Das Hessen-Technikum will junge Frauen für ein Studium in den MINT-Fächern begeistern. Das Konzept wurde drei Jahre an der h_da entwickelt und erprobt, seit Oktober 2019 läuft es an allen fünf hessischen Hochschulen für Angewandte Wissenschaften mit technischen und naturwissenschaftlichen Fächern. Eine der aktuell 31 Hessen-Technikantinnen ist die 19-jährige Jana Ziegler aus Ober-Ramstadt. Ein halbes Jahr lang schnuppert sie in Vorlesungen, Labore und Seminare der h_da herein und absolviert zwei vergütete Betriebspraktika.
Das kleine Holzfahrzeug erinnert an einen verkabelten Patienten auf der Intensivstation. Grüne, rote, gelbe oder auch schwarze Drähte hüllen das Miniaturauto in einen Kokon aus Kabeln, die mit unterschiedlichen Infrarot-Sensoren und einem kleinen Einplatinencomputer verbunden sind. Per Fernsteuerung lässt sich das Modellauto lenken, die Geschwindigkeit regeln und ein Sensor erkennt Hindernisse. Elektrotechnik und Informatik für Einsteigerinnen – für Abiturientin Jana Ziegler jedoch „ein Sprung ins kalte Wasser“. Mathematik liegt ihr, aber Informatik oder Elektrotechnik sind Neuland. Fast drei Monate hat die 19-Jährige an dem Innenleben des Holzfahrzeugs getüftelt. Eine praktische Entwicklungsaufgabe, die ihr Praktikumsbetreuer Marius Wrzesniewski gestellt hat. „Ein eigenes Projekt“, sagt er, „gehört immer dazu“.
Jana Ziegler ist Technikantin an der Hochschule Darmstadt. Ende 2019 arbeitete sie vier Tage die Woche als Betriebspraktikantin bei dem Entwicklungsunternehmen ESG Mobility in Rüsselsheim. Der Mittelständler mit weltweit 2.400 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, 80 davon in Rüsselsheim, ist spezialisiert auf komplexe IT- und Elektronische Systeme in der Mobilitätsbranche. Der Ingenieur-Dienstleister ist dabei insbesondere bei internationalen Automobilherstellern, aber auch im Bereich Bahn tätig. Das Unternehmen ist eines der unterdessen 48 Kooperationspartner für das Hessen-Technikum. „Wir sind seit der Pilotphase dabei“, betont Rhein-Main-Niederlassungsleiter Marc Fohlmeister. Zwei Mal im Jahr nimmt ESG Mobility eine Technikantin auf. Der Betreuungsaufwand ist groß, aber die Erfahrungen waren gut. Männer dominieren die Branche. „Ingenieurinnen verbessern das Betriebsklima, bringen einen anderen Blickwinkel ein“, begründet Fohlmeister die Zusammenarbeit mit dem Hessen-Technikum.
Wie im Flugsimulator
Jana Ziegler ist im Vorentwicklungsteam eingesetzt. Hier werden innovative Ideen entwickelt und getestet, darunter neue Funktionen und Baukastensysteme für die Autobranche. Teamleiter Sebastian Miglietta, der übrigens wie sein Kollege Marius Wrzesniewski Elektrotechnik an der h_da studiert hat, zeigt Jana am Demonstrator, wie der adaptive Außenspiegel oder das blickgesteuerte Infotainment-System im Wageninneren funktionieren. Kameras sind außerhalb und innerhalb des Fahrzeugs angebracht. Wie in einem Flugsimulator sitzt die 19-Jährige im Cockpit. Dass sie Einblick in viele Bereiche erhält, findet die Abiturientin spannend. „Ich habe sehr viel mitbekommen und gelernt.“
An der Georg-Christoph-Lichtenberg-Schule in Ober-Ramstadt hat Jana Ziegler Abitur gemacht. Deutsch und Chemie belegte sie als Leistungskurse, doch auch Mathematik zählte zu den Lieblingsfächern. Schon während der Schulzeit hat sie vieles ausprobiert. Sie hat ein Praktikum in Mediengestaltung gemacht, sich über soziale Berufe informiert und mal in die Mechatronik reingeschnuppert. Ihr Vater arbeitet als Maschinenschlosser, Jana ist die erste der Familie, die studieren will. „Ich bin ehrgeizig und habe mir alles selbst erarbeitet“, betont sie.
Nach ihrem Abi war sie unsicher, welche Fachrichtung sie studieren könnte. Vom Hessen-Technikum erfuhr sie in der Studienberatung der Agentur für Arbeit. „Für mich war gleich klar: Das will ich. Schon am nächsten Tag habe ich mich angemeldet und Gespräche an der h_da geführt.“ Obwohl sie das Wahlfach in der Schule nie belegt hatte, interessiert sich die junge Frau für Informatik. Ein Grund, warum sie ESG Mobility als Praktikumsplatz wählte. Die Entwicklung des Modellautos war eine Hürde, die sie meistern musste. „Vor allem die Kommunikationen, die Datenübertragung zwischen den einzelnen Komponenten, ist eine Herausforderung“, weiß Begleiter Marius Wrzesniewski. Jana Ziegler findet es toll, „dass mir nicht alles vorgekaut wird, ich eigenständig arbeiten darf“.
Mittwochs geht es an die h_da
Acht Stunden Arbeit, viermal in der Woche, hinzu kommen fast drei Stunden An- und Abfahrt. Das ist anstrengend. „An den Wochenenden muss ich mich erholen“, lacht Jana Ziegler. Jeweils mittwochs besucht sie mit elf weiteren Technikantinnen an der h_da dann Vorlesungen verschiedener Fachrichtungen – vom Maschinenbau über Bauingenieurwesen bis zur Informatik. Sie hört in Seminare rein oder führt Gespräche mit Studierenden, Professorinnen und Professoren. Unlängst waren sie in den Laboren der Bauingenieure, haben Wasser- und Betonproben analysiert. Die Praxisorientierung der h_da gefällt ihr, ebenso „die Kombination aus Hochschule und Unternehmen“, sagt die Abiturientin. Ihr zweites Technikum-Praktikum absolviert sie von Januar bis März 2020 bei der Telekom in Darmstadt. Wiederum eine Mischung aus Telekommunikation und Informatik. Ein Duales Studium aber, das hat sie als Bilanz für sich bereits gezogen, will sie später nicht aufnehmen. „Ich will mich auf das Studium konzentrieren.“ Das Hessen-Technikum helfe ihr dabei, ein Gespür für die unterschiedlichen Fachrichtungen zu bekommen, sagt sie.
Genau darauf setzt Yvonne Haffner, h_da-Professorin für Soziologie und landesweite Projektleiterin des Hessen-Technikums. Die Wissenschaftlerin hat das Konzept zusammen mit der zentralen Koordinatorin Lena Loge an der h_da entwickelt und auch die Pilotphase von 2015 bis 2018 betreut. Mädchen, weiß sie, zweifeln oft an ihren Mathematik-Kenntnissen. Sie trauen sich ein Studium in MINT-Fächern nicht zu oder wissen nicht so genau, was sie erwartet. Das Technikum soll helfen, Vorstellungen zu konkretisieren. Und das scheint zu gelingen. 34 junge Frauen waren als Technikantinnen in der dreijährigen Pilotphase dabei, die zunächst nur an der h_da lief. Yvonne Haffner und Lena Loge haben die Abiturientinnen vor und nach ihrem halbjährigen Technikum befragt. Alle bestätigen, dass es ihnen dabei vor allem um die Berufsorientierung ging. 71 Prozent von ihnen wollten herausfinden, ob sie ein MINT-Studium schaffen können. 41 Prozent fragten sich, ob sie überhaupt studieren wollen. „Wir führen mit den Bewerberinnen sehr intensive Gespräche“, berichtet Prof. Dr. Haffner. Genommen werden nur diejenigen, die initiativ werden und Praktikumsplätze bei den Kooperationspartnern erhalten. „Sie werden von uns beraten, erhalten eine Liste mit den Unternehmen und müssen sich eigenständig bewerben“, erklärt die Projektleiterin. „Schulnoten spielen für uns dabei keine Rolle. Wichtiger ist das grundsätzliche Interesse für MINT-Fächer.“
Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein wachsen
29 Prozent der jungen Frauen, das ergab die Befragung, haben vor dem Start des Technikums „Selbstvertrauen in ihre technischen Fähigkeiten“, so Haffner. Dieser Wert verändert sich gravierend: Nach der Teilnahme am Programm liegt die positive Selbsteinschätzung bei 66 Prozent. Gleichzeitig werden die Vorstellungen vom Studium deutlich konkreter, etwa bei der Elektro- und Informationstechnik: Darunter konnten sich vorher 21 Prozent der Technikantinnen etwas vorstellen, danach sind es 81 Prozent. Die Pilotphase an der h_da hat gezeigt, dass sich 92 Prozent der Technikantinnen anschließend für ein Studium in den MINT-Fächern entscheiden. Fast ein Viertel studiert IT/Informatik, jeweils 15 Prozent Bauingenieurwesen oder Maschinenbau. 96 Prozent der Befragten sind zufrieden bis sehr zufrieden mit ihrem Studium. „Das Programm ist ein totaler Erfolg“, sagt Yvonne Haffner.
So erfolgreich, dass seit Oktober 2019 das Hessen-Technikum für alle fünf hessischen Hochschulen für Angewandte Wissenschaften mit MINT-Fächern gilt. Mit dabei sind außer der h_da die Frankfurt University of Applied Sciences, die Hochschule RheinMain, die Hochschule Fulda und die Technische Hochschule Mittelhessen. Die nächsten drei Jahre wird das Gemeinschaftsprojekt finanziert mit 667.500 Euro aus Mitteln des Innovations- und Strukturentwicklungsbudgets des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst sowie aus dem Förderprogramm „Offene Hochschule – Potenziale nutzen, Übergänge gut vorbereiten“ des Europäischen Sozialfonds. Aktuell nehmen hessenweit 31 Abiturientinnen sowie 48 Kooperationsunternehmen teil – vom Börsen-Player bis hin zum Mittelständler. „Es kommen stetig neue dazu“, sagt Haffner – auch das ein Zeichen für den Erfolg des Programms.
Für Jana Ziegler ist ihr Technikum im März beendet. Auf die Zeit danach hat sie sich schon vorbereitet. Die 19-Jährige wird zwei Monate beim Radiosender FFH hospitieren, um in den Journalismus reinzuschnuppern. Noch so eine Berufsidee, die ihr im Kopf herumgeht. „Schließlich hatte ich auch Deutsch-Leistungskurs“, sagt sie. Ein Journalismus- oder Informatik-Studium mit Schwerpunkt Kommunikation und Medien kann sie sich gut vorstellen. Entscheiden will sie sich am Ende ihrer Praktika, sagt sie selbstbewusst. Das ist übrigens noch so eine Beobachtung, die Yvonne Haffner besonders freut. Beim Hessen-Technikum gibt es eine Auftakt- und eine Schlussveranstaltung. „Vorher sehe ich zumeist schüchterne Mädchen, von denen keine in die erste Reihe drängt. Beim Abschlussevent jedoch stehen da selbstbewusste junge Frauen, die anders reden, sich anders kleiden und anders auftreten. Der Unterschied ist unglaublich. Das Technikum gibt einen ungeheuren Schub.“
Autorin
Astrid Ludwig
Februar 2020
Kontakt
Nico Damm
Hochschulkommunikation
Tel.: +49.6151.16-37783
E-Mail: nico.damm@h-da.de
Das Thema in den Medien
Nächste Runde!
Für den im Oktober 2020 startenden nächsten Durchgang des Hessen-Technikums an der h_da werden wieder junge Frauen mit (Fach-)Abitur und Interesse an MINT-Fächern gesucht. Bewerbung bitte bis zum 15. Juli an die operative Projektkoordinatorin (Kontaktdaten siehe dort).