtenrate. Zwischen den Zahlen gibt es durchaus einen Zusammenhang, eine Korrelation. Das heißt aber nicht, dass das eine ursächlich mit dem anderen zusammenhängt. Im Falle von Storch und Baby ist das für jeden offensichtlich. Bei manchen fake news zu Corona nicht unbedingt.

impact: Wir sprechen hier also im Grunde über falsch interpretierte Statistik. Dazu würde dann beispielsweise auch der berühmte Zusammenhang zwischen Schuhgröße und Gehalt gehören?

Döhler: Richtig. Statistisch lässt sich das genauso belegen. Allerdings ist hier nicht die Schuhgröße der entscheidende Faktor, sondern die Geschlechtszugehörigkeit, die – sozusagen im Hintergrund – sowohl die Schuhgröße als auch das Gehalt beeinflusst: Männer haben größere Füße als Frauen und sie verdienen im Durchschnitt mehr. Der Effekt „Schuhgröße – Gehalt“ verschwindet, sobald man die beiden Geschlechter getrennt betrachtet. Solche Nonsense-Korrelationen kann man nach Belieben konstruieren: Margarineverbrauch und Scheidungsraten, Gehalt und die Anzahl der Kopfhaare oder eben auch Corona und 5G. Aber natürlich gibt es viele Korrelationen, denen eine echte Ursache-Wirkungsbeziehung zugrunde liegt: Rauchen und Lungenkrebs zum Beispiel oder hohe Sommertemperaturen und der Umsatz von Eisdielen.

impact: Wie erkenne ich den Unterschied zwischen Nonsense und echten Zusammenhängen?

Döhler: Das ist nicht immer einfach. Eine Frage, die man sich stellen könnte, wäre, ob der behauptete Zusammenhang in einem kontrollierten Experiment abgesichert wurde. Das wäre auch die Herangehensweise, wollte man den Zusammenhang zwischen 5G und dem Auftreten des neuen Corona-Virus ernsthaft untersuchen. Die Fragestellung wäre hier: Kann man die Entstehung solcher Viren provozieren, indem man Lebewesen unter kontrollierten und reproduzierbaren Bedingungen 5G-Strahlung aussetzt?

impact: Ich sehe einer Statistik aber meist nicht an, welche wissenschaftlichen Prozesse dahinterstecken…

Döhler: Das ist tatsächlich ein Problem. Leider wird selbst bei wissenschaftlichen Arbeiten nicht immer transparent genug beschrieben, wie bestimmte statistische Ergebnisse zustande kommen. Angaben zu Erhebungsmethoden, Analysemethoden und wissenschaftlichen Hintergründen gehören deshalb eigentlich immer dazu. Im Zweifel hilft es nur nachzufragen und zu recherchieren: Wo finde ich Hintergrundinformationen? Stammt die Information aus einer seriösen Quelle, berichten weitere zuverlässige Quellen darüber? Dabei sind übrigens unsere Qualitätsmedien meines Erachtens eine große Hilfe. Viele von ihnen bieten zum Thema Corona oder zu fake news im Allgemeinen spezielle Websites an, beispielsweise die ARD, das Magazin Stern oder die Nachrichtenagentur AFP.

impact: Den offiziellen Corona-Statistiken trauen Sie aber trotzdem, allen voran dem, was Robert Koch-Institut und die Johns Hopkins University (JHU) derzeit zu Corona veröffentlichen?

Döhler: Ein Credo der Statistiker lautet: „In God we trust, all others bring their data.“ Das heißt: Der wache, kritische Blick ist im Umgang mit Statistiken immer gefragt. Ich gehe davon aus, dass zum Beispiel die Daten am Robert Koch-Institut und der Johns Hopkins University solide und nach dem Stand der Wissenschaft erhoben werden. Wenn man allerdings die Entwicklung in verschiedenen Ländern vergleicht, wie es an der JHU geschieht, ist die Lage komplizierter, als wenn man sich nur mit nationalen Daten befasst: Die Qualität der Daten ist von Land zu Land verschieden. Außerdem liegt bei einigen Ländern, wie etwa China, der Verdacht nahe, dass politisch gesteuert wird, welche Zahlen wie kommuniziert werden. Und schließlich gibt es im Fall der Corona-Infektionen eine hohe, länderabhängige Dunkelziffer. All diese Effekte können dazu führen, dass Äpfel mit Birnen verglichen werden, trotz aller wissenschaftlicher Integrität. Und selbst wenn die Fallzahlen professionell erfasst werden, so beantworten diese Zahlen allein viele wichtige Fragen nicht. So kann im Moment niemand zuverlässig sagen, wie viele Menschen in Deutschland tatsächlich infiziert sind. Um das herauszufinden, müssten zum Beispiel regelmäßig Stichproben aus der Bevölkerung auf Infektionen untersucht werden, was derzeit nicht geschieht.

impact: Durch Corona ist die Wissenschaft stark in den Fokus der öffentlichen Debatte gerückt. Expertinnen und Experten geben uns täglich Auskunft zu Fallzahlen und Prognosen, Forscherinnen und Forscher arbeiten weltweit an Impfstoffen und Covid-19-Therapien. Ist das auch eine Chance?

Döhler: Ich denke schon. Die Menschen haben einen großen Bedarf an objektiver Information und Einordnung und erkennen, glaube ich, dass sie diese am ehesten von der Wissenschaft und in seriösen Medien erhalten. Sie sehen auch, dass die meisten Aussagen sehr vorsichtig und mit Verweis auf mehr oder weniger große Unsicherheit kommuniziert werden. Vielleicht wird das auch in „normalen“ Zeiten zu einem größeren Verständnis und höherer Wertschätzung wissenschaftlichen Arbeitens führen. Auf einer allgemeineren gesellschaftlichen Ebene könnte die gegenwärtige Krise dazu führen, dass sich die Menschen wieder mehr an seriösen Medien und Politikern orientieren und dass insgesamt eine Versachlichung des gesellschaftlichen Diskurses stattfindet.