Der Datendompteur

Wie aus riesigen Datensätzen mit Hilfe Visueller Analyse und Darstellung greifbare Muster erkennbar werden und sich in der Kombination aus künstlicher und menschlicher Intelligenz anwendbare Vorhersagen treffen lassen: Das ist das Spezialgebiet von Kawa Nazemi, Informatik-Professor am Fachbereich Media der h_da. Der Leiter der Forschungsgruppe Human-Computer Interaction und Visual Analytics ist in diesem noch jungen Fach ein gefragter Experte und profiliert sich auch erfolgreich auf internationalem Parkett.

Von Alexandra Welsch, 1.6.2021

Was haben die Pandemie-Politik Angela Merkels, das Mobilitätsverhalten, Fake News und Therapieansätze in der Medizin gemein? All diese Felder und viele mehr kann der Mensch mit Hilfe moderner Datenanalyse profunder betrachten und so adäquatere Entscheidungen treffen. Davon ist Kawa Nazemi, Leiter der Forschungsgruppe Visual Analytics und Mensch-Computer-Interaktion am Fachbereich Media der Hochschule Darmstadt, überzeugt. Mit seiner zukunftsgerichteten Forschung ist der Informatik-Professor ein gefragter Experte und hat bei manchem Wettbewerb schon die Konkurrenz namhafter Elite-Unis ausgestochen. Am 9. Juni 2021 spricht er im Rahmen der Vortragsreihe „Science Wednesday“ an der h_da über „Analytische Schlussfolgerungen durch Visual Analytics“.

Dass dem Deutsch-Afghanen trotz seines abstrakten Spezialgebiets auch Fachfremde gut folgen können, hat mit seiner klaren Sprache und zugewandten Art zu tun. Und so wird mit Blick auf die schier unüberblickbare Datenflut, die den modernen Menschen inzwischen umströmt und zuweilen ängstigt, schnell auch deren Potenzial greifbar. „Wir haben enorm große Datenmengen, und der Mensch allein kann damit nicht umgehen“, stellt Nazemi fest. Hier könne die Visuelle Analyse helfen, in Daten Entwicklungen zu erkennen und Vorhersagen zu treffen.

Zusammenspiel künstlicher und menschlicher Intelligenz

Das noch recht junge Fachgebiet mit Anfängen in den nuller Jahren kombiniert die Stärken einer maschinellen Datenanalyse mit den Fähigkeiten des Menschen, schnell Muster oder Trends visuell zu erfassen. Der Informatiker spricht von einem „menschenzentrierten Ansatz“. Der Mensch ist und bleibt der zentrale Akteur und wird zum „Datendompteur“. „Ich glaube, dass menschliche und künstliche Intelligenz komplementär sind und sich ergänzen“, sagt Nazemi. „Sie zu verbinden, schafft einen Mehrwert.“

"Datendompteur" Kawa Nazemi möchte dem "Innovationsland Deutschland“ Schub verleihen. Hier würden zwar viele Innovationen geschaffen, sagt der Informatiker, dann aber nicht weiterverfolgt. Aktuelles Beispiel: die E-Mobilität, die Tesla in den USA bereits voll fährt, während sich die deutsche Autoindustrie zu lange zurückgehalten hat. Mit seiner Forschung will Nazemi dazu beitragen, dass solche Trends und Technologien künftig auch in Deutschland frühzeitig erkannt und vorangetrieben werden. 

Die Anwendungsmöglichkeiten sind äußerst vielfältig. Im derzeitigen Fokus von Nazemis Forschung stehen aktuelle und künftige Herausforderungen für Wirtschaft, Gesellschaft und Politik. Ein Beispiel: Mobilität. „Das Mobilitätsverhalten ist abhängig von sehr verschiedenen Faktoren“, erläutert Nazemi. Eine Analyse müsse da etwa herausfinden, wer welches Verkehrsmittel wie benutze und welcher Bedarf daraus abzuleiten ist. „Wie kann ich dazu beitragen, dass mehr Menschen E-Mobilität und ÖPNV nutzen?“, beschreibt er eine mögliche Fragestellung. Die Visuelle Analyse sei gerade auch nützlich in Umbruchsituationen, wie etwa der angestrebten Verkehrswende. Und nutzbare Daten gebe es hier massenhaft – allein schon durch die Handys, die fast alle mit sich führen.

Diverse Anwendungsmöglichkeiten von Mobilität bis Medizin

Ein brandaktuelles Beispiel für Anwendungsmöglichkeiten der Visual Analytics ist die Corona-Pandemie. „Da wird genau das gemacht“, bekräftigt Nazemi: Mit Methoden der Künstlichen Intelligenz werde simuliert, wie sich ein Geschehen ausbreitet. Informationsvisualisierungen zeigten Korrelationen auf, etwa zwischen Ansteckungen und Impfzahlen. „Und gerade Korrelationen zu entdecken, die nicht immer offensichtlich sind, ist eine Teilaufgabe von Visueller Analyse.“

Gefragt ist Nazemis Expertise jedoch auch in einem ganz anderen Bereich, den die Pandemie unter Zugzwang gesetzt hat: Digitalisierung in der Bildung. In einem Projekt für den Kreis Groß-Gerau schult er mit seinem Team derzeit Lehrer auf dem Gebiet der Mensch-Computer-Interaktion. „Wir haben durch die Pandemie gesehen, wie notwendig digitale Instrumente für Bildung sind und dass wir davor nicht mehr fliehen können“, sagt er. „Aber es gibt immer noch große Barrieren.“ Diese wollen Nazemi und sein Team abbauen helfen und Kompetenzen im Umgang mit digitalen Bildungsmethoden vermitteln.

Strategische Vorausschau für ein innovativeres Deutschland

Besonders am Herzen liegt dem Datenexperten noch ein anderes Anwendungsfeld – „auch für das Innovationsland Deutschland“, wie er betont: Es geht um die so genannte strategische Vorausschau (Corporate Foresight), also datenbasierte Technologiefrüherkennung und Potentialanalyse zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit und des Innovationspotentials der Wirtschaft. „In Deutschland werden sehr viele Innovationen geschaffen“, erläutert Nazemi. Doch würden viele nicht weiterverfolgt und etabliert. Bestes Beispiel sei der Computer selbst: Da hätten die größten Innovationen aus Deutschland gestammt, aber es sei wenig daraus gemacht worden im Vergleich etwa zu den USA. „Andere Länder nutzen Innovationen mehr.“ Sichtbar werde das etwa bei der E-Mobilität, die ein US-Player wie Tesla bereits voll fährt, während die deutsche Autoindustrie sich lange zurückhielt. Hier müsse es mehr darum gehen, zukünftige Technologien frühzeitig zu erkennen und anzuwenden, so dass man einen Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen Ländern und Unternehmen habe.

Wie Daten auf einen Blick und Klick greifbar werden, zeigt dieses Beispiel: Hier wurden im Internet Texte zum Thema Visual Analytics zusammengesucht. Die 1943 Treffer hat der Benutzer mittels verschiedener Filterparameter wie „Autor“ oder „Land“ geordnet und kann Muster mithilfe grafischer Darstellungsarten auf einen Blick erkennbar machen: So wird in der Visualisierung links oben sichtbar, dass der Autor Daniel A. Kern die meisten Texte verfasst hat (größter Punkt). Die Jahresleiste darunter zeigt die zeitliche Verteilung der Veröffentlichung und das Bild rechts davon die Publikationen pro Land. Darunter können Nutzer eigene Termini definieren und eine Themenschwerpunkte identifizieren, und links davon die Entwicklungsdynamik einzelner Subthemen erkennen.
 

Konkret in den Fokus nahm das sein Team etwa beim Projekt AVARTIM, gefördert vom Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst: Dabei entstand eine Software, die auf Basis von frei im Netz verfügbaren Datensätze Vorhersagen über Zukunftsmärkte für kleine und mittlere Unternehmen ermöglicht. So habe sich für einen Energieanbieter aufgrund der ablesbaren Entwicklung auf dem Markt gezeigt, dass er verstärkt auf Gezeitenenergie setzen sollte. „Diverse Unternehmen haben dadurch schon neue Marktsegmente eröffnet, die auch sehr gut funktionieren“, sagt Nazemi. Das Uniklinikum Hamburg-Eppendorf beispielsweise konnte mit Visual Analytics im Bereich der Brust- und Prostatakrebstherapie auf Basis von Patientendaten in Kooperation mit Fraunhofer IGD ermitteln, welche Therapieform je nach Altersstufe oder Stadium die beste für den betreffenden Patienten ist.

Beachtung erfahren die Forschungsaktivitäten des Darmstädter h_da-Professors auch auf internationalem Parkett. So hat er bereits mehrere Best-Paper-Awards gewonnen, zuletzt 2019 bei der internationalen Konferenz Information Visualisation in Paris. „Da haben wir Elite-Unis wie das Imperial College London und Co abgehängt“, stellt er fest, „und konnten aufzeigen, dass wir eine forschungsstarke Hochschule sind, die  bei der Spitzenforschung mithalten kann.“ Bei der nächsten International Conference Information Visualization im Juli in Sydney als Online-Ausgabe ist Nazemi dann Mitorganisator.

Achtsamer Umgang mit Datenschutz und ethischen Fragen

Und ein Ende dieser Dynamik ist nicht in Sicht. „Wir haben einerseits immer mehr Daten und andererseits immer mehr Rechnerkapazitäten“, erklärt Kawa Nazemi, dass das Potenzial anwendungsorientierter Datenanalyse im Grunde immer größer wird. Doch müsse man dabei auch aufpassen und wachsam sein. „Wir versuchen, sehr dezidiert auf Datenschutz zu achten.“ Auch gehe es um ethische Fragen – etwa bei der Nutzung künstlicher Intelligenz: „Wie weit können wir gehen, um nicht eine komplette Trendwende zu erzeugen?“, sei eine davon. Und  Risiken müssten stets kalkulierbar bleiben. Denn eins sei bei allen datenbasierten Prognosepotenzialen auch klar, so der erfahrende Datendompteur abschließend: „Sicher ist die Zukunft nie.“

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Christina Janssen
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