Energie ist so teuer wie nie. Im Zuge der Energiewende soll der Ausbau erneuerbarer Energien nicht nur einen Beitrag zum Klimaschutz leisten, sondern auch wirtschaftlich unabhängiger von fossilen Energieträgern machen. Dem Bestreben, möglichst viel der gewonnenen Wind- und Sonnenenergie optimal zu nutzen, stehen derzeit jedoch noch Netzengpässe gegenüber. Professor Ingo Jeromin vom Fachbereich Elektro- und Informationstechnik der h_da und seine Projektpartner arbeiten im Forschungsprojekt „Grid4Regio“ daran, auf regionaler Ebene das Potenzial bereits bestehender Netzinfrastruktur besser auszuschöpfen, die Übertragungsnetze zu entlasten und dadurch dem teils umstrittenen Netzausbau entgegenzuwirken.
Von Nadine Bert, 18.2.2022
Der Binselberg bei Groß-Umstadt am Rande des Odenwalds. Vier große Windräder drehen behäbig und kraftvoll ihre Flügel über der weitläufigen, hügeligen Landschaft. Die Energie, die hier gerade erzeugt wird, wandert auf direktem Weg in das regionale Stromnetz. So weit, so gut. Doch was passiert an Tagen, an denen die Windkraftanlagen mehr Energie erzeugen, als das Netz vor Ort aufnehmen kann? Aktuell müssen sie aufgrund fehlender Speichermöglichkeiten dann entweder abgeschaltet werden, was den Verlust kostbarer Energie zur Folge hat, oder die überschüssige Energie wird in das vorgelagerte Hochspannungsnetz „hochgeschoben“. Prof. Dr. Ingo Jeromin vom Fachbereich Elektrotechnik und Informationstechnik der h_da nennt das die „Energieautobahn“.
Ein interessanter Vergleich, in dem das Mittelspannungsnetz der Region die Bundesstraße, und die Hochspannungsebene die Autobahn darstellt: Wenn bei erhöhtem Verkehrsaufkommen auf der Bundesstraße alle kurzzeitig den vermeintlich schnelleren Weg über die Autobahn, und dann wieder die Abfahrt Richtung Zielort nehmen, entsteht an der Anschlussstelle ein Stau. Dauert die Überlastung an, wird in vielen Fällen das Straßennetz ausgebaut – und genauso verhält es sich auch mit dem Stromnetz. Beides bedeutet am Ende: Mehrkosten für den Steuerzahler. Das muss nicht sein. Davon ist Prof. Jeromin überzeugt. Im Forschungsprojekt „Grid4Regio“ – ein EU-gefördertes Gemeinschaftsprojekt der h_da mit der TU Darmstadt und dem Energieversorger Entega – will er beweisen, dass durch den Einsatz neuer Techniken und Systeme der regenerative Strom nicht nur vor Ort erzeugt, sondern auch direkt verbraucht werden kann. „Warum neue Stromautobahnen bauen, wenn man den bereits vorhandenen, befahrbaren Feldweg nutzen kann?“, fragt der Wissenschaftler.
Netze simulieren und trainieren
Konkret bedeutet das: Die im Mittelspannungsnetz in der Region Groß-Umstadt „überschüssige“ regenerative Energie aus Wind und Sonne soll an benachbarte Kommunen wie Babenhausen oder Groß-Bieberau weiterverteilt werden, anstatt sie durch Abregeln der Anlagen ungenutzt zu lassen oder in die vorgelagerten Hoch- und Höchstspannungsnetze einzuspeisen und diese damit zu belasten. Die Idee des Forscherteams: Benachbarte Netze sollen durch bereits vorhandene Infrastruktur dezentral gekoppelt werden, was eine Abregelung unnötig machen würde. Die Modellregion, in der dieser Ansatz untersucht wird, liegt im Netzgebiet der e-netz Südhessen, die das Projekt initiierte.
Der Darmstädter Forschungsgruppe für Nachhaltige Energiesysteme (daFNE) um die Professoren Ingo Jeromin, Athanasios Krontiris und Klaus Martin Graf kommt in dem bis 2023 von der EU geförderten Projekt eine besondere Rolle zu. Durch einen an der h_da konzipierten Netzleitstellensimulator sollen konkrete Nutzungsszenarien simuliert und anschließend als Weiterentwicklung in ein Trainings- und Schulungskonzept für Studierende und Lehrende der Hochschule, aber auch Fachkräfte aus Energie- und Netzwirtschaft, z.B. Mitarbeitende des Energieversorgers, übertragen werden. Die Beschreibung der unterschiedlichen Szenarien liefert das Fachgebiet „Elektrische Energieversorgung unter Einsatz erneuerbarer Energien“ der TU Darmstadt unter Leitung von Professorin Jutta Hanson.
„Das ist eine echte Herausforderung“, berichtet Jeromin, der mit seinem Forschungskollegen Lars Weispfenning im Labor des Gebäudes D17 des Fachbereichs EIT gerade über der Computersimulation brütet. „Um die Verhältnisse in der Region richtig abbilden zu können, müssen wir vor allem erst einmal die Netze und die verschiedenen Nutzungsszenarien richtig verstehen. Durch neue Einflussfaktoren wie Elektromobilität oder den vermehrten Einsatz von Wärmepumpen ändert sich an der Netznutzung durch den Endverbraucher gerade viel. Mit diesen unbekannten Größen ist es aktuell noch schwer zu kalkulieren.“ Konkret findet sich in den Rechnern des Fachbereichs EIT eine angepasste Simulation des Netzsystems der Modellregion und die dazugehörige Verbundleitwarte der e-netz Südhessen im Dornheimer Weg in Darmstadt wieder. „Wir möchten auf Basis der von der TU gelieferten Daten zu unserer Modellregion eine Art Blaupause für deutsche Mittelspannungsnetze und mögliche Belastungssituationen entwickeln, um daraus realistische Fahrpläne für verschiedene Szenarien erstellen zu können.“, erläutert Jeromin. „Schaltmeister in ganz Deutschland sollen in ihren Leitwarten in der Lage sein zu beurteilen, welche Schalthandlungen notwendig sind, um Trasse XY nicht zu überlasten.“
Deutschland ist Vorreiter
Neben dem Reiz der wissenschaftlichen Herausforderung, erneuerbare Energie ressourcenschonend und effizient nutzbar zu machen, steht das Projekt vor allem im Zeichen einer realistischen und für die Gesellschaft auch finanziell tragbaren Gestaltung der Energiewende. Für Jeromin, der sich auch politisch in der Kreistagsfraktion Darmstadt-Dieburg engagiert, hat seine Forschung daher auch eine klare gesellschaftliche Motivation: „Man kann den Ausbau erneuerbarer Energien nicht einfach immer weiter vorantreiben, ohne sich über deren sinnvolle Nutzung und die Kosten Gedanken zu machen.“ Aktuell nutze man zu viel erzeugte „grüne Energie“ nicht sinnvoll, fahre aber gleichzeitig die Gewinnung fossiler Energien hoch. „Ich halte das gesamtwirtschaftlich für eine Katastrophe. Darum wollen wir mit unserem Projekt dazu beitragen, eine Lösung zu finden, um den Ausbau erneuerbarer Energien und die damit verbundenen Kosten so gering wie möglich zu halten, indem wir die vorhandene Energie so effizient wie möglich nutzen“, so Jeromin.
Neben „Grid4Regio“ forscht der Elektroingenieur auch in weiteren Projekten, wie dem Smart Grid Lab zur Modernisierung deutscher Stromnetze mit dem Ziel, höhere Anteile erneuerbarer Energien in die Stromnetze zu integrieren. „Deutschland ist Vorreiter auf dem Markt der erneuerbaren Energien und betreibt hier wichtige Grundlagenforschung. Auch wenn wir die Klimakrise nicht allein bewältigen werden können, so können wir doch funktionierende Modelle aufzeigen in der Hoffnung, dass andere diesem Beispiel folgen“, resümiert Jeromin. Auch in Anbetracht der aktuellen politischen Lage, sei die Unabhängigkeit von fossilen Brennstoffen nicht nur ein klimarelevanter Aspekt. Das nächste Ziel steht schon fest: „Wenn wir es geschafft haben, den regenerativ erzeugten Strom besser zu nutzen, ist dessen Speicherung die nächste Herausforderung, die es zu lösen gilt.“
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Christina Janssen
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