Zwei Studierende im Kellergewölbe des alten Kinos in Nidda
Messen wie die alten Römer

Vergangenes hat immer einen Einfluss auf unsere Gegenwart. Das zeigt auch ein aktuelles Projekt des Fachbereichs Architektur der Hochschule Darmstadt (h_da). Mit der Vermessung eines historischen Hohlkellersystems im Stadtzentrum von Nidda in der Wetterau verdeutlicht eine Gruppe Studierender, warum antike Methoden noch heute ihre Berechtigung haben und leisten mit ihrer Arbeit einen wichtigen Beitrag zur Dokumentation von Niddas Stadtgeschichte.

Von Nadine Bert, 28. September 2020

Es duftet einladend nach frisch geröstetem Kaffee auf dem Gehweg in der Bahnhofstraße 7 vor dem alten Kino in Nidda. Obwohl schon seit 2011 nicht mehr in Betrieb, begrüßt die alte Werbetafel Besucher noch immer zu „Hollywood & Sternchen“ und lädt zu „immer frischem Popcorn aus besten Zutaten“ ein. Lediglich die Schaukästen haben bereits den Zeitenwandel vollzogen und weisen auf das aktuelle Angebot der benachbarten Kaffeerösterei – Quelle des herrlichen Dufts – hin. Worauf jedoch noch absolut gar nichts hindeutet, ist das, was sich derzeit im Inneren des verlassenen Kinos abspielt.

Denn das alte Gebäude ist aktuell keineswegs so verwaist, wie es auf den ersten Blick scheint. Für insgesamt zwei Wochen beherbergt es eine Gruppe von Studierenden des Fachbereichs Architektur der h_da. Die 14 angehenden Architektinnen und Architekten, Innenarchitektinnen und Innenarchitekten vermessen das historische Hohlkellersystem, das sich unter dem mehrere hundert Jahre alten Anwesen erstreckt. Unter der Leitung von Alexandra Vydra, selbstständige Architektin und Lehrbeauftragte an der h_da, Professor Udo Gleim, Fachmann für Baugeschichte, Denkmalpflege und Bauaufnahme, und seinem Amtsvorgänger Professor Frank Oppermann lernen die Studierenden die Vermessung und zeichnerische Erfassung eines bestehenden Bauwerks: die sogenannte Bauaufnahme.

Lehren und Lernen unter besonderen Bedingungen

Das Besondere an dieser Wahlpflichtveranstaltung, die in der Regel immer an einem anderen Ort stattfindet, ist nicht nur die bunte Mischung aus Bachelor- und Masterstudierenden, sondern auch das disziplinübergreifende Arbeiten, Lehren und Lernen. Denn die Grenzen zwischen den Disziplinen sind fließend. „Die verbindenden Elemente sind Raum, Geometrie, Strecken und Winkel“, erläutert Gleim.

In diesem Semester wartet eine weitere Herausforderung: Denn auch an den Studierenden und Lehrenden der h_da sind die Unwägbarkeiten in Verbindung mit der COVID-19-Pandemie nicht spurlos vorbeigegangen. „Wir mussten von Null auf Hundert in die digitale Lehre wechseln – das war nicht nur technisch, sondern auch zwischenmenschlich eine Herausforderung“, erinnert sich Gleim. Umso willkommener war der Hinweis des Vorsitzenden des Wetterauer Denkmalbeirats, Gustav Jung, der Alexandra Vydra auf das Projekt aufmerksam machte. Endlich wieder praktisch arbeiten, „im Labor“, wie Professor Gleim es nennt. „Solche Projekte finden wir meist nicht selbst, sondern sie finden uns und werden über Privatleute oder durch öffentliche Einrichtungen an uns herangetragen“, erläutert Gleim. „Ich bin immer wieder beeindruckt, wie offen wir bei solchen Gelegenheiten empfangen werden. Schließlich nehmen die Leute in Kauf, dass wir tagelang ‚durch ihr Wohnzimmer‘ marschieren. Es ist auch nie sicher, dass am Ende etwas Verwertbares herauskommt – es sind schließlich noch Lernende.“ Auch diesmal wurde die Darmstädter Gruppe wieder mit offenen Türen und Armen empfangen – von Tim und Julia Kabacher, den neuen Eigentümern des ehemaligen Kinos, und Familie Storck, den Besitzern des benachbarten Anwesens. „Wir haben quasi mit Familienanschluss gearbeitet und eine Art freiwillige Corona-Quarantäne vollzogen“, erinnert sich Alexandra Vydra schmunzelnd. Der frische Kaffee der von Kabacher fachmännisch sanierten und von Ralf Philipp betriebenen Privatrösterei Philipp stellt zudem einen nicht unwesentlichen Motivationspunkt dar.    

Mit archaischen Methoden zu modernen Verfahrenstechniken

Im ehemaligen Kinosaal haben sich die Studierenden eine Art „Kommandozentrale“ eingerichtet. Auf drei großen provisorischen Zeichentischen wird in einzelnen Arbeitsgruppen zu Papier gebracht, was im Kellergewölbe einen Stock tiefer aufgemessen wird. Der Zugang dorthin führt vom Eingangsfoyer des Kinos über eine alte Steintreppe hinab in ein verschachteltes, auf unterschiedlichen Ebenen angeordnetes System von unregelmäßig geformten Hohlkörpern. Jeder Schritt scheint einen ein Stück weiter in die Vergangenheit zu tragen. Mit Feuchtigkeit geschwängerte Luft und der Geruch der Jahrhunderte empfängt die Studierenden. Trotz der hochsommerlichen Außentemperaturen ist es hier regelrecht kühl, aus Hohlräumen zwischen den doppelwandigen Mauern weht ein leichter Luftzug. „Solche Keller haben einen besonderen Reiz, da durch den fehlenden Außenbezug wie Tageslicht oder Himmelsrichtung die Orientierung völlig fehlt“, erläutert Gleim.

Zur besseren Orientierung verhilft ein Bauaufmaß, also das Messen und anschließende Aufzeichnen eines Bauwerkes. Dafür verwendet die Gruppe um Professor Gleim ein aus der Antike tradiertes Verfahren, das bis heute in der Bauforschung standardmäßig eingesetzt wird: Ausgerüstet mit Bandmaß, Zollstock und (Schlauch-)Wasserwaage legen die Studierenden unter Anleitung der Dozenten im Keller zunächst ein horizontales Messnetz aus in Längs- und Querrichtung gespannten Fäden an und versehen es alle 50 Zentimeter mit Markierungen – ein rechtwinkliges Ur-Maßsystem. Als senkrechte Achsen und Fixpunkte dienen Lote, wie beispielsweise eines, das von der Decke im Kinosaal über einen Luftschacht in den Keller führt. „Einfacher und schneller wäre man natürlich mit modernen 3D-Laser-Messgeräten“, kommentiert Gleim das Vorgehen. Durch das intensive Auseinandersetzen bekämen die Studierenden jedoch ein einzigartiges Verständnis für die grundlegenden Techniken und Gerätschaften und könnten den Transfer auf sämtliche neue Verfahren dann selbstständig vollziehen. „Hier findet im wahrsten Sinne des Wortes ein Prozess des Begreifens statt“, ergänzt Alexandra Vydra die Ausführungen ihres Kollegen. „Wenn ich selbst durch uralte Spinnweben gelaufen, den Staub und Geruch der Zeiten eingeatmet habe, bleibt das im Gedächtnis.“ Das sieht auch Mara Teodoro so. Die angehende Architektin im Masterstudium freut sich über das Praxis-Erlebnis: „Das Zeichnen mit der Hand ist eindrücklicher als am PC – ich finde es toll, zum Ende meines Studiums noch einmal zu den Ursprüngen zurückzugehen.“

Raum für Raum arbeiten sich die Studierenden in Kleingruppen voran. Messen, zeichnen, messen wieder nach. So entsteht nach und nach eine sogenannte Aufmaßskizze – ein für den Laien buntes Wirrwarr aus Linien und Zirkelschnittpunkten. Diese bildet die Grundlage für den Gesamtgrundriss, der aus einzelnen, in Kleingruppen erstellten Teilgrundrissen im Maßstab 1:25 zusammengeführt wird. „Beim Grundrisszeichnen fällt die kleinste Unstimmigkeit sofort auf“, erinnert sich Sarah Enz, Masterstudierende der Innenarchitektur. „Da die Zeichnungen parallel zum Aufmessen entstehen, kann man aber direkt nachmessen.“ Professor Gleim ist begeistert von der Professionalität und dem Engagement seiner Studierenden: „Durch ihre exakte Arbeit ist es gelungen, sogar einige Punkte über Erdreich in das Aufmaß einzubinden. Dadurch kann später die genaue Lage des Kellers bestimmt werden.“ Von dieser Genauigkeit profitieren auch die beiden Hausbesitzer. Denn die exakten Pläne werden zusammengefasst und gehen ihnen später in Form einer Dokumentation zu.

Ein Gang durch die Epochen

Neben dem Grundriss werden auch sämtliche Verformungen des Kellergewölbes im Schnitt durch das Handaufmaß dokumentiert. „Dabei setzen sich die Studierenden im Detail mit der Konstruktion der Bauteile, deren Materialbeschaffenheit und der jeweiligen Bautechnik auseinander – sozusagen wie ein Gang durch die Epochen und die bauliche Entstehungsgeschichte des Gebäudes“, erklärt Gleim die Hintergründe. Hier schlägt sich auch die Brücke zu einer weiteren Architektur-Disziplin: der Bauforschung. Deren Aufgabe wird es nun auch sein, die zahlreichen Rätsel, die die Räumlichkeiten aufweisen zu entschlüsseln. So findet sich neben dem fünf Meter hohen Eiskeller, in den über eine in die Decke eingelassene Rutsche früher einmal Eis eingebracht wurde, auch ein alter noch heute betriebener Brunnenschacht. „Solche ‚Funde‘ wecken selbstverständlich die Neugier unserer Studierenden, und oft haben wir uns noch spät abends über unsere Vermutungen ausgetauscht“, erklärt Vydra. “Wir waren daher froh über die Unterstützung durch Reinhard Pfnorr, der unseren Forschergeist ein wenig füttern konnte.“

Pfnorr ist Historiker, Pädagoge und Leiter des Heimatmuseums Nidda. Er führte die Gruppe vorab in die Stadtgeschichte Niddas ein und stellte im Laufe des Projektes sein Wissen zur Verfügung. So wurde der Gebäudekomplex vor seiner Umgestaltung zum Kino vielfältig genutzt. In der Stadtchronik findet sich beispielsweise ein Eintrag zur "Brauerei zum Gambrinus" zu der auch ein Gasthaus gehörte – das erklärt den Eiskeller. Weiterhin diente der Saal als Versammlungsstätte und Konzertbühne. Mit Aufkommen des Stummfilms avancierte das Gebäude zum Lichtspielhaus und blieb diesem Zweck bis 2011 treu. Da die Wiederverwendung einzelner Bauteile in einem völlig anderen baulichen Kontext in früheren Jahrhunderten selbstverständlich war, geben einige geheimnisvolle Artefakte in den Kellern auch den Fachleuten noch immer Rätsel auf: Was hat es beispielsweise mit dem in einem Türsturz entdeckten Niddaer Stadtwappen oder mit einem Stein mit der Inschrift „Johannes Pistorius“ auf sich? Oder wo war die elegante, durch ein bauforscherisches Kurzgutachten in die Zeit der Spätgotik datierte und von den Studierenden akribisch aufgemessene Wendeltreppe eigentlich ursprünglich verbaut? Stammt sie möglicherweise aus der ortsansässigen Johanniter-Kommende? Alles nur Vermutungen.

Erst der Anfang

Eins ist klar: Das Anwesen in der Bahnhofstraße bietet ein enormes Potenzial – auch in Zukunft wird es Wissenschaftler diverser Fachrichtungen wie auch die Einwohner Niddas erfreuen. Denn Tim Kabacher möchte das Gebäude wieder der öffentlichen Nutzung zuführen: „Dies war immer ein öffentlicher Ort und soll es auch wieder werden. Den Auftakt macht die Kaffeerösterei. Nun wollen wir hier auch wieder einen Kulturbetrieb etablieren.“ Auch Professor Gleim sieht das Potenzial für seinen Bereich noch lange nicht ausgeschöpft: „Mit diesem Projekt wird der Anspruch der Hochschule an eine synergetische Verbindung von Lehre, Forschung, Transfer und Kooperation geradezu mustergültig eingelöst. Wir erhalten die Impulse für unsere Arbeit von außen und tragen die Ergebnisse dieser Arbeit in die Gesellschaft zurück. Eine Win-win-Situation eben.“ Vielleicht geht es im kommenden Semester mit dem Aufmaß des Saals, der Dachkonstruktion oder der Außenfassade weiter. Wer weiß? Wer hier mitgemacht habe, werde ohnehin meist zum Wiederholungstäter, resümiert Gleim lächelnd. Wir dürfen also gespannt bleiben.

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