Digitale Annäherung an ein rätselhaftes Dorf

Ein 57-Seelen-Nest als Testfeld für Architekturstudierende: In einem Masterprojekt von Professor Lars Uwe Bleher und der Lehrbeauftragten Katharina Körber am Fachbereich Architektur der h_da wurden Ideen und Entwürfe entwickelt, die die spannende Geschichte eines kirchenhistorisch bedeutsamen Örtchens in Baden-Württemberg zu neuem Glanz verhelfen soll. Die Vision für Besucherzentren, Museumsbauten, archäologische Pfade oder die digitale Wiederauferstehung einer Basilika sollen auch einer Stiftung helfen, das abgelegene Kleinod als Besichtigungsort zu entwickeln.

Von Alexandra Welsch, 5. März 2021

Vögel zwitschern, Kühe weiden, Flusswasser plätschert, als die Kamera aus der Jagst auftaucht und über das Dorfidyll fliegt. Wie im Zeitraffer erscheint in der Wiesenlandschaft mit einzelnen Siedlungshäusern per Computeranimation zunächst die erste Saalkirche aus dem 8., 9. Jahrhundert. Sie wird später durch einen mehrschiffigen Kirchenbau ersetzt – und dann, im 10. und 11. Jahrhundert, entsteht daneben eine mächtige Basilika im Stil der Frühromantik. Es ist ein imposantes Bauwerk, 47 Meter lang und 17 Meter breit, das die wenigen umliegenden Häuschen weit überragt. So zeigt es der knapp 8-minütige Animationsfilm, der im Rahmen eines Masterprojekts an der Hochschule Darmstadt entstanden ist. Doch in der Realität vor Ort muss man genau hinschauen, um die Bedeutung dieses verschlafenen 57-Seelen-Örtchens Unterregenbach zu greifen. Noch ist kaum zu fassen, dass sich hier im Frühmittelalter ein religiöses Zentrum befunden haben soll. Und dass eine der wichtigsten Forschungsstätten der Mittelalterarchäologie in Baden-Württemberg liegt.

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Wieso wurde in dem entlegenen Weiler der Baden-Württembergischen Kleinstadt Langenburg vor mehr als 1000 Jahren ein so mächtiger Sakralbau errichtet, der dann im 12. Jahrhundert einem Brand zum Opfer fiel? Und was hat es mit den drei „Riesen vom Jagst-Tal“ auf sich, deren lange Skelette hier jahrhundertelang unter der Erde schlummerten und nun mittels DNA-Untersuchung neu betrachtet werden. Diesen Rätseln auf den Grund zu gehen und sie greifbar zu machen: Das ist das Anliegen der gemeinnützigen Stiftung „Archäologische Erforschung Unterregenbach“, mit deren Gründung voriges Jahr die wissenschaftliche und öffentliche Hinwendung zu diesem Kleinod neuen Schub bekommen hat. Es ist ein Beispiel für ein fruchtbares Zusammenspiel von bürgerschaftlichem Engagement, modernen Methoden archäologischer Untersuchung und zeitgemäßen Präsentationsformen, die von jungen Architektinnen und Architekten an der h_da entwickelt wurden.

Angefangen hat es Jahre zuvor bei einer Hochzeit in der evangelischen Kirche St. Veit, zu der auch Christian Neuber eingeladen war. Er war früh dran, musste warten und erblickte ein Schild, das ins Pfarrhaus zu einer Krypta wies. „Ich ging hinein, und musste feststellen, dass das ein Juwel ist“, erinnert sich der Mann aus Schwäbisch-Hall, der dann, einige Jahre und Aha-Momente später, die Stiftung gründete und mit 200 000 Euro ausstattete. Ein Gedanke dabei: „Wenn das die größte Kirche Baden-Württembergs war, kann man davon ausgehen, dass da mehr gewesen sein muss.“ Als ehemaliger Verleger von Kinderzeitschriften ist Neuber wichtig, den historischen Schatz von Unterregenbach vor allem auch kind- und familiengerecht zu präsentieren.

Man könnte ein Besucherzentrum an das Ufer der Jagst setzen, das Publikum über einen archäologischen Pfad entlang historischer Stationen durch das Dorf führen, die Grabungsausstellung im alten Schulhaus zu einem Museum ausbauen, die Krypta im Keller des Pfarrhauses mit Videoinstallationen zu anschaulichem Leben erwecken: All das sind Ideen, an denen im zurückliegenden Wintersemester Architekturstudierende der Hochschule Darmstadt gearbeitet haben in einem Masterseminar von Professor Lars Uwe Bleher. Er leitet an der h_da unter anderem das Lehrgebiet Neue Medien am Fachbereich Architektur.

Das Spannende an dem Unterregenbach-Projekt ist, sagt der Professor, dass sich für Architekten und Ausstellungsgestalter verschiedene Orte und Szenarien bieten, um die Historie zeitgemäß greifbar zu machen – von digital erzeugten Präsentationsfilmen bis zum handfesten Museumsbau. „Wir haben wie in einem Architekturbüro in Teams mit agilen Co-Creation Prozessen gearbeitet“, erläutert er. Zwar könne man nicht die Planungsleistung eines Profibüros ersetzen. „Aber wir können Impulse setzen und visuelle Dinge ausprobieren.“ Nicht zuletzt als Mitglied des Stiftungsbeirats ging es Bleher auch darum, ein Paket mit Optionen zu schnüren, mit dem die Stifter weitere Unterstützung akquirieren können. Und das Schöne an Studierenden sei, dass die so angstfrei agieren. „Dadurch loten sie einen Möglichkeitsraum aus.“

Dem Ausloten der Realität vor Ort hingegen waren Grenzen gesetzt – nicht nur wegen der Pandemie, die Kursbesuche in Unterregenbach unmöglich gemacht hat. „Da treffen Welten aufeinander“, stellt Katharina Körber fest, die das Projekt als Lehrbeauftragte begleitete. Sie seien nur einmal mit zwei Studierenden dort gewesen, ansonsten seien Kursteilnehmer einzeln hingefahren. „Der Ort wirkt märchenhaft und liegt wie ein ganz friedliches Dorf wunderschön in der Landschaft“, schwärmt die junge Lehrbeauftragte. Und darüber schwebe stets „ein großes Fragezeichen, warum es eine so gigantische Basilika in so einem kleinen Dorf gab“. Doch diese Frage mussten auch die Projektbeteiligten der h_da zunächst unbeantwortet im Raum stehen lassen. „Das, was dort vorhanden ist, mit unseren Mitteln zu visualisieren“, beschreibt Körber die Stoßrichtung. Neben einiger Literatur über bisherige Forschungsergebnisse griffen sie etwa auf Artefakte aus dem kleinen Museum zurück. Im Hof und Keller der Kirche gebe es noch Mauerreste der Basilika. Und als besondere Spielwiese erwies sich die gut erhaltene Krypta. Von ihr hat Körber mit einer App auf ihrem Smartphone einen 3D-Lidar-Scan gemacht, „den physischen Ort digitalisiert“, wie sie das beschreibt. Auf Basis dieses digitalen Materials nach entsprechender Bearbeitung am Computer könnten dann Betrachter mittels Tablet oder einer Augmented-Reality-Brille die Basilika vor sich auftauchen sehen.

„Der Ansatz für uns in der Architektur ist, dass es nicht mehr digital und analog gibt, sondern dass beides zu etwas Hybridem verschmilzt“, betont Körber. Allerdings können da in einem verschlafenen Nest wie Unterregenbach besondere Herausforderungen auf einen zukommen: Für die Grundlage der 3D-Visualisierung der Dorfstruktur habe man eine Drohnenkamera eingesetzt. Doch die Drohne müsse man über Wifi verbinden, und solche Errungenschaften der Moderne sind in Unterregenbach noch nicht richtig angekommen. „Bis das geklappt hat, musste man an einer bestimmten Stelle im Ort stehen und das Handy hochhalten.“ Und versenden können habe man das digitale Material nur von der Turnhalle im benachbarten Langenburg, wo es einen Hotspot gab. Sic: „Da treffen Welten aufeinander.“

Die Uhr des Kirchturms schlägt munter, als Hans-Jörg Wilhelm ans Telefon kommt. Er lebt seit 25 Jahren in Unterregenbach und leitet ehrenamtlich das Grabungsmuseum. Dass nun neue Dynamik in die Sache gekommen ist, freut auch ihn. „Es hat hier unheimlich viele Leute gegeben, die das untersucht haben“, stellt er fest. „Aber seit den achtziger, neunziger Jahren gab’s da mehr oder weniger eine Stagnation.“ Besonders bedauerlich findet er das mit Blick auf den spannenden Fund dessen, was er „die Riesen vom Jagst-Tal“ nennt: Bei Grabungen in den Sechziger Jahren unter der heutigen Kirche aus dem 13. Jahrhundert seien Skelette einer Innenraumbestattung gefunden worden von ungewöhnlichen Ausmaßen: Die Körperlänge habe bei um die 1,80 bis 1,90 Meter gelegen und damit zwanzig, dreißig Zentimeter über der damaligen Normalgröße dort. Nachdem die Gebeine jahrzehntelang eingelagert waren, seien sie nun aktuell mittels DNA-Analyse von demselben Bozener Institut untersucht worden, das auch bei der Bestimmung des Eismanns Ötzi beteiligt war. „Ich habe noch nichts schriftlich“, sagt der Hobby-Historiker, der gerne mal einen ähnlichen Hut wie Film-Archäologe Indiana Jones trägt. Doch habe er eine mündliche Auskunft, dass der älteste Gefundene aus dem Jahr 650 stammen würde. „Das ist eine kleine Sensation.“

Zu konkreten Ergebnissen gibt das involvierte Landesamt für Denkmalpflege noch keine Auskunft. Doch wie die Pressestelle des Regierungspräsidiums Stuttgart als übergeordnete Behörde darlegt, besteht die Bedeutung des Orts „als einmaliges Ensemble aus Kirchen und Bestattungsplätzen mit Herrensitz und Siedlung des Früh- bis Spätmittelalters“ und einer der wichtigsten Forschungsschwerpunkte der Mittelalterarchäologie seit 1960 über Baden-Württemberg hinaus. Grabungen von 1960 bis 1968 stellten „einen der wichtigsten Pfeiler für die Entstehung der modernen Mittelalter- und Neuzeitarchäologie als eigenständiges Fach in Deutschland dar“.  

Warum aber hat die Erforschung dann jahrzehntelang geruht und wird erst jetzt wieder aufgenommen? „Bei den Erkenntnismöglichkeiten durch die DNA-Analyse von historischen und prähistorischen Knochen sind im letzten Jahrzehnt große Fortschritte gemacht worden“, argumentiert die Behörde. Auch seien die naturwissenschaftlichen Datierungsmethoden mittels C14 genauer geworden. „Viele Fragen, etwa zur Verwandtschaft, können deshalb erst jetzt beantwortet werden.“ Zudem lasse die Gründung der Stiftung Synergieeffekte erwarten. Die Untersuchungen seien 2019 wieder aufgenommen worden, „um offene Fragen mit modernen Methoden der Archäologie und der Naturwissenschaften zu klären“. Hierzu zählten derzeit laufenden Alters- und Verwandtschaftsbestimmungen der vier Innenbestattungen unter dem Gründungsbau der heutigen Pfarrkirche. Im vorigen Jahr sei zudem begonnen worden, zwei bislang unerforschte Freiflächen im Ort zu untersuchen, bei denen es sich vermutlich um ehemalige Siedlungs- oder Marktbereiche handle.

„Wir haben durch unsere Aktivitäten Anstoß gegeben, dass da wieder was passiert“, ist sich Philip Neuber sicher, der die von seinem Vater initiierte Stiftung leitet. So förderten sie ein Stipendium zur Auswertung des beim Landesdenkmalamt gebündelten Fundkomplexes Unterregenbach. Doch was größere Ausstellungsvorhaben wie ein Besucherzentrum oder Museum angeht, dazu brauche es weitere Finanzmittel. „Wir sind sicher, dass es mit den Entwürfen und Visionen leichter sein wird, Gelder einzusammeln“, meint der junge Stiftungsleiter, der begeistert ist von den studentischen Ideen. Etwa von dem Sieger-Stegreifentwurf von Sarah Krenzer für ein Besucherzentrum, die einen lichten Brückenbau aus Holz über die Jagst gesetzt hat. „Da bekommt man Lust, das gleich hinzubauen.“

Doch klar sei auch, dass man in dem Dorf behutsam vorgehen muss. „Die Menschen dort sind stolz, was das schlummert, und wollen, dass das überregionale Bedeutung bekommt“, sagt der ausgebildete Jurist. „Auf der anderen Seite ist die Angst groß, dass der Ort seinen Charme verliert.“ Und das wolle man auf keinen Fall. „Das wird kein Disneyland“, stellt er klar. Vielmehr wolle man „nachhaltig und mit Bedacht“ Touristen dorthin bringen. Konkret anfangen wollen sie damit noch in diesem Jahr mit der Realisierung des archäologischen Pfads, der Interessierte entlang von Infostationen durch den Ort führen soll. Und wie Katharina Körber für die Projektpartner an der h_da betont, ist die Hochschule da gerne weiter im Boot: „Wir sind durchaus interessiert, das weiter mit zu begleiten.“

Betreuung:
Prof. Lars Uwe Bleher, LB Katharina Körber - Lehrgebiet Neue Medien
Bauhistorische Beratung: Prof. Udo Gleim

Teilnehmende:
Lale Akman, Lara Blume, Sarah Fritzinger, Michèle Geiger, Anna Göttmann, Anika Grevener, Lena Kester, Sarah Krenzer, Andrea Lang, Dingxiang Lin, Thomas Obmann, Mandy Schultz, Mara Teodoro, Laura Wenz, Xian Zhu

Verwendete Techonologien und Tools:
Digitalisierung der Krypta: 3D Lidar Scan, Modelling Unterregenbach: Rhinocerus & VRay,
Div. weitere CAAD Programme, Adobe CC, Premiere und After Effects
Co-Creation mit Mattermost als kollaboratives Arbeitstool

 

Kontakt

Christina Janssen
Wissenschaftsredakteurin
Hochschulkommunikation
Tel.: +49.6151.16-30112
E-Mail: christina.janssen@h-da.de

Prämiertes Projekt

Das Projekt holte im Branchen-Nachwuchswettbewerb "Neuland" die Auszeichnung in Gold. Auszug aus der Begründung der Jury: "Der Ansatz, der Architektur, Städtebau, Szenografie und Ausstellungskonzept verbindet, hat überzeugt. "