Erweiterte Realitäten gelten in Industrie, Medizin, Bildung oder auch im Entertainment als wichtige Zukunftstechnologie. Bei Produktionsabläufen, in der Aus- und Weiterbildung, in der Zusammenarbeit auf Distanz oder schlicht im Alltag können virtuelle Anwendungen helfen, Prozesse zu verbessern und Komplexes zu veranschaulichen. Dazu müssen sie intuitiv funktionieren, gut designed sein und Erlebnischarakter haben. Am Fachbereich Media der Hochschule Darmstadt lernen Studierende, diesen Zukunftsmarkt mitzugestalten.
Von Simon Colin, 25.8.2022
Entspannt wiegt sich die gigantische Riesenpflanze mit der lilafarbenen Pilzkrone im virtuellen Wind. Auf dem Vorplatz des h_da-Hochhauses bewegen sich unzählige weitere bunte Pflänzchen, sprießen, schießen in die Höhe, beleben das Hochschul-Wunderland. Da, eine Beere kommt zum Vorschein und bringt den Spielenden Extrapunkte, mit denen sich Selfie-Filter auf dem Smartphone aktivieren lassen.
In der neuen Augmented Reality-App „Garden of Knowledge“ wird der h_da-Campus zum virtuellen Wissensgarten. User können die farbenfroh programmierte Vegetation entdecken, Beeren und mit ihnen Punkte sammeln und dabei in den Wettbewerb mit anderen Usern treten. Entwickelt wurde die App von h_da-Studierenden der Studiengänge Expanded Realities und Expanded Media. In einem aufwändigen Praxisprojekt haben sie den Garden of Knowledge über ein Jahr lang gestaltet, programmiert und digital gepflegt. Veröffentlicht wurde die App zum 50sten Jubiläum der Hochschule und steht nun für alle Smartphones zur Verfügung.
Was zunächst anmuten mag wie ein nettes Spielchen für den Zeitvertreib, ist allerdings maßgeschneidert für die Generation Tik Tok und somit Teil des Konzepts. Auftraggeber für das studentische Team war die Hochschule selbst, die sich von der App unter anderem verspricht, Studieninteressierten einen unkonventionellen Zugang zur h_da zu ermöglichen. Aufgabe war, auf spielerische Weise eine Wissenslandschaft zum Leben zu erwecken.
Diese Herausforderung nahmen die Studierenden und Lehrenden vom Mediencampus an. Sie machten daraus eines jener anwendungs- und praxisorientierten Projekte, in denen die Studierenden bereits während ihrer Ausbildung so professionell wie im späteren Berufsleben agieren. Klar war von Beginn an, dass eine Augmented Reality-App entstehen soll. AR erweitert die Realität durch Einbindung virtueller Objekte, hier also durch die Einblendung einer künstlichen Pflanzenwelt. Virtual Reality hingegen lässt Menschen komplett in eine eigene, am Computer erschaffene Realität eintauchen. Beides wird am Mediencampus der h_da gelehrt und hier unter Erweiterte Realitäten oder Extended Reality gefasst, wie etwa auch die Mixed Reality, in der sich reale und virtuelle Welt vermischen. ER gelten als gigantischer Zukunftsmarkt für Wirtschaft wie Gesellschaft. Sie könnten in den kommenden Jahren fast alle Lebensbereiche durchdringen.
Wachstum von Wissen zeigen
Für den Garden of Knowledge fokussierte sich Prof. Georg Struck, Experte für Storytelling in Erweiterten Realitäten, gemeinsam mit Experience Design-Experte Prof. Philip Hausmeier und den Studierenden aus dem Bachelorstudiengang Expanded Realities sowie aus dem Masterstudiengang Expanded Media unter anderem auf die inhaltliche Konzeption des AR-Erlebnisses. „Hierbei sind neue Erzählformen nötig, denn im Gegensatz etwa zum Film sind die Nutzerinnen und Nutzer direkt involviert, spielen also eine aktive Rolle.“ In der Entwicklung von Anwendungen für Erweiterte Realitäten geht es daher immer auch darum, wie User in der virtuellen Welt agieren und wie sie diese erleben. Dies ist Aufgabe des User Experience Designs, das mit zur Attraktivität und somit zum Erfolg einer Anwendung beiträgt.
Die h_da-Studierenden ließen zunächst einmal ihre Kreativität sprießen. Eines der entwickelten AR-Konzepte machte aus dem neuen Studierendenhaus der h_da ein Wissenschafts-Raumschiff, ein anderes lud ein zur Wissens-Achterbahn auf dem Campus. Schließlich entschied man sich für das Konzept des Garden of Knowledge mit dem Ziel, das organische Wachstum von Wissen zu zeigen und die Schönheit, die aus Neugierde entsteht. Die h_da ließ sich von dem Konzept überzeugen und gab ihm den Zuschlag. Programmierung und Design der App, Story und Design der Usererfahrung, die komplette Entwicklung der Anwendung lag fortan in den Händen des studentischen Teams bis hin zum erfolgreichen Launch in den Stores von Android und Apple. Mission accomplished.
Auf einer scheinbar unmöglichen Mission befand sich 20 Jahre zuvor hingegen Tom Cruise in Steven Spielbergs Science Fiction-Klassiker Minority Report. Als der Film 2002 in die Kinos kam, wirkte es noch ziemlich futuristisch, wie Cruise in einer riesigen digitalen Kommandozentrale mit virtuellen Elementen hantiert, per Handbewegung Befehle erteilt und erweiterte Realitäten nutzt, um einen Mordverdacht zu entkräften. Ganz so dramatisch geht es am Mediencampus der h_da zwar nicht zu, allerdings erinnert das, was Student Gian Dubberke gerade in der Cave macht, schon ein wenig an den Hollywoodthriller-Klassiker.
Über Ländergrenzen hinweg
Wie in einer Höhle ist man in einer Cave eng umgeben von Wänden, in diesem Fall von riesigen Monitoren an allen Seiten. Aufgrund ihrer Positionierung ermöglichen sie ein Eintauchen in die Virtual Reality. In der Hand hält er einen Controller, den er mal hierhin und mal dorthin bewegt, was sich direkt auf das Geschehen auf den Monitoren auswirkt. Was das menschliche Auge nicht sieht: Gian Dubberke steht in einem Lasernetz, ausgestrahlt von so genannten Lighthouses, die auf ihn gerichtet sind und seine Position erfassen. Hierdurch kann er sich in der virtuellen Umgebung bewegen und diese beeinflussen. Aktuell befindet er sich im antiken Griechenland und arbeitet an seiner Anwendung zum Mechanismus von Antikythera. Die Hintergründe dieser antiken astronomischen Uhr möchte er erlebbar machen.
Seitlich von ihm und außerhalb der Cave steht Kommilitone Brandon Collins, der das Geschehen mit VR-Brille verfolgt, ebenfalls mit dabei ist in Antikythera und mit Gian Dubbercke interagieren kann. Brandon Collins könnte gerade auch in Griechenland stehen, und genau darum geht es im Projekt der Studierenden. Gemeinsam mit ihren Professoren Frank Gabler und Paul Grimm arbeitet das studentische Team aus dem Bachelorstudiengang Expanded Realities an so genannten „Immersive Future Learning Spaces“, die auch für die Initiative European University of Technology (EUt+) genutzt werden sollen. Die h_da ist Partnerin in diesem europäischen Hochschulnetzwerk, zu dem auch die zypriotische Cyprus University of Technology zählt, die Gian Dubberke für sein Projekt gewinnen möchte. Für alle EUT+ Hochschulen entwickelt das h_da-Team derzeit ER-Anwendungen zur digitalen, länderübergreifenden Lehre der Zukunft.
„Wir möchten Lernräume schaffen, in denen man über Ländergrenzen hinweg miteinander arbeiten kann“, erläutert Prof. Paul Grimm. Doch wie können solche virtuellen, immersiven Klassenräume aussehen, in die man als User eintauchen kann? Wie lassen sie sich erleben? Daran tüfteln die Studierenden und haben hierbei wie ihre Garden of-Knowledge-Mitstudierenden alle Elemente von der Programmierung bis zum gestalterischen Feinschliff in der Hand. „Im Grunde geht es hier um User-Experience-Design, also um die Nutzererfahrung bei der Interaktion mit einem immersiven digitalen Produkt, die Studierenden arbeiten dabei wie in einer Agentur“, ordnet Prof. Frank Gabler ein. Die Projekte der Studierenden lassen sich aus dem Hochschulkontext hinaus auch auf viele weitere Bereiche übertragen. Denkbar sind solche Konzepte etwa in der Aus- und Weiterbildung von Unternehmen.
Erweiterte Realitäten vor dem Durchbruch
Isabel Bartelmus und Lisa Fröhlich Gabra beschäftigen sich für die EUT+-Partnerhochschule in Rumänien mit einem Projekt zur Energieversorgung. Erweiterte Realitäten unterstützen dabei, Netzengpässe oder Netzausfälle zu simulieren. In Leitstellen von Energieunternehmen könnten solche virtuellen Trainings einmal helfen, den Ernstfall zu proben. „Expanded Realities eignen sich besonders gut auch dort, wo es zu teuer oder zu gefährlich wäre, ausschließlich in Real Life zu arbeiten“, sagt Isabel Bartelmos. In praktisch jeder Branche gibt es hierfür Anwendungsmöglichkeiten: Zum Beispiel in der Medizin zur Vorbereitung oder Begleitung von Operationen oder in der Industrie zum Training an teuren Geräten. Viele Branchen arbeiten auch bereits mit VR oder AR, etwa die Automobilindustrie an Prototypen über unterschiedliche Standorte hinweg, Museen zur Ergänzung ihres Angebots oder Unternehmen in der Gebäudesicherheit.
Prof. Frank Gabler sieht Virtual- oder Augmented Reality-Anwendungen vor dem Durchbruch in die Breite der Bevölkerung stehen. Die Corona-Pandemie habe die Bereitschaft noch einmal verstärkt, sich auf digitale Innovationen einzulassen. Zugleich stünden Erweiterte Realitäten noch ganz am Anfang ihrer Evolution. Dem stimmen auch seine Kollegen Prof. Paul Grimm, Prof. Philip Hausmeier und Prof. Georg Struck zu. Noch fehle es an niedrigschwelliger Technik. Noch leichtere Brillen oder gar Kontaktlinsen könnten die Akzeptanz steigern oder wenn große Player wie Apple oder Meta intensiv einsteigen und ER massenkompatibel machen.
Die h_da-Studierenden fühlen sich derweil gut gerüstet für Profijobs in einem internationalen Markt, irgendwo mittendrin in virtuellen Welten. Auch ihr Garden of Knowledge wird sich weiterentwickeln. Vielleicht also begegnet den Usern der AR-App demnächst farbenfroh dahinwehendes Herbstlaub auf dem Campus oder sie fangen Flocken im winterlichen Schneegestöber vor dem Hochhaus. Und mal schauen, vielleicht lässt sich ja sogar das erfrischende Bibbergefühl virtuell vermitteln.
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Simon Colin
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