Christoph Becker und Prof. Jan-Philipp Hoffmann diskutieren im Hörsaal
„Für neue Probleme brauchen wir neue Experten“

Die Mathematik-Professoren Christoph Becker und Jan-Philipp Hoffmann von der Hochschule Darmstadt starten eine eigene YouTube-Serie. Einen verständlichen Überblick über das Geschehen im Finanzsystem wollen sie dort geben – und für ihr Fach begeistern.

Interview: Kilian Kirchgeßner, 23.5.2023

impact: Ihre Videos sind auffällig: Sie haben sich Ihre Haare nicht blau gefärbt wie andere Youtuber und hüpfen auch nicht wild durchs Bild.

Christoph Becker: Stimmt, und im Gegensatz zu manchem Youtuber mit blauen Haaren senden wir auch keine vernichtende Kritik einer Partei und hören dann mit dem Vortrag einfach wieder auf. Im Ernst: Wir möchten natürlich Probleme im Finanzsystem kritisch und klar benennen. Aber dann möchten wir sie in einen größeren Zusammenhang einordnen und nach Verbesserungsmöglichkeiten suchen, die realistisch und konkret umsetzbar sind. In der Problemanalyse steckenbleiben? Können wir uns nicht mehr leisten!

impact: Wie kamen Sie überhaupt auf die Idee, Videos zusammen zu machen?

Becker: Wir sitzen in einem gemeinsamen Büro, da hat sich das von allein ergeben. Das war einfach ein Zufall.

Jan-Philipp Hoffmann: Moment: Bis jetzt hast du nie Zufall gesagt, sondern Glücksfall… (beide lachen). Aber ganz im Ernst: Es ist unheimlich befruchtend, dass wir das Projekt gemeinsam angehen, weil wir manchmal völlig unterschiedlich über ein Thema denken und uns sozusagen von zwei Seiten aus einem Problem entgegenbohren.

Becker: Ich wähle gern die Vogelperspektive. Nehmen Sie die aktuelle Bankenkrise in den USA: Was bedeutet sie für das Finanzsystem als Ganzes? Was bedeutet sie für die Asset Manager, was für die kleine Bank bei uns um die Ecke? Das ist die Ebene, auf der ich mich gerne bewege…

Hoffmann: …und ich bin vor vier Jahren aus einer Bank an die Hochschule gekommen und wähle eher die Finanzmanagement-Perspektive: Wie geht man also betrieblich mit den Verwerfungen um, wie kann man reagieren? Durch den Abgleich zwischen beiden Perspektiven nähern wir uns tatsächlich immer wieder an und finden gut zueinander. Auf diesen Weg durch die Fakten und Perspektivwechsel möchten wir die Zuschauer mitnehmen.

impact: Was ist in der komplexen Gemengelage am Finanzmarkt denn thematisch der Ausgangspunkt für Ihre Videos?

Becker: Lassen Sie uns dafür nur auf die aktuellen Fragen schauen – auf die Energiewende zum Beispiel und die Infrastruktur an Stromleitungen, die dafür notwendig ist. Diese Infrastruktur muss bezahlt werden – ist das aus Finanzmarktperspektive also einfach nur das nächste große Anlageobjekt oder kann das nicht auch die nächste Blase werden? Wollen wir die Infrastruktur jetzt auch noch privaten Investoren überlassen und wenn ja: Was könnte dabei schiefgehen? Ist es eine gute Idee, wenn grundlegende Infrastruktur im Besitz global operierender Fonds ist? Spätestens seit 2008 war ja vielen klar: Diesem globalen Finanzsystem mit seinen Fonds ist nicht so recht über den Weg zu trauen – aber mit der kleinen Bank um die Ecke funktioniert alles ganz gut. Jetzt bricht auch diese vermeintliche Gewissheit ein – wem sollten wir also die Finanzierung der Infrastruktur anvertrauen?

Hoffmann: Sie sehen schon an dieser Antwort, wie viele Fragestellungen sich ergeben, wenn man erstmal in das Thema eintaucht. Wir versuchen zu erklären, was zum Beispiel bei der Silicon Valley Bank in den USA unlängst passiert ist – und wir wollen es mathematisch fassbar machen, also berechnen.

Update Finanzmärkte #3: Lokale Finanzierung

Update Finanzmärkte #3 (Prof. Dr. Christoph Becker)


Auf 'Play' wird externer Medieninhalt geladen, und die Datenschutzrichtlinie von YouTube gilt

impact: Setzen Sie die Videos eigentlich auch in Ihrer Lehre ein?

Becker: Zu Beginn von Veranstaltungen berichte ich häufig über wichtige Finanzmarktentwicklungen der vergangenen Woche und setze sie in Bezug zu den Vorlesungsinhalten, ja. Die Video-Reihe „Update Finanzmärkte“ ist im Grunde eine ausführlichere Variante dessen. In den Veranstaltungen selbst spielen mathematische Zusammenhänge dann aber in aller Regel eine größere Rolle.

impact: Die Themen, mit denen Sie sich beschäftigen, sind ja stark in der Volks- und in der Betriebswirtschaft angesiedelt. Sie sind aber Finanzmathematiker. Warum sollte ich mir die Zusammenhänge ausgerechnet von Ihnen erklären lassen?

Becker: Bei den Wirtschaftswissenschaftlern stehen die ökonomischen Zusammenhänge im Vordergrund; wir kombinieren das mit der Mathematik. Vereinfacht gesagt: Wir wollen die Zusammenhänge erklären – und dann unsere Data-Science-Instrumente auf die richtigen Fragestellungen richten.

Hoffmann: In vielen Fachstudiengängen lernt man meist genauso viel Mathematik, wie man braucht, um bis dahin bekannte Fragestellungen sinnvoll zu beantworten. Bildlich gesprochen: Man bekommt genau so viel Besteck, wie man zum Kochen braucht. Wir bringen aber die Erfahrung mit, um zu erkennen, wo die Grenzen der bestehenden Methodik verlaufen – und welche anderen Instrumente da helfen können. Das ist natürlich besonders wichtig in Situationen wie jetzt, in denen bestehende Theorien keine ausreichende Erklärungstiefe mehr bieten. Wir bringen also viel mehr Besteck mit in die Küche.

impact: Werden Sie doch ruhig konkret: Wo genau geraten bestehende Theorien an ihre Grenzen?

Hoffmann: Es gibt zum Beispiel bestimmte Mathematikmethoden, die vor 15 Jahren meist benutzt wurden, um mit den Zinsen umzugehen. Was diese Methoden nicht konnten, war der Umgang mit negativen Zinsen – denn die, so die damals vorherrschende Meinung, gibt es schlicht und einfach nicht. Kurz danach gab es auf einmal negative Zinsen, und die Modelle haben nicht mehr funktioniert. Wer also nur diese eine Methodik gelernt hat, war an diesem Punkt auf einmal überfordert. Wir hingegen können für neue Probleme auch neue Mathematik anwenden.

Jan-Philipp Hoffmann ist Professor für Finanzmathematik an der h_da. Nach seinem Studium in Göttingen und seiner Promotion in Göttingen und Barcelona hatte er Führungspositionen bei Banken inne. Ein Schwerpunkt seiner Forschung liegt auf Modellrisiken. Er untersucht, unter welchen Umständen und Zielsetzungen mathematische Modelle erkenntnisbringend eingesetzt werden können und wo die Grenzen liegen, dass diese zu Fehlentscheidungen führen können.

Christoph Becker ist Professor für Finanzmathematik und Stochastik an der Hochschule Darmstadt. Seine Forschungsinteressen sind Risikomanagement und Stabilität des Banken- und des Schattenbankensystems, die Weiterentwicklung des Finanzsystems zur Finanzierung der Energiewende sowie Finanzmarktökonometrie und Data Science. Christoph Becker arbeitete als Risikomanager bei der Commerzbank AG in Frankfurt. Er studierte Angewandte Mathematik an der Universität Trier und promovierte in Finanzmathematik an der Frankfurt School of Finance & Management.

impact: Das klingt nach einer hochkomplexen Kochshow, um in Ihrer Küchen-Metapher zu bleiben: voller Formeln, Zahlenreihen und Datenpaketen.

Becker: Irrtum: In unserem Video-Projekt steht die Mathematik nicht unbedingt im Vordergrund. Wir beiden hören im Alltag immer wieder dieses Stöhnen: „Wie kann man sich nur für Finanzen und Mathematik interessieren? Wie kann man bloß sein ganzes Berufsleben damit verbringen?“ Wir wollen vermitteln, welche finanzwirtschaftlichen Fragen und mathematischen Methoden die Geschichte so interessant machen. Dass wir den Fokus dabei mehr auf die großen finanzwirtschaftlichen Fragen legen statt auf die mathematischen Details, liegt vielleicht auch in der Natur des Formats begründet: In relativ kurzen Videos lässt sich über aktuelle Finanzthemen besser sprechen als über detaillierte mathematische Modelle.

impact: Moment: Finanzmathematik ohne Mathe – wie geht das?

Hoffmann: In unserer Forschung und unserer Lehre beschäftigen wir uns natürlich mit sehr komplexer Mathematik. Genau dafür werden die Absolventen ja bei Banken, Versicherungen und anderen Institutionen händeringend gesucht. Aber in unseren Videos wollen wir ja keine Vorlesungen halten, sondern uns an eine breitere Zielgruppe richten.

impact: A propos Zuschauer: Wer ist eigentlich Ihre Zielgruppe?

Becker: Es wäre toll, wenn zum Beispiel Abiturientinnen und Abiturienten einschalten, die sich für diese Themen interessieren und vor der Studienwahl stehen. Aber wir zielen auch auf eine breite Öffentlichkeit kritisch interessierter Bürger. Wir möchten mehr Informationen und vor allem Kontext liefern als die Tagespresse, ohne in der Detailtiefe vollständiger Forschungsarbeiten verloren zu gehen. Eben genau so viel wie nötig ist, um an der öffentlichen Debatte zum Finanzsystem informiert teilhaben und seine eigene Position finden zu können.

Hoffmann: Denken Sie an die Bankenpleiten, die viele Menschen beschäftigen. Wenn jemand kein Bild vom Finanzsystem und den Zusammenhängen im Kopf hat, sind Diskussionen zu diesem Thema letztlich immer fruchtlos. Sobald man dieses Bild im Kopf hat, fängt es an Spaß zu machen, in Gedanken an den verschiedenen Rädchen zu drehen.

impact: Merken Sie denn, dass Sie mit diesem Thema offene Türen einrennen? Dass sich die Leute also im Gespräch mit Ihnen nicht mehr erschrecken, wenn sie erfahren, dass Sie Finanzmathematiker sind, sondern interessiert nachfragen?

Becker: Ich weiß noch, dass ich während meiner Promotion lieber nicht darüber redete, dass ich mich mit Derivaten beschäftige, denn da war die Reaktion immer: „Ach, so einer bist du also!“ (lacht)

Hoffmann: Tatsache ist: Wenn es in der Welt gut läuft, diskutiert keiner mit einem. Aber wenn es zu Krisen kommt, dann fragen die Leute gern nach: Kommt jetzt die große Bankenkrise? Wie geht das jetzt weiter mit der Inflation? Das interessiert in der jetzigen Lage sehr viele Leute, und genau deshalb finden wir es wichtig, eine Grundlage für eine informierte Diskussion zu legen. Und mit der Mathematik und dem Rechnen schaffen wir ja wirklich Verständnis; mit einem strikt rationalen Blick lassen sich Erkenntnisse gewinnen und vielleicht auch Lösungen entwickeln.

Becker: Wenn es uns gelingt, unsere Zuschauer auf diesem Weg mitzunehmen und vielleicht sogar zu begeistern, dann wäre das prima. Und vielleicht interessieren sich ja auch ein paar junge Leute dafür, das Thema bei uns im Studium zu vertiefen. Wir brauchen mehr von ihnen!

Kontakt

Christina Janssen
Wissenschaftsredakteurin
Hochschulkommunikation
Tel.: +49.6151.533-60112
E-Mail: christina.janssen@h-da.de

Update Finanzmärkte auf YouTube:
www.youtube.com/hochschuledarmstadt