Seit diesem Sommer darf sich Jascha Kolberg „Dr. rer. nat.“ nennen. Er ist der erste Absolvent, dem die Hochschule Darmstadt (h_da) im Fach Informatik den Doktortitel selbst verleihen durfte. Ein Meilenstein für die h_da und das vor vier Jahren gegründete hochschulübergreifende Promotionszentrum Angewandte Informatik (PZAI). Das in Darmstadt angesiedelte PZAI war das erste seiner Art in Deutschland, eine gemeinsame Einrichtung der vier Hessischen Hochschulen Darmstadt, Fulda, RheinMain und Frankfurt University of Applied Sciences. Mehr als 50 Promotionsvorhaben laufen mittlerweile. Zeit für eine erste Bilanz.
Von Astrid Ludwig, 10.12.2021
Mehr als 15 Jahre hat Bernhard Humm, Professor für Software Engineering und Projektmanagement am Fachbereich Informatik der h_da, kooperative Promotionen betreut. Kooperativ deshalb, weil wer in früheren Zeiten an einer Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW) Doktorwürden anstrebte, diesen Weg nur gemeinsam mit einer Partneruniversität gehen konnte. Das änderte sich 2016, als zuerst in Hessen forschungsstarke HAWs ein eigenständiges Promotionsrecht erhielten. Die Begeisterung darüber, dass ihre Studierenden nun an der eigenen Hochschule promovieren können, ist bei dem Informatik-Professor und seinen Kolleg*innen ungebrochen. „Das ist eine Chance“, ist Bernhard Humm überzeugt, „nicht nur für die Promovierenden selbst, sondern auch für die Hochschulen – mit einer eigenen Forschungskultur, die sich an praktischen Anwendungen und gesellschaftlichem Nutzen orientiert“.
Die vier Hochschulen für Angewandte Wissenschaften mit Sitz in Darmstadt, Frankfurt, Fulda und Wiesbaden zögerten nicht lange. Sobald sich abzeichnete, dass die hessische Landesregierung den Weg für forschungsstarke Fachbereiche freigeben würde, ergriffen sie ihre Chance. „Wir haben seit 2015 viel Arbeit investiert, als klar wurde, welche Potenziale es gibt“, erinnert sich Ralf Dörner, Professor für Graphische Datenverarbeitung und Virtuelle Realität an der Hochschule RheinMain. Dörner ist heute der Sprecher des Promotionszentrums für Angewandte Informatik. Die Idee, gemeinsam etwas auf die Beine zu stellen, kam früh. „Die Informatik war immer forschungsstark“, sagt er. Bereits im Mai 2016 trafen sich Vertreter*innen der Fachbereiche der vier Hochschulen zu ersten Gesprächen über ein hochschulübergreifendes Zentrum. Nicht nur über die mögliche Organisation und Ausgestaltung war zu beraten, auch ausreichend viele Professoreninnen und Professoren für die Mitarbeit und Betreuung der Doktorarbeiten mussten gewonnen werden. „Kooperationen gab es auch zuvor immer mal wieder, aber nicht so intensiv wie heute“, betont Professor Humm.
„Wichtiger Beitrag zur Nachwuchsförderung im Bereich Informatik“
Im November 2017 war es soweit. Die h_da richtete ihren Tag der Forschung aus, als das neue Zentrum offiziell in Darmstadt eröffnet wurde. Erstmals nahm an einer deutschen HAW ein Promotionszentrum für Angewandte Informatik seine Arbeit auf, hieß es dazu in einer Presseerklärung der HAW Hessen. Boris Rhein, damals hessischer Wissenschaftsminister, sah einen Anreiz im Wissenschaftssystem geschaffen: „Damit leisten wir einen wichtigen Beitrag zur Nachwuchsförderung in dieser Fachrichtung.“
Die Geschäftsstelle des Zentrums ist an der h_da angesiedelt. Mehr als 30 Professor*innen der vier Hochschulen betreuen die Promovenden. Das Interesse ist groß. Die Zahl der Bewerbungen übersteigt die der Aufnahmen. Die Wachstumskurve zeigt seit der Gründung steil nach oben. 2018 waren die ersten sechs Promovenden im PZAI angenommen, ein Jahr später kamen weitere 19 Promotionsvorhaben dazu. Bis heute sind es insgesamt 51.
Im Sommer 2021 war Jascha Kolberg der erste erfolgreiche Absolvent, den das PZAI feiern konnte. An der h_da und im Nationalen Forschungszentrum für angewandte Cybersicherheit ATHENE befasst sich Kolberg – mittlerweile als Post-doc - mit der Sicherheit biometrischer Systeme und Authentisierungsverfahren. In seiner Dissertation analysierte er verschiedene Methoden und Systeme, um den Missbrauch von Fingerabdrücken zu erkennen.
Rund 15 bis 20 Bewerber und Bewerberinnen nimmt das Promotionszentrum jährlich auf. Eine Grenze gibt es nicht, sagt Bernhard Humm, der Vorsitzender des Promotionsausschusses des PZAI ist. Qualitätskriterien sind die alleinige Beschränkung. Der Promotionsausschuss, dem Humm und Kollegen*innen der vier Partnerhochschulen als auch ein Vertreter der Promovierenden angehören, prüft den Annahmeantrag, die formalen Voraussetzungen und nimmt eine fachliche Begutachtung des Themas vor. Alle Interessierten, mahnt Professor Humm, müssen jedoch auch für sich selbst richtig einschätzen, was wissenschaftliches Arbeiten über einen langen Zeitrahmen von drei bis fünf Jahren bedeutet. Natürlich gebe es Kandidaten:innen, die dann doch nicht mit der Doktorarbeit beginnen oder sie abbrechen. „Das ist normal.“ Bisher zählt das PZAI in vier Jahren aber nur ein abgebrochenes Promotionsvorhaben.
Unternehmen suchen innovative Lösungen für praktische Probleme
Oftmals haben die Hochschulen Forschungsprojekte und Drittmittel eingeworben, für die sie Promovierende suchen. Studierende aus dem eigenen Haus werden gerne genommen. „Es ist von Vorteil, wenn man Bewerberinnen und Bewerber schon kennt“, die Erfahrung hat auch Professor Humm gemacht. Die Statistik gibt ihm recht. Mehr als 50 Prozent der Promovierenden kommen von den vier Partnerhochschulen des PZAI. Die übrigen zumeist von anderen Hochschulen Angewandter Wissenschaften in Deutschland, aber auch von Universitäten aus dem In- und Ausland. Für Ralf Dörner sind diese Zahlen nicht verwunderlich: „Etwa die Hälfte aller Informatikstudierender in Deutschland studiert an einer HAW“. Kandidaten:innen der Hochschulen in Darmstadt, Fulda, Wiesbaden oder Frankfurt schätzen, dass sie bereits ein Netzwerk knüpfen konnten und die Lehrenden kennen. Das erleichtert den Einstieg in die Doktorarbeit.
Doch noch weitere Besonderheiten machen das Promotionszentrum attraktiv: Die Forschung an der HAW ist stark an der Praxis ausgerichtet, vielfach stehen Projekte und Unternehmen im Hintergrund, die innovative Lösungen für ihre Fragen oder Problemstellungen suchen. „Wir legen großen Wert auf echte Anwendungsorientierung in der Forschung, auf Fragestellungen von gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Relevanz. Das gehört zu unserem Profil“, sagt der PZAI-Sprecher.
Neu und anders ist auch die strikte Trennung von Betreuung und Begutachtung der Doktorarbeit, wie sie der Wissenschaftsrat schon länger fordert. Die Dissertation wird stets durch zwei Gutachter:innen geprüft, einer davon muss extern sein. Der oder die Betreuenden der Arbeit dürfen kein Gutachter sein. „Auf diese Weise sind Promovierende nicht abhängig von einer Person und erhalten mehrere Perspektiven“, betont Professor Dörner. Betreut wird am PZAI zudem im Team. Sicherheit bietet ein extra abgeschlossener Betreuungsvertrag. Auch das eine Besonderheit des Zentrums.
Breites Themenspektrum von Machine Learning über Green IT bis IT-Sicherheit
Die Themen der Doktorarbeiten reichen von Mensch-Computer Interaktion, Künstliche Intelligenz und Machine Learning über Industrie 4.0, Smart City und Green IT bis zu Kommunikations-Technologie und IT-Sicherheit. „Die Themen ergeben sich aus der Forschung unserer Mitglieder“, betont der PZAI-Sprecher. Ralf Dörner sieht darin eine „Momentaufnahme“, die wechseln kann und abhängig ist von aktuellen Herausforderungen in Gesellschaft und Wirtschaft. „Das zeigt unsere Vielseitigkeit und Flexibilität, relevante Themen der Angewandten Informatik zu erforschen“, bekräftigt Prof. Humm.
Für Prof. Nicole Saenger, Vizepräsidentin der h_da für Forschung und Nachhaltige Entwicklung, verdeutlicht die Entwicklung des PZAI „unsere lebhafte Forschung zu innovativen Themen, die unserem Nachwuchs sehr gut Raum für wissenschaftliche Entwicklung bieten“. Eigenständig Doktortitel verleiht die h_da nunmehr nicht nur in der Informatik, sondern auch über das hochschulübergreifende Promotionszentrum Soziale Arbeit sowie das neue, bundesweit einmalige Promotionszentrum Nachhaltigkeitswissenschaften.
Nach vier Jahren ziehen die Informatikerinnen und Informatiker eine überaus positive Bilanz. Das PZAI habe Strahlkraft entwickelt. „Es gibt viele positive Impulse, die wir so anfangs gar nicht auf dem Radar hatten“, sagt Professor Dörner. Bei internationalen Partnern würden die dem Zentrum angeschlossenen HAWs als Einrichtung mit eigenständigem Promotionsrecht ganz anders wahrgenommen. Die hochschulübergreifende Zusammenarbeit im Zentrum bewirke „eine stärkere Vernetzung der Partner, ein verbessertes Forschungsumfeld insgesamt und größere Gestaltungsmöglichkeiten“, unterstreicht der Sprecher. Sein Kollege Bernhard Humm spricht von einer neuen, eigenen Wissenschafts- und Forschungskultur an den HAWs. Ziel seien „Nutzen stiftende und qualitativ hochwertige Doktorarbeiten“.
Positives Feedback kommt laut Prof. Dörner aus der Industrie. „Innovation und Forschung wird immer wichtiger – auch im Mittelstand und in kleineren Unternehmen. Mit unserem Zentrum bedienen wir den hohen Bedarf an Personen, die auch außerhalb einer Hochschule im Bereich Angewandte Informatik eigenständig forschen können.“
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Christina Janssen
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Hochschulkommunikation
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