Demenz im Quartier

Bruce Willis ist einer der prominentesten Fälle: Im Februar teilte die Familie des Action-Schauspielers mit, der 68-Jährige leide an einer schnell voranschreitenden Form von Demenz. Nachrichten wie diese rücken eine Erkrankung in den Fokus, über die häufig der Mantel des Schweigens ausgebreitet wird. Noch immer ist Demenz eine Art Tabuthema. Dabei liegt die Zahl der Neuerkrankungen allein in Hessen bei rund 26.000 pro Jahr. Bundesweit leben derzeit 1,8 Millionen Menschen mit Demenz, Prognosen zufolge werden die Zahlen deutlich steigen. Gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen der Hochschule Fulda und der Uni Gießen hat Sozialwissenschaftlerin Jutta Träger von der h_da Vorschläge erarbeitet, wie Menschen mit Demenz möglichst lange in ihrem gewohnten Umfeld leben können. Gefördert wurde das Projekt vom Hessischen Sozialministerium und der Diakonie.

Von Christina Janssen, 5.4.2023

Wenn Jutta Träger mit hochbetagten Familienmitgliedern über Ernährungstipps oder Politik diskutiert, steht sie vor einem Rätsel, das ganz direkt ihre Forschung betrifft: Wieso bleiben die einen bis ins höchste Alter geistig fit, während andere, wie jüngst Action-Star Bruce Willis, schon mit Ende 60 schwer an Demenz erkranken? Was macht den Unterschied – die Gene, die Lebensweise oder der Zufall? „Wir wissen viel über Korrelationen“, erklärt die Forscherin, „aber wenig über Kausalitäten.“ Will sagen: Eine Demenz kann vielfältige Ursachen haben. Eines aber weiß man sehr genau: Die große Mehrzahl der Patientinnen und Patienten möchte möglichst lange im gewohnten Umfeld bleiben – in der eigenen Wohnung, dem vertrauten Dorf oder Stadtteil, bei der Familie.

Jutta Träger, Professorin für Sozialforschung und Evaluation an der Hochschule Darmstadt, arbeitet daran, das zu ermöglichen. Als Sozialwissenschaftlerin betrachtet sie Demenz nicht als medizinisches, sondern als soziales Phänomen. In ihrem Forschungsprojekt „Demenz im Quartier“ nahm sie deshalb gemeinsam mit Kolleg*innen der Hochschule Fulda und der Uni Gießen die soziale Situation von Menschen mit Demenz unter die Lupe: auf dem Land, in der Kleinstadt und in der Großstadt. Die Beispielgemeinden waren die hessischen Kommunen Nüsttal und Eiterfeld, die Kleinstadt Lollar und Darmstadt. Diese „Sozialraumanalyse“ – so der Fachbegriff – ergab: Vieles läuft gut, viel muss noch getan werden.

Freiwillige Helfer ermöglichen Teilhabe, brauchen aber mehr Support

„Der Unterschied zwischen Stadt und Land ist in aller Regel groß“, berichtet Träger. „Auf dem Land gibt es weniger Hilfsangebote. Außerdem sehen wir hier noch stärker die Tendenz, eine Demenz-Diagnose zu verstecken. Hilfe wird oft erst angefordert, wenn die Lage daheim eskaliert.“ Was allerdings auch in den Städten immer wieder zu beobachten ist. Offenkundig muss die „alternde Gesellschaft“ einen guten Umgang mit dem Altern erst noch finden. Vielversprechende Ansätze hierfür sieht die Wissenschaftlerin in Darmstadt: Seit vielen Jahren organisiert dort das Demenz-Forum als gemeinnütziger Verein Hilfsangebote für Patienten und Angehörige. „Darmstadt hat hier eine Vorreiter-Rolle“, lobt Träger.

Woran es dennoch mangelt, hat die Wissenschaftlerin im Rahmen ihres Forschungsprojekts anhand von Stadtteilbegehungen und Interviews mit Betroffenen ermittelt. „Der richtige Hilfe-Mix ist entscheidend“, sagt die Professorin. „Dazu gehören nicht nur Ärztinnen, Ärzte und Pflegekräfte, sondern ganz maßgeblich auch freiwillige Helfer.“ Sie sind es, die – neben der notwendigen medizinischen Versorgung – Teilhabe am ganz normalen Leben „da draußen“ ermöglichen: durch gemeinsame Spaziergänge, einen Lese- oder Spielenachmittag, Café- oder Museumsbesuche, die Begleitung zu Terminen oder gemeinsame Einkäufe.

Während sich das Ehrenamt in jüngster Zeit stark diversifiziert habe, engagieren sich im Pflegebereich noch immer fast ausschließlich Frauen. Und ihnen geht es oft wie den betroffenen Familien selbst: Sie fühlen sich allein gelassen. „Bei der Betreuung kommen Ehrenamtliche schnell in Situationen, die sie überfordern“, berichtet Träger. „Wie gehe ich damit um, wenn ein alter Mensch, mit dem ich unterwegs bin, plötzlich die Orientierung verliert und aggressiv wird?“ Gerade junge Helferinnen, die mit viel Idealismus ins Ehrenamt starteten, müssten darauf besser vorbereitet, geschult und begleitet werden. „Sonst springen sie nach dem ersten ‚Realitätsschock’ wieder ab“, weiß Träger. Die überwiegende Mehrzahl der freiwilligen Helferinnen wünscht sich Trägers Befragungen zufolge Fortbildungsangebote und einen Reflexionsraum, um sich auszutauschen und gegenseitig zu motivieren. Der „Dialog vor Ort“ sei ganz entscheidend. Wichtig sei darüber hinaus, so Trägers Analyse, mehr Anerkennung: „Selbst wenn es nur eine Urkunde ist, die Einladung zu einem Abendessen oder einem Empfang mit dem Bürgermeister.“

Niedrigschwellige Angebote in den einzelnen Stadtteilen

„Demenz ist nicht gleich Demenz“, betont Träger. Die Phase zwischen Diagnose und Endstadium verlaufe sehr unterschiedlich. „In jedem Fall ist eine Demenzerkrankung aber eine riesige Herausforderung für alle Beteiligten.“ Andere Studien hätten gezeigt, dass die Überforderung in den Familien mitunter so weit gehe, dass Angehörige gewalttätig würden. Gleichzeitig komme die Information über Hilfsangebote in den Familien oft gar nicht an. Jutta Träger schlägt deshalb vor, dezentrale Anlaufstellen in den einzelnen Stadtquartieren einzurichten. „Die Angebote müssen niedrigschwellig sein, für jeden sichtbar und gut erreichbar“, erläutert Träger. Mit Ansprechpartnern vor Ort, zu denen Schritt für Schritt Vertrauen aufgebaut werden kann: „Ich spaziere ja nicht zu einer wildfremden Person ins Büro und erzähle: ‚Heute war ich so überfordert, dass ich meinen Vater geschlagen habe.‘“ Noch größer sei die Hemmschwelle oft für Familien mit Migrationsgeschichte, berichtet Träger. „Die kulturellen Sichtweisen auf das Thema sind sehr verschieden. In vielen migrantischen Communities gilt es als Versagen, Hilfe von außen in die Familie zu holen.“ Ein Ansatzpunkt wäre es hier, Multiplikatoren aus dem jeweiligen Kulturkreis zu gewinnen.

Die Ergebnisse des Forschungsprojekts „Demenz im Quartier“ haben Jutta Träger und ihre Projektpartner in einem Handbuch zusammengefasst. Ob und wie Kommunen die Vorschläge umsetzen, hängt von verschiedenen Faktoren ab. „Das Thema Demenz ist durch Corona, Ukrainekrieg und Klimakrise ins Hintertreffen geraten“, stellt die Wissenschaftlerin fest. Kommunen, die ohnehin mit knappen Mitteln wirtschaften, seien kaum in der Lage, neue Angebote zu finanzieren. Um die Ideen weiterzuentwickeln, müsste zudem eine stärkere interdisziplinäre Vernetzung stattfinden.

„Demenz geht uns alle an“, schreibt die Bundesregierung in ihrer Nationalen Demenzstrategie. Es ist offenbar nötig, darauf explizit hinzuweisen. Entscheidend für alle Beteiligten wird es sein, das Thema aus der Grauzone herauszuholen, wie es die Familie des in seinen Filmen unbezwingbaren Bruce Willis getan hat. Oder der Schriftsteller Arno Geiger: In seinem Bestseller „Der alte König in seinem Exil“ beschreibt er warmherzig und humorvoll, wie er seinem Vater durch dessen Demenzerkrankung emotional wieder näherkommt. So wird die Grauzone ein wenig bunter.

Mitarbeit: Niclas Petrocchi

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