Radler auf der Überholspur

Die „Zisch“-Erlebnisse häufen sich: Wer als Otto-Normal-Radler unterwegs ist, staunt nicht schlecht, mit welchem Tempo andere Biker auf Pedelecs oder Sporträdern an einem vorbeiziehen. Es bewegt sich was in Deutschland. Immer mehr Menschen nutzen auch für weitere Strecken das Rad – bundesweit immerhin schon 11 Prozent, in Städten wie Darmstadt und Frankfurt sind es 20, in Freiburg sogar 30 Prozent. Professor Jürgen Follmann, Verkehrsexperte am Fachbereich Bauingenieurwesen der h_da und selbst begeisterter Radfahrer, arbeitet am Ausbau einer adäquaten Infrastruktur für den Radverkehr in der Rhein-Main-Region. Das Pilotprojekt: Der erste hessische Radschnellweg zwischen Frankfurt und Darmstadt.

„Viele Deutsche bewegen sich zu wenig. Die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt für Erwachsene mindestens zweieinhalb Stunden moderate Aktivität pro Woche. Das schafft nicht einmal die Hälfte“, erklärt Prof. Dr. Jürgen Follmann. „Zwar nimmt das Gesundheitsbewusstsein zu – und das Radfahren ist hier bestens geeignet. Allerdings mangelt es hierzulande flächendeckend an guten Radwegen für den Alltagsverkehr.“ Die bräuchte es dringend, damit noch mehr Menschen Lust bekommen, sich fit zu radeln. Die grundsätzliche Bereitschaft ist jedenfalls da: In einer Umfrage des Deutschen Instituts für Urbanistik erklärte knapp die Hälfte der Befragten, sie würden im innerstädtischen Verkehr für kürzere Strecken am liebsten das Fahrrad benutzen. Nur ein Fünftel würde den eigenen Pkw vorziehen. Der Drahtesel ist zum Prestigeobjekt avanciert. Die Stadt der Zukunft gehört also nicht den Autos, sondern den Zweirädern. In dieser „Traumstadt“ radelt man zügig, sicher und komfortabel über breite, asphaltierte Wege und muss nur selten einen Fuß auf den Boden setzen.

Ein Novum für Hessen

In der Rhein-Main-Region gibt es da – wie es so schön heißt – noch eine Menge Potenzial: Jede zehnte Fahrt unter einem Kilometer wird hier noch mit dem Auto gemacht, bei Strecken unter drei Kilometern ist es ein Drittel, bei bis zu fünf Kilometern die Hälfte. „Das muss sich ändern, wenn wir Staus und Umweltprobleme in unseren Städten reduzieren wollen“, konstatiert Follmann. Er hat viel Zeit investiert, um ein Leuchtturmprojekt in der Region mit auf den Weg zu bringen: den Radschnellweg Darmstadt – Frankfurt. Bereits im Jahr 2013 erkundeten zwei seiner Masterstudierenden mögliche Routen: „Die beiden waren zwischen Darmstadt und Frankfurt kreuz und quer mit dem Fahrrad unterwegs, dokumentierten Feld-, Wald-, und Wiesenwege, Straßenverläufe in den Ortschaften und arbeiteten am Ende Vorschläge für einen möglichen Streckenverlauf aus“, erinnert sich Follmann.

Als das Thema dann zum ersten Mal durch die Presse ging, schmückten noch Schlagworte wie „revolutionär“ oder „utopisch“ die Texte. Heute sind Radschnellwege – im Volksmund auch als Rad-Autobahnen bezeichnet – Teil der verkehrspolitischen Agenda. Und zwischen Darmstadt und Frankfurt wird die Utopie tatsächlich Realität: Erster Spatenstich war am 16. Oktober 2018. Ein „historischer Moment“, erklärte Verkehrsminister Tarek Al-Wazir, denn für Hessen ist die Radschnellverbindung ein absolutes Novum. Und die Arbeiten gehen zügig voran: Der erste Abschnitt zwischen Darmstadt-Wixhausen und Egelsbach wird schon asphaltiert, 2022/23 soll das Bauvorhaben insgesamt abgeschlossen sein.

Start- und Zielpunkt in Darmstadt wird der Hauptbahnhof sein, in Frankfurt der Holbeinsteg am Mainufer – eine Strecke von gut 30 Kilometern. Die Route verläuft von Darmstadt bis Langen entlang der Bahngleise, dann durch Dreieich hindurch, westlich an Neu-Isenburg vorbei und nach Frankfurt hinein. Die angestrebten Standards sind hoch: Außerorts soll die Fahrbahn vier Meter breit sein, damit zwei Personen nebeneinander fahren und trotzdem bequem überholt werden können. Innerorts wird es baulich abgetrennte Radwege, Fahrstreifen oder Fahrradstraßen geben. Die Vorfahrten an Kreuzungen werden, wo immer möglich, zum Vorteil des Radverkehrs geregelt.

Bis zu 4.000 Radlerinnen und Radler pro Tag

Entscheidend ist: Radlerinnen und Radler sollen auf dem Schnellweg gut, sicher und – wie der Name schon sagt – flott unterwegs sein. Die Planer legen eine durchschnittliche Geschwindigkeit von 20 bis 25 Kilometern pro Stunde zugrunde. Deshalb wird die gesamte Strecke asphaltiert, die Beleuchtung ist solarbetrieben und wird über Sensoren aktiviert. Und wenn’s mal einen Platten gibt, kann man ihn in einer der sieben Servicestationen entlang des Weges flicken. „Wir gehen davon aus, dass die unterschiedlichsten Gruppen von der Schnellverbindung profitieren“, erklärt Follmann. „Das können Schüler oder Berufspendler ebenso sein wie Freizeitradler, die das Zweirad als Auto- oder Bahnersatz nutzen.“ Mit 2.000 bis 4.000 Radfahrern pro Tag rechnen Follmann und Kollegen auf einigen Abschnitten der Trasse.

Der Pendlerhölle Rhein-Main-Gebiet bringt das im Idealfall eine willkommene Entlastung: Tagtäglich stehen rund um Frankfurt, Darmstadt, Wiesbaden, Mainz und Offenbach Tausende im Stau. Nur knapp sechs Prozent der Berufstätigen nutzen dagegen das Fahrrad für den Weg zur Arbeit. „Diesen Anteil möchten wir auf 15 bis 20 Prozent steigern“, sagt Follmann. „Das kann aber nur gelingen, wenn die beteiligten Kommunen es wirklich ernst meinen, sich engagieren und an einem Strang ziehen.“ Auch große Arbeitgeber, wie etwa der Flughafen Frankfurt, müssten mitziehen und dafür sorgen, dass ihr Areal auch mit dem Fahrrad gut erreichbar ist.

Sieben Kommunen – Darmstadt, Frankfurt, Neu-Isenburg, Dreieich, Langen, Egelsbach und Erzhausen – leisten nun Pionierarbeit: Sie haben sich zusammengeschlossen, um gemeinsam den ersten hessischen Radschnellweg zu entwickeln. Der Regionalverband FrankfurtRheinMain, insbesondere dessen Radverkehrsbeauftragte Renate Krause, unterstützte das Projekt von Beginn an und sorgte dafür, dass die h_da die wissenschaftliche Begleitung übernimmt. Maßgeblich vorangetrieben wird das Vorhaben zudem von Kelsterbachs Bürgermeister Manfred Ockel, der als Geschäftsführer der „Regionalpark Südwest gGmbH“ auch für die Realisierung verantwortlich zeichnet.

Die Zusammenarbeit aller Beteiligten sei vorbildlich, lobt Follmann, der mit Studierenden und Mitarbeitern seines Fachbereichs regelmäßig an großen Verkehrsprojekten staatlicher Institutionen wie etwa der Bundesanstalt für Straßenwesen beteiligt ist. Auch der Radschnellweg stellt die Planer vor große Herausforderungen. Auf der vorgesehenen Trasse stößt man derzeit noch auf gruselig-düstere Unterführungen, da endet der Weg plötzlich an einer vielbefahrenen Landstraße, an einer steilen Treppe, die auf eine Brücke führt, oder vor den verschlossenen Toren eines Privatgrundstücks.

Projekt setzt bundesweit Maßstäbe

„Die schwierigsten Engstellen sind die Verknüpfungen zum Flughafen Frankfurt und die Führung im Darmstädter Stadtgebiet“, erläutert Follmann. „Hier sind eventuell Über- und Unterführungen notwendig.“ In den beteiligten Kommunen erfordert der Radschnellweg ein erhebliches Maß an Umgestaltung des Straßenraumes – deshalb wurden die Bürger in verschiedenen Workshops in das Projekt einbezogen. Auch die Kosten-Nutzen-Relation und der Naturschutz spielen eine Rolle. Das Prinzip: so viele Eingriffe wie nötig, so wenige wie möglich.

Verkehrsexperte Follmann ist dafür zuständig, das Projekt auch von wissenschaftlicher Seite auf eine solide Basis zu stellen. Dabei stehen ihm die beiden wissenschaftlichen Mitarbeiter Edgar Bär und Mark-Simon Krause sowie das studentische Projektbüro der h_da zur Verfügung. „Das ist ein Projekt mit Vorbildcharakter für ganz Hessen“, betont Follmann. „Und auch bundesweit liegen bislang kaum belastbare Erfahrungen vor.“ Umso wichtiger sei es, Meilensteine und Entscheidungen zu dokumentieren und die Auswirkungen zu evaluieren. Ziel müsse es sein, möglichst einheitliche Strukturen zu schaffen, die man sich in künftigen Projekten zunutze machen könne. „Wir setzen mit diesem Bauprojekt bundesweite Standards. Dazu gehört auch eine wiedererkennbare Markierung und Beschilderung, für die wir die Farbe Grün festgelegt haben.“

Das Thema Radschnellwege steckt in Deutschland noch in den Kinderschuhen. Als Trendsetter gelten Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen. In NRW sind mehrere Schnellwege in Planung, am „RS1“ wird bereits gebaut. Der „schnellste Weg durchs Revier“ wird auf gut 100 Kilometern von Hamm über Dortmund, Bochum, Essen und Mülheim nach Duisburg führen. Ein Projekt, das auch international Beachtung findet. Einer Studie aus dem Jahr 2014 zufolge könnte der RS1 täglich bis zu 52.000 Autofahrten mit mehr als 400.000 gefahrenen Kilometern ersetzen. Demnach könnte der rechnerische Nutzen des Bauprojekts – durch verbesserte Gesundheit und verringerte Unfallzahlen – nahezu fünfmal so hoch sein wie die Kosten. „Als Faustregel unter Verkehrsexperten gilt, dass ein Kilometer Autobahn im Schnitt rund zehn Millionen Euro kostet“, berichtet Jürgen Follmann. „Ein Kilometer RS1 kostet etwa 1,8 Millionen.“

Es gibt aber auch eher pessimistische Perspektiven auf das Thema. Die TU Dortmund prognostiziert in einer Studie: Radschnellwege wie der RS1 sind teuer und werden nur wenige Menschen dazu bringen, vom Auto aufs Rad umzusteigen. Für das hessische Vorzeigeprojekt gelte dies keinesfalls, sagt Professor Jürgen Follmann: „Im Gegensatz zum Ruhrschnellweg verbindet die Radschnellverbindung Darmstadt – Frankfurt direkt Ziele und Quellen von potenziellen Nutzerinnen und Nutzern über den gesamten Streckenverlauf.“ In beiden Städten seien die knappen Parkräume bereits umfassend bewirtschaftet und sei der ÖPNV überlastet, was die Verkehrsmittelwahl weiter zugunsten des Radverkehrs verändern werde. „Durch weitere Vernetzungen zum Beispiel mit dem Flughafen Frankfurt wird sich diese Entwicklung noch verstärken.“

Gesellschaftlicher Konsens statt radikale Lösungen

Dass sich die Investitionen lohnen, glaubt man offensichtlich auch in anderen europäischen Ländern. Allen voran die Niederlande: Dort wurden in den 1980er-Jahren die ersten Radschnellwege gebaut. Die Zweirad-affinen Holländer sind heute auf rund 300 Kilometern „Fietssnelwegen“ unterwegs, ein nationales Netz mit knapp 700 Kilometern weiterer Schnellstrecken ist in Planung. Auch in der Schweiz, in Norwegen, Großbritannien und Dänemark rückt das Fahrrad als Alternative zum Auto zunehmend in den Fokus. So entsteht beispielsweise in der dänischen Hauptstadt Kopenhagen ein umfassendes Netz von „Supercykelstiers“, die die Vororte mit dem Stadtzentrum verbinden.

„Man muss aber nicht über die Landesgrenzen hinausschauen, um zu sehen, wie es geht“, sagt Professor Follmann. In Leuchtturmstädten wie Freiburg, Karlsruhe und Münster gebe es Masterpläne für den Radverkehr. „Genau das braucht eine Stadt wie Darmstadt auch“, so die Empfehlung des Experten. Schließlich würden davon nicht nur Radfahrer profitieren, sondern auch die Kommunen (weniger Autos), die Umwelt (weniger Emissionen) und sogar der Einzelhandel: Untersuchungen zufolge machen Radfahrer zwar keine Großeinkäufe, kommen dafür aber häufiger ins Geschäft und geben insgesamt mehr Geld aus.

Dass es bei all dem nicht um radikale Lösungen gehen kann, ist Radfan Follmann bewusst. „Natürlich geht es hier auch um die Frage: Was nehmen wir den Autofahrern weg – und was geben wir den Radfahrern? Das kann nur gelingen, wenn wir einen gesellschaftlichen Konsens haben. Und am Ende gewinnen alle.“ Deshalb wird Follmann nicht müde, für seine Zukunftsvisionen zu werben. Dabei endet seine Fantasie nicht an den Darmstädter Stadtgrenzen. Er und seine Mitstreiter denken schon weiter: an ein Netz von Radwegen durch ganz Hessen bis hinein nach Baden-Württemberg. Und an eine Seilbahn, die Pendler von den Frankfurter Randbezirken luftig schwebend und staufrei Richtung Hauptbahnhof befördert. Da wird es wohl wieder einmal heißen, das sei eine schöne Utopie.

Autorin

Christina Janssen
Dezember 2018

Kontakt

Christina Janssen
Hochschulkommunikation
Tel.: +49.6151.16-30112
E-Mail: christina.janssen@h-da.de

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