Studierende sitzen als Gruppe in einem Hörsaal, rechts davon Professor Mario Rund
"Einsamkeit betrifft alle Menschen"

Alle Jahre wieder rückt in der Vorweihnachtszeit das Thema Einsamkeit in den Blick. Das gesellige Fest sei für manche Menschen ein einsames, so heißt es. Wie zeigt sich Einsamkeit in unserer Gesellschaft und wie sollten wir mit ihr umgehen? Dazu spricht impact mit Prof. Dr. Mario Rund vom Fachbereich Soziale Arbeit. Er ist Experte für Gemeinwesen und Partizipation und sieht den Umgang mit Einsamkeit als gesamtgesellschaftliche und dauerhafte Querschnittsaufgabe.                        

Interview: Simon Colin, 26.11.2024

Herr Rund, wann haben Sie sich zuletzt gewünscht, auf einer einsamen Insel zu sein?

Prof. Dr. Mario Rund: Das habe ich mir tatsächlich noch nie gewünscht, da ich es nicht für erstrebenswert halte, außerhalb sozialer Kontakte zu leben. Natürlich hat jeder Mensch zwischendurch mal das Bedürfnis, sich zurückzuziehen. Aber die Gewissheit, dass man zurückkommen kann in eine Gemeinschaft mit Menschen, die man liebt und die einen lieben, ist die Voraussetzung dafür, diese Selbstisolation auch auszuhalten. Jetzt sind wir übrigens schon mittendrin im Thema, denn diese Gemeinschaft ist vielen Menschen gar nicht gegeben.

impact: Keine Frage, das Bild der einsamen Insel romantisiert das Thema Einsamkeit. Was passiert eigentlich mit uns, wenn wir einsam sind?

Rund: Es kommt zunächst sehr stark darauf an, wie man die Einsamkeit empfindet. Das ist hoch individuell. Einsamkeit ist dennoch keine individuelle Problematik. Sie ist weltweit in allen Industriestaaten ein gesamtgesellschaftliches Thema. In einigen Staaten gibt es bereits spezielle Ministerien, zum Beispiel in Japan, wo Einsamkeit ein großes Problem ist. Gut erforscht sind die erheblichen gesundheitlichen Folgen. Einsamkeit tötet, sie verkürzt das Leben. Das muss man so deutlich sagen. Sie belastet das Gemeinwesen und das Gesundheitssystem. Wenn Menschen sich zurückziehen, kann sich das auch negativ auf den sozialen Zusammenhalt auswirken. Das kann dann demokratiegefährdend werden. Einsame Menschen neigen eher zu extremen politischen Positionen.

impact: Welche unterschiedlichen Formen von Einsamkeit gibt es?

Rund: Man kann Einsamkeit zum Beispiel zeitlich unterscheiden. Eine vorübergehende Einsamkeit kennt jeder, wenn man zum Beispiel auf die Kinder oder die Liebsten wartet. Das ist vollkommen normal. Die situative Einsamkeit kann länger dauern, über ein Jahr. Zum Beispiel nach dem Tod von Angehörigen, dem Verlust des Arbeitsplatzes oder einer psychischen Erkrankung. Auch ein Umzug oder die Migration gehören hierzu. Menschen, die in einer anderen Gesellschaft ankommen, erleben sich oft erst einmal auf sich alleine bezogen. Und dann gibt es noch die chronische, lang anhaltende Einsamkeit. Sie kann sehr schädigend für die Gesundheit sein.

impact: Gerade jetzt in der Vorweihnachtszeit ist Einsamkeit wieder ein Thema. Warum ist das so?

Rund: Weihnachten ist, wie auch an andere religiöse Feste, stark mit Familie verbunden. Das heißt aber nicht, dass es automatisch problematisch ist, wenn ich an Weihnachten alleine bin. Das ist wie bereits gesagt sehr subjektiv und individuell, wie ich Einsamkeit wahrnehme. Dennoch wird Einsamkeit an Weihnachten oft aufgund der damit verbunden Erwartungen als Problem gesehen. Allerdings nicht als individuelles Problem, sondern als Fehlen von Gemeinschaft und sozialem Zusammenhalt. Das weist bereits darauf hin, wo das Problem liegt: An den Gelegenheiten, sich zu begegnen.

impact: Welche Gelegenheiten könnten das sein?

Rund: Als Sozialwissenschaftler schaue ich auf das Thema aus der Perspektive des Gemeinwesens. Da gibt es zunächst Angebote wie die Telefonseelsorge und weitere Notfallangebote. Für mich ist Einsamkeit jedoch insbesondere eine Frage der Partizipation, der Teilhabe und Mitbestimmung. Hier rücken dann Angebote wie Nachbarschaftszentren oder Begegnungsstätten in der Wohnumgebung in den Blick. Die Frage hierbei ist aber nicht: Was bietet die Soziale Arbeit an? Die Frage ist eher: Was brauchen die Menschen, die einsam sind? An Weihnachten ist es zum Beispiel eher eine kurzfristige Unterstützung. Um dem Problem Einsamkeit jedoch langfristig zu begegnen, sind strukturelle Voraussetzungen und längerfristige Strategien wichtig. Einsamkeit ist kein Problem Einzelner. Sie ist eine multiperspektivische Herausforderung und muss so auch angegangen werden.

impact: Was müsste die Gesellschaft konkret tun, um dem Thema Einsamkeit zu begegnen?

Rund: Einsamkeit wird individuell gefühlt, hängt aber auch von den gesellschaftlichen Möglichkeiten ab. So sind zwar Beratungsangebote wichtig, die Menschen auf einer eher psychologischen Ebene stärken. Viele Angebote sind hierbei sehr zielgruppenorientiert, was auch richtig sein kann. Da werden zum Beispiel ältere Menschen oder Jugendliche und Familien adressiert. Wir brauchen aber etwas, das über Gruppen und sozialen Status hinausgeht, das sich an alle richtet und niemanden ausschließt, denn Einsamkeit betrifft alle Menschen. Wir sollten daher die Voraussetzungen schaffen, dass Menschen, ausgehend von ihren Bedürfnissen und Möglichkeiten, Zugang zu Gemeinschaften erhalten, und zwar nach ihren Regeln. Das ist das Entscheidende.

impact: Passiert das bereits ausreichend?

Rund: Die Bundesregierung hat eine Strategie gegen Einsamkeit entwickelt mit sehr guten Zielen. Dazu gehört, die Öffentlichkeit zu sensibilisieren, um dem Stigma von Einsamkeit entgegenwirken, so dass sie nicht mehr mit Versagen verbunden wird. Die Strategien müssen aber immer vor dem Hintergrund angeschaut werden, welche Ursachen Einsamkeit hat. Das geschieht noch nicht so gut. Einsamkeit müsste vor allen Dingen als Querschnittsthema für eine kommunale Sozialpolitik gedacht werden. Dazu brauchen wir dauerhafte Strukturen.

impact: Sie beschäftigen sich viel damit, wie dies auf der kommunalen Ebene funktionieren könnte, also in Städten und Gemeinden. Wo ist hier der Hebel?

Rund: Dazu braucht man eine koordinierte kommunale Planung, die neben sozialen Angeboten zum Beispiel auch die Mobilität betrachtet. Sie können einsamkeitspräventiv wirken, indem sie den ÖPNV kostenlos machen. Denn Einsamkeit ist stark assoziiert mit Armut. Sie können städtebaulich Begegnungsorte in öffentlichen Räumen schaffen. Menschen sollen vor Ort wohnen, leben – und sich begegnen. Wenn die kommunale Planung solche verschiedenen Aspekte zusammenbringt, kann sie sofort sehen, wo Maßnahmen gegen Einsamkeit gezielt eingesetzt werden müssen. Es braucht dann keine Einsamkeitsplanung und Einsamkeitspolitik, auch keine „Begegnungscafés für Einsame“, wenn ich ein Sensorium habe, das mich aufmerksam macht, wo Menschen potentiell vom sozialen Leben ausgeschlossen sind.

impact: Gibt es Städte, die das alles schon gut umsetzen?

Rund: Stuttgart hat zum Beispiel mit einer Einsamkeitsstrategie begonnen, hier verbindet sich die kommunale Planung direkt mit Quartiereinrichtungen. Auch Erfurt, hier sind die Fachpersonen aus der Quartier- und Sozialraumarbeit mit der Planung verbunden und können sofort sagen, wo man planerisch genau hinschauen muss. Zusammen also mit den Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern, die die Persepktiven der Menschen einbringen, die dort wohnen. Das halte ich für einen erstrebenswerten Weg statt vieler Einzelinitiativen. Wichtig ist auch eine professionelle Nachbarschaftsarbeit. So kann man Menschen erreichen, die sich zurückziehen. Da reicht es manchmal, eine Grußkarte zwischen die Tür zu stecken. Auch Darmstadt hat hierfür gute Voraussetzungen geschaffen.

impact: Welche Rolle spielen Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter?

Rund: An Quartiersprojekten kann man gut zeigen, worum es geht. Da sind die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter in der direkten Lebens- und Wohnumwelt der Menschen. Deshalb gibt es auch nur geringe Hürden, die Angebote zu nutzen. Die Fachpersonen unterstützen die Menschen darin, ihre Angebote selbst zu gestalten. Sie schaffen lediglich die Rahmenbedingungen, wenn zum Beispiel eine Weihnachtsfeier organisiert werden soll. Das ist eine hochqualifizierte Arbeit, über Zielgruppen hinweg dazu beizutragen, dass Menschen sich beteiligen können. Wir brauchen solche gut ausgebildeten Fachpersonen vor Ort.

impact: Denkt Soziale Arbeit das Thema in der Ausbildung schon genug mit?

Rund: Meine These ist, dass Einsamkeit im Kern ein Partizipationsproblem ist. Dabei sein und mitbestimmen können kann verhindern, dass Einsamkeit entsteht. Soziale Arbeit trägt dazu bei, Menschen teilhaben zu lassen an allen gesellschaftlichen Bereichen. Daher bearbeitet die Soziale Arbeit das Thema indirekt immer mit. Am Fachbereich Soziale Arbeit der h_da gibt es eine lange Tradition, Fachpersonen auf diesem Feld auszubilden. Sie tragen dazu bei, dass die Strategien gegen Einsamkeit gelingen, weil ihnen die Menschen Vertrauen schenken.

impact: Verlassen wir zum Schluss die kommunale Ebene und gehen ins Digitale. Inwiefern tragen Smartphone und Soziale Medien zur Einsamkeit bei?

Rund: Gerade für junge Menschen ist das Smartphone wie ein Körperteil. Smartphones und Soziale Medien sind zunächst erst einmal hervorragende Werkzeuge, um Begegnungen zu arrangieren. Man kann Kontakte damit aber auch substituieren. Die Verführung ist hoch, zu einer nur virtuellen Gemeinschaft zu gehören. Entscheidend ist die Kompetenz, Smartphones und Soziale Medien in partizipativer Weise zu nutzen. Dazu braucht es ein kritisches Bewusstsein.

impact: Öfter mal weg vom Smartphone, geht raus und trefft euch: Könnte das ein Weg sein?

Rund: Machen Sie beides. Eigentlich müsste es so etwas geben wie öffentliche Social Media. Ein Netzwerk für das Quartier, kuratiert von einer öffentlichen Organisation. Ohne Werbung, ohne die Logik der Algorithmen, die Beziehungen eskalieren lässt. Es gibt eine Netiquette, alle haben die gleichen Möglichkeiten. Das ist aber vielleicht ein eher kühner Gedanke.

Kontakt

Simon Colin
Wissenschaftsredakteur
Hochschulkommunikation
Tel.: +49.6151.533-68036
E-Mail: simon.colin@h-da.de

Fotografie: Markus Schmidt