Sven Linow ist Professor für Thermodynamik und Umwelttechnik an der Hochschule Darmstadt (h_da) und Mitglied der Scientists for Future, einem interdisziplinären Netzwerk von Forscherinnen und Forschern, die sich in der Klimadebatte engagieren. Organisiert sind die Scientists for Future dezentral, zur Darmstädter Gruppe gehören sieben Lehrende der h_da aus verschiedenen Fachbereichen. Gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen aus ganz Hessen veröffentlichten sie im Januar eine Stellungnahme zum Klimaschutzplan der Landesregierung. Ihre Kritik: Die schwarz-grüne Koalition vermeidet konkrete, wirksame Maßnahmen.
Ein Interview von Svea Spieker, 12.2.2021
impact: Herr Linow, Sie sind seit 2019 bei Scientists for Future aktiv. Was sind Ihre Beweggründe?
Linow: Wir sind damals als Gruppe von Interessierten zum Plenum der Scientists for Future nach Frankfurt gefahren. Auf dem Rückweg haben wir beschlossen, eine Ortsgruppe in Darmstadt zu gründen. Sie existiert seit mittlerweile anderthalb Jahren und läuft gut. Bei Scientists for Future kann ich als Wissenschaftler meine Kompetenzen einbringen. Mit Beginn der Fridays-for-Future-Diskussionen und Stimmen aus der Politik wie „Ach, die Kinder haben ja keine Ahnung“ oder „Das Problem gibt es doch gar nicht“ war für mich klar: So geht das nicht weiter. Es ist meine Aufgabe, hier an der Hochschule jungen Menschen eine Zukunft zu bauen – und dafür müssen natürlich auch ihre zukünftigen Lebensbedingungen stimmen.
impact: In welchem Zusammenhang stehen Scientists for Future und die Hochschule Darmstadt?
Linow: Eine Reihe von Kollegen, die bei der Initiative für Nachhaltige Entwicklung (i:ne) in der Hochschule aktiv sind, wirken an Projekten von Scientists for Future mit. An der Stellungnahme zum integrierten Klimaschutzplan Hessen, eines unserer jüngsten Projekte, hat beispielsweise Prof. Dr. Axel Wolfermann von der h_da als Verkehrsexperte mitgearbeitet. Eine offizielle h_da-Gruppe haben wir nicht. Die Verbindung von Scientists for Future in die h_da besteht vor allem über die i:ne.
impact: An welchen Projekten arbeitet Scientists for Future aktuell?
Linow: Eines unserer Projekte in der Ortsgruppe Darmstadt ist es, an Schulen heranzutreten und junge Menschen für die Wissenschaft der Zukunft zu begeistern. Das ist schwieriger, als man so denken mag. Oft merken wir, dass das Klimathema und Scientists for Future keinen ausreichenden Platz im Schulalltag finden. Außerdem sind wir Teil des Klimaschutzbeirates der Stadt Darmstadt. Erfreulicherweise werden wir hier als wichtige Ratgeber gesehen. Und wenn gerade kein Corona ist, planen wir selbst Veranstaltungen oder unterstützen die Events von Fridays, Parents oder People for Future. Auch auf Bundesebene passiert einiges: Zum Beispiel versuchen wir ausgehend vom S4F-Beirat versuchen wir, den Konsens der Wissenschaft in wesentlichen Themen in Statements zu packen. Spannend bei dieser Arbeit ist, dass man an einigen Stellen offene Türen einrennt. Agrarpolitik ist seit langem ein schwieriges Thema, bei dem soziale und ökologische Belange oft unberücksichtigt bleiben. Scientists for Future hat ein Statement zur gemeinsamen Agrarpolitik der EU abgegeben – und das zur Freude der EU-Kommission, die sich für die Unterstützung bedankt hat.
impact: Welche Auswirkungen ergeben sich für die Arbeit von Scientists for Future durch die Coronakrise?
Linow: Aktuell ist es sehr schwierig, die Öffentlichkeit zu erreichen. Auf der einen Seite können derzeit keine Veranstaltungen mit mehreren Menschen stattfinden. Auch an die Schulen kommen wir in Zeiten von Corona nahezu nicht heran. Gleichzeitig ist die Presse in erster Linie durch Corona dominiert und in zweiter Linie durch den US-Präsidentschaftswechsel. Aktuell fokussieren wir uns daher auf Statements und Veröffentlichungen. Abgesehen von Corona ist die Fake-News-Problematik eine große Herausforderung, gegen die wir immer wieder ankämpfen. Viele meinen, zu allem alles zu wissen. Wir müssen es schaffen, dass die Leute zunächst abwägen, ob sie sich wirklich so gut auskennen wie Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Praxis, die über fundiertes Wissen und jahrelange Erfahrung verfügen. Wir möchten mit unserer Arbeit gesunde Zweifel an allzu einfachen Erklärungen stärken und notwendiges Wissen in die Gesellschaft tragen.
impact: Trotz Corona stehen die Scientists for Future nicht still. Ein aktuelles Projekt ist die Bewertung des integrierten Klimaschutzplans des Landes Hessen. Können Sie kurz zusammenfassen, worum es in dem Klimaschutzplan geht?
Linow: Das Land Hessen hat 2015 bis 2017 ausgehend vom Pariser Klimaabkommen einen ersten integrierten Klimaschutzplan entwickelt. Er wurde mithilfe von Bürgerbeteiligungsprozessen und verschiedenen Verbänden aufgestellt und soll nun bis 2022 fortgeschrieben werden. Scientists for Future Hessen hat im letzten August angefangen, sich mit dem bestehenden hessischen Klimaschutzplan von 2017 kritisch auseinanderzusetzen und ihn zu bewerten. In einem konsensbasierten Prozess haben die Autorinnen und Autoren mit Unterstützung weiterer Scientists for Future die finale Stellungnahme verfasst und Mitte Januar 2021 veröffentlicht.
impact: Wie beurteilt Scientists for Future den integrierten Klimaschutzplan des Landes Hessen? Was ist gut, wo sehen Sie noch Verbesserungspotenzial?
Linow: Die Beschäftigten in den Behörden wie etwa dem Landesamt für Naturschutz verstehen das Klimaproblem, sie wissen, was zur Lösung des Problems getan werden muss, und informieren die Landesregierung. Allerdings bildet der Klimaschutzplan das nicht ab. In unserer Analyse kritisieren wir grundlegend die politischen Annahmen, die Umweltministerin Priska Hinz und Ministerpräsident Volker Bouffier im Vorwort beschreiben. Ausgehend vom Wachstumsnarrativ, von der Maßgabe, dass „freiwillige Lösungen staatlichen Vorgaben stets vorzuziehen sind“ und der Festlegung, dass Wirtschaft und Kommunen die wesentlichen Akteure für den Klimaschutz seien, bleibt kaum Gestaltungsraum für das Land übrig. Der Eindruck entsteht, dass sich das Land so aus der Verantwortung zieht und weder Klimaschutz noch Klimaanpassung aktiv gestalten möchte. Die Hessische Landesregierung beschreibt in ihrem Plan verschiedene Ansatzpunkte für Klimaschutz und fokussiert sich dabei auf Informationsvermittlung und -austausch, zum Beispiel in Form von Round Tables. Es gibt keinerlei konkrete Zielvorgaben oder definierte Deadlines. Und das ist eigentlich verwunderlich, denn obwohl in der Einleitung für eine starke Wirtschaft plädiert wird, werden zentrale wirtschaftliche Erfolgselemente wie die Definition von messbaren und nachverfolgbaren Zielen mit klarer Zuweisung von Verantwortung im Klimaschutzplan außer Acht gelassen. Darüber sind auch Mitarbeiter der Landesbehörden frustriert, wie wir aus persönlichen Gesprächen erfahren. Unsere Kernkritik des Klimaschutzplans liegt also zum einen in den getroffenen Annahmen und zum anderen in den fehlenden quantifizierten Zielen. Das Problem: Die Zeit drängt! Wir brauchen klare, messbare Ziele, um zu handeln. In diesem Prozess sollte die Landesregierung mit gutem Beispiel schnell vorangehen und durch entsprechende Planungswerkzeuge oder Gesetze den Weg ebnen.
impact: Was passiert mit dem Statement zum Klimaschutzplan?
Linow: Das Statement zum hessischen Klimaschutzplan wurde an alle Landesministerien und alle Landtagsfraktionen versendet. Außerdem haben wir eine Pressemeldung über unseren umfangreichen Presseverteiler verschickt. Von Seiten der Presse gab es bislang wenig Rückmeldung. Aus der Politik haben sich neben dem Hessischen Umweltministerium zwei Fraktionen zurückgemeldet, mit denen wir jetzt im Gespräch sind. Das Ministerium ist sich der Schwächen des ersten Klimaschutzplanes bewusst und wird den neuen Plan mit konkreteren Zielen aufsetzen. Wir von Scientists for Future Hessen werden diesen Prozess kritisch begleiten und wollen die Maßnahmenpakete aus wissenschaftlicher Perspektive bewerten. Wichtig ist uns vor allem, Türen zu öffnen und mit den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern innerhalb der Behörden in guten Kontakt zu kommen.
impact: Ein weiteres erfolgreiches Projekt war die Petition zum Klima-Bürgerrat. Was steckt hinter der Petition und was ist das Ergebnis?
Linow: Die Idee der Bürgerräte stammt ursprünglich von der Bundesregierung. Ziel eines Bürgerrates ist es, in einer möglichst repräsentativen Gruppe von Bürgerinnen und Bürgern schwierige Probleme zu diskutieren und Input von außen einzuholen. Das soll letztendlich der Politik helfen, einen besseren Einblick in die Meinungen der Bevölkerung zu bekommen. Für Politikerinnen und Politiker ist es aufgrund der Vielzahl an „Troll“-Nachrichten, die sie täglich erreichen, teilweise schwierig, einen klaren Blick dafür zu haben, was die Bürgerinnen und Bürger wirklich denken. Die Bundesregierung hat als Themenfeld für Bürgerräte „Deutschlands Rolle in der Welt“ gestartet. Und das ist gut, aber es gibt definitiv dringendere Probleme. Aus diesem Grund hat Scientists for Future eine Petition zum Klima-Bürgerrat angestoßen. Die Petition hatte zuletzt ziemlich an Fahrt aufgenommen und das nötige Quorum erreicht – jetzt sind wir gespannt.
impact: Ein Blick voraus: Was, denken Sie, hat Scientists for Future bis 2030 bewegt?
Linow: Im besten Fall sind wir 2030 dabei, die Energiewende weiter zu gestalten und zu vollenden. Und als Gesellschaft reden wir darüber, was als Nächstes kommt: Wie leben wir miteinander? Wie schaffen wir es, in einer solidarischen Gesellschaft zu leben, die auch die Zukunft in ihre Solidarität mit einbezieht? Wir sollten 2030 also im großen Umbau sein.
Die Originalfassung des Interviews finden Sie im Nachhaltigkeitsblog der Hochschule Darmstadt: https://nachhaltigkeitsblog-hda.de/2021/01/26/s4f-sven-linow-im-interview/
Ausführliche Stellungnahme von Scientists for Future zum Klimaschutzplan Hessen: https://zenodo.org/record/4420166
Kontakt
Christina Janssen
Wissenschaftsredakteurin
Hochschulkommunikation
Tel.: +49.6151.16-30112
E-Mail: christina.janssen@h-da.de