Design begleitet uns vom Aufstehen bis zum Schlafengehen. Wenn die Zahnbürste gut in der Hand liegt, die Videokonferenz intuitiv gelingt oder man selbst nachts die Fitnessuhr nicht ablegen möchte, haben Designerinnen und Designer hieran einen wesentlichen Anteil. Im Studiengang Industrie-Design an der h_da lernen Studierende, unseren Alltag so zu gestalten, dass er auf die Menschen zugeschnitten ist.
Von Simon Colin, 1.2.2021
Warum kam da nicht schon früher jemand drauf? Manche Produkte, Anwendungen oder Services scheinen so naheliegend, dass man sich wundert, wenn sie einem zum ersten Mal begegnen. Oft dürfte es daran liegen, dass sich bislang noch kein Gestaltungsprofi damit beschäftigt hat. Ein Beispiel hierfür ist die Idee, das eigene Baby als Fitnessutensil zu nutzen. Darauf kam Marissa Diekmann, die am Fachbereich Gestaltung der h_da Industrie-Design bei Prof. Philipp Thesen studiert. Den Blick fürs Praktische habe sie mitbekommen, ebenso Empathie, und so gelang es ihr, den Widrigkeiten der Corona-Pandemie ein innovatives Produktdesign abzugewinnen.
Die Idee zu ihrem Fitnessprogramm „Stay in and work out“ hatte sie während des ersten Lockdowns Anfang 2020 als sie sich mit einer Freundin austauschte, die Fitnesstrainerin ist. Mitten in der Pandemie ist es für junge Mütter schwieriger, direkt nach der Geburt wieder fit zu werden, da viele Kurse nicht wie gewohnt stattfinden können. Marissa Diekmann wollte daran etwas ändern. Sie fing an zu recherchieren und stieß zwar auf unzählige Fitnessapps und Angebote für werdende und junge Mütter mit Videos und Trainingsplänen, doch sie fand praktisch nichts für die Zielgruppe, die sie interessierte: Mütter mit Neugeborenen und auch Schwangere, die spezielle Übungen brauchen.
Marissa Diekmann kam der Gedanke, ein Fitnessprogramm zu entwickeln, das es jungen Müttern ermöglicht, mit dem Gewicht ihres Kindes zu trainieren. Sie engagierte ihre Trainer-Freundin für entsprechende Profi-Videos und designte zudem eine hochwertige Babytrage für Sport mit Baby. Der im Rahmen einer Semesterarbeit entstandene Prototyp von Trage und begleitender App ist inzwischen fertig und bietet spezielle Trainingspläne und Ernährungstipps, die Trage soll man in der App optional auch bestellen können.
„Ich habe im Vorfeld sehr viel recherchiert, meine Freundin als Expertin hinzugezogen und alle Übungen auch selbst mit einem künstlichen Babybauch nachgestellt, um die Nutzerinnen besser zu verstehen“, erläutert Marissa Diekmann ihre Vorgehensweise. Prototyping nennt sich das in der Fachsprache. „Sich selbst einmal ein Gewicht um den Bauch schnallen, die Bewegungseinschränkungen erspüren, nachvollziehen, was die Nutzerin erlebt“, beschreibt es Philipp Thesen. Gutes Design ist für ihn, wenn es auf den Menschen und seine Bedürfnisse zugeschnitten ist. Daher müssten Designerinnen und Designer auch immer die praktische Umsetzung im Blick haben, was mit Trockenübungen nicht funktioniere. Und sie müssten Problemlöser sein. „Marisa Diekmann hat aus der Not eine Tugend gemacht und ein System entworfen, von dem junge Mütter profitieren, die ihr Baby immer bei sich haben und die sich in der Corona-Pandemie daheim wie gefesselt fühlen.“
Marisa Diekmann ist es wichtig, dass Produkte oder auch Anwendungen gut funktionieren. „Ich werde richtig wütend, wenn etwas eine schlechte User Experience hat“, sagt die Studentin. User Experience beschreibt, welche Erfahrungen Menschen im Umgang mit einem Produkt machen. Lässt es sich zum Beispiel intuitiv nutzen? Ist es so attraktiv, dass man es oft und gerne verwendet? Fragen, mit denen sich Designer schon ganz früh im Entwicklungsprozess beschäftigen müssen. So auch Kevin Kissenberth. Trigger für seinen „Reality Coach“ war ebenfalls die Corona-Pandemie. „Fitnessstudios sind zu, bewegen möchte man sich natürlich trotzdem, daher suchen viele Menschen nach passenden Fitnessapps“, beobachtet er. „Allerdings sinkt hierbei die Motivation oft recht schnell.“
Design verbindet Technologie mit den Bedürfnissen der Menschen
Kevin Kissenberth kam die Idee, das Heimtraining um Augmented Reality (AR) zu erweitern und somit ein neuartiges Erlebnis zu schaffen. AR ist eine Technologie, die es ermöglicht, virtuelle Elemente in die reale Umgebung zu projizieren. Kissenberth nutzt die Technik, um den Menschen bei seinen Bewegungen zu tracken und per AR-Projektion die richtigen Bewegungsabläufe auf dem eigenen Körper einzublenden. Hierzu schaut der Nutzer auf den Bildschirm seines Tablets oder Smartphones und lernt quasi an sich selbst, die Übungen korrekt durchzuführen. Anwenden lässt sich der virtuelle Trainer drinnen wie draußen.
Mit seiner Herangehensweise hat Kevin Kissenberth laut Prof. Philipp Thesen eine klassische Aufgabe von Design bewältigt. „Die Überbrückung und Verbesserung von vorhandener Technologie und die Kontextualisierung mit den Nutzerbedürfnissen, das ist eine wichtige Designleistung. Die Technologie braucht also die Übersetzung in etwas, das für den Menschen wertvoll ist.“ Prominentestes Beispiel ist für ihn das Smartphone. Da stecke ganz viel Ingenieurleistung drin, aber eben auch viel Design, und zwar mehr als gestaltete Oberflächen. „Die Touchdisplay-Technologie und das mobile Internet gab es schon zuvor, aber erst die Erfindung eines Ökosystems mit Erlebnissen, die den Menschen neue Möglichkeiten geben, hat zum Durchbruch geführt.“
Design-Entwicklungen können auch einmal ein augenzwinkernder Spaß sein, wie das Semesterprojekt von Mattis Kleemann zeigt: Der Karate-Smoothie-Maker. Die Idee: Sich am Automaten einen Smoothie mixen lassen und dabei als virtueller Mitproduzent die Zutaten per Karateschlägen für den Mixer zubereiten. Das funktioniert via Gestensteuerung, auf einem großen OLED-Display auf der Automatenfront spielt man während der Zubereitung das kurzweilige Reaktionsspiel. „Das könnte mal an Bahnhöfen stehen oder für Promotionaktionen genutzt werden“, sagt Prof. Philipp Thesen. „Design kann auch dazu beitragen, Bedürfnisse erst einmal zu wecken.“
Dass Design praktisch überall ist, da sind sich Thesen und seine Studierenden einig. Im Grunde sei auch jeder, der etwas erschaffe, ein Designer. Das sei das universelle Prinzip von Design. Professionelle Designerinnen und Designer hätten allerdings immer die praktische Umsetzung für den Menschen im Blick. „Design ist immer da wichtig, wo es um die Schnittstelle vom System zum Menschen geht“, sagt Thesen. Daher wirke Design auch interdisziplinär, bewege sich zwischen Ingenieurs-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften sowie Psychologie. „Wir müssen bei unserer Arbeit immer an die Ränder unserer Disziplin und uns vernetzen, um voranzukommen.“
Diese Erfahrung hat auch Kommunikations-Design-Student Michael Eiden gemacht. Ein Freund ist gerade dabei, ein Flugtaxi zu entwickeln. „Mein erster Impuls war: Da muss ich mithelfen“. Während sich der Freund als Ingenieur um die Konstruktion und den Bau des Flugtaxis kümmert, hat sich Michael Eiden unter anderem damit beschäftigt, wie der Luftraum künftig von autonomen Systemen durchflogen wird und was der Mensch hierbei im Cockpit erlebt. Dazu hat Eiden mit Experten gesprochen, Messen besucht und neben einem umfassenden Handbuch zur Flugtaxi-Vision eine Cockpit- und Landschafts-Simulation entworfen, die ein Thema nahbar machen soll, das immer noch nach Science Fiction klingt.
„Im Grunde geht es bei diesem Projekt um die Frage, wie wir künftig fliegen. Zu vermitteln, was ein Mensch dabei erlebt, ist Designaufgabe“, sagt Prof. Philipp Thesen. „Diese Darstellung von Dingen, die es heute noch nicht gibt, die Artikulation von Visionen und Utopien, ist eine weitere wichtige Funktion von Design.“ Design müsse hierbei auch nicht immer direkt erkennbar und somit greifbar sein, es könne vielmehr als integraler Bestandteil von Produkten oder Prozessen auch unsichtbar sein.
Für Michael Eiden ist seine Zukunft indes schon sehr greifbar. Er steht kurz vor dem Studienabschluss und möchte sich dann mit einer Designberatung selbständig machen. Viele Design-Studierende würden momentan Startups gründen, sagt Prof. Philipp Thesen. Doch auch der Weg in Unternehmen sei aktuell beliebt. „User Experience-Design-Jobs machen derzeit neun von zehn Stellenangeboten aus.“ Thesen ist sich sicher, dass das so genannte Darmstädter Modell der Designausbildung am Fachbereich Gestaltung der h_da gut auf den Arbeitsmarkt vorbereitet. Studierende können hierbei jedes Semester neu wählen, ob sie das gesamte Spektrum der Lehrenden in Anspruch nehmen und sich so spezialisieren, oder im Sinne eines Meisterklassensystems bei einer Professorin oder einem Professor bleiben. „Das ist das Besondere am Studium bei uns auf der Mathildenhöhe“, sagt Thesen.
Ihm selbst ist besonders wichtig, zu vermitteln, dass Design mehr als Oberflächengestaltung ist. „Es geht immer wieder neu um recherchieren, strukturieren, zeichnen, kommunizieren, ausprobieren. Dieses Designdenken möchte ich vermitteln.“ Seinen Studierenden ist das längst in Fleisch und Blut übergegangen. „Man muss sein Umfeld sehr stark beobachten, Dinge hinterfragen wollen und sich so tief mit ihnen auseinandersetzen, bis man davon träumt“, beschreibt Michael Eiden seine Herangehensweise an Projekte. „Das Schöne dabei ist, dass man nie wirklich fertig ist mit dem, was man gemacht hat, da man es immer wieder neu denkt und hinterfragt.“
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