Prof. Dr. Stefan Schmunk
„Shakespeare hätte seine Freude daran gehabt“

Prof. Dr. Stefan Schmunk hat neuerdings ein sprichwörtliches Herzensprojekt: Im Rahmen des Forschungsprojekts „Gruß und Kuss – Briefe digital. Bürger*innen erhalten Liebesbriefe“ widmet er sich Liebesbezeugungen aller Art.  Als Experte für Informationswissenschaft und Digitale Bibliothek kümmert er sich vor allem um die Entwicklung einer App, die interessierten Bürgerinnen und Bürgern das wissenschaftliche Arbeiten mit digitalisierten Liebesbriefen ermöglicht. Diese stammen aus dem Liebesbrief-Archiv an der Universität Koblenz. „Gruß und Kuss“ ist ein Gemeinschaftsprojekt der TU Darmstadt, der Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt, der Hochschule Darmstadt und der Universität Koblenz.

Ein Interview von Nico Damm, 22.03.2021
 

impact: Erinnern Sie sich an Ihren allerersten Liebesbrief?

Schmunk: Ich kann nicht mehr direkt ausmachen, wem ich was wann geschrieben habe. Es muss diese Sturm-und-Drang-Phase im Alter von 13 oder 14 Jahren gewesen sein. Wahrscheinlich habe ich den Brief mit einer roten Rose garniert.

impact: Wow, ein Romantiker!

Schmunk: Was soll ich sagen? Man gibt immer sein Bestes.

impact: Was ist eigentlich die genaue Definition eines Liebesbriefs?

Schmunk: Zunächst einmal ist es die Artikulation von Zuneigung gegenüber jemand anderem. Sie muss keine Briefform haben. Meine Kollegin Andrea Rapp, Professorin am Institut für Sprach- und Literaturwissenschaft der TU Darmstadt, spricht gerne von Kopfkissenzetteln – kleine Nachrichten, die sich Partnerinnen und Partner auf besagtem Kissen hinterlassen. Ich kannte den Begriff zuvor gar nicht und habe festgestellt, dass das ein Medium ist, das ich benutze, um mit meiner Frau zu kommunizieren. Meine Kollegin Eva Wyss von der Uni Koblenz, die dieses Projekt vor über 20 Jahren initiiert und auch mit dem Sammeln angefangen hat, hat auch kuriose Objekte gefunden, zum Beispiel Graffiti. Damit wird sogar eine Öffentlichkeit hergestellt. Sie kennen sicherlich diese „Ich liebe dich“-Kritzeleien, meist plus Name, an Straßenüberführungen zum Beispiel. Auch die sind nach unserer Definition Liebesbriefe. Es geht auch nicht nur um die klassische Liebe wie etwa zwischen Eheleuten, sondern um die Artikulation von Zuneigungen, die eben auch zwischen Familienangehörigen oder unter Freund*innen artikuliert werden können.

impact: Warum ist es wichtig, Liebesbriefe zu erhalten?

Schmunk: Sie sind ein Kulturgut, aber vor allem Alltagsobjekt und Alltagskommunikationsobjekt. Liebesbriefe, die bis heute erhalten geblieben sind, stammen oft von bekannten Persönlichkeiten. Was in der Regel nicht überliefert ist: Wie ganz normale Menschen im Alltag miteinander kommuniziert und ihre Liebe artikuliert haben. Dabei findet man Liebesbriefe weltweit – in jeder Kultur oder soziokultureller Verortung. Heute sind viele Liebesbriefe oft Text-Nachrichten. Das ist dermaßen flüchtig, dass ich befürchte, dass wir in 100 Jahren das Problem haben werden, genau diese Alltagskultur des 21. Jahrhunderts nicht mehr nachvollziehen zu können.

impact: Wie viele Liebesbriefe aus dem Archiv haben Sie schon zu Gesicht bekommen?

Schmunk: Von den knapp 22.000 Briefen vielleicht ein paar Dutzend. Da sind ein paar Schmankerl dabei, die einen Blick in eine bestimmte Epoche und ein Milieu und bestimmte soziale Schichten ermöglichen. Das finde ich sehr faszinierend.

impact: Wie würden Sie denn die literarische Qualität dessen, was Sie bisher gelesen haben, einschätzen?

Schmunk: Ich glaube, es steckt Stoff für eine Vielzahl von Kinofilmen darin. Da gibt es Frontbriefe von Soldaten aus dem ersten oder zweiten Weltkrieg, die ihren Lieben zuhause mitteilen, wie es ihnen geht. Oder Briefe eines schwulen Paares in den 1950er Jahren – also damals verbotene Liebe, die noch lange Jahre danach strafrechtlich relevant war. Da merkt man, welche Zuneigung in diesen Briefen steckt, und zugleich auch, welche Angst, entdeckt zu werden. Man findet Briefe von Menschen, die verheiratet sind – aber mit jemand anderem. Shakespeare hätte seine Freude daran gehabt. Es gibt auch Briefe von literarischer Qualität im Archiv. Für mich als Kulturhistoriker ist das Faszinierende aber das Alltagselement. Das Archiv ist etwas Großartiges, ein Lebenswerk von Eva Wyss (Professorin Eva L. Wyss vom Institut für Germanistik der Universität Koblenz, Anm. d. Red.).

impact: Eva Wyss sagt auch, dass Liebesbriefe bis heute ein männliches Genre sind. Haben Sie dafür eine Erklärung?

Schmunk: Das entstand im 19. Jahrhundert und hält sich bis heute. Ursprünglich warb in vielen Briefen ein Mann ganz klassisch um eine Frau. Anscheinend ist es sozio-kulturell so stark determiniert oder verankert, dass das schriftliche Werben vom Mann ausging. Außerdem denke ich, dass wir noch Welten davon entfernt sind, dass wir in Europa und Deutschland über eine emanzipierte Gesellschaft sprechen können.

impact: Von welchen Menschen stammen denn die meisten Briefe im Archiv? Gibt es da ein Muster?

Schmunk: Wir haben Briefe von unterschiedlichsten Milieus und Schichten. Aus dem 19. Jahrhundert gibt es Briefe, die vor allem aus dem Bürgertum und sogenannten gebildeten Schichten kommen. Die Alphabetisierungsrate in Deutschland stieg insbesondere ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts so stark an, dass das Schreiben und Lesen in der Breite der Bevölkerung Alltagspraktik wurde. Grundsätzlich ist es oftmals Zufall, was überliefert ist. Das ist dadurch bedingt, dass wir sehr viele Schenkungen von Angehörigen haben, und wir wollen das bürgerwissenschaftliche Forschungsvorhaben zugleich auch dafür nutzen, um weitere Briefe zu sammeln.

impact: Sie setzen auf Citizen Science, die sogenannte Bürgerwissenschaft. Was ist das genau?

Schmunk: Citizen Science ist eine Bewegung, die 15 bis 20 Jahre alt ist. Prinzipiell geht es darum, dass Bürger*innen sich aktiv an Forschungsvorhaben beteiligen, eigene Ideen entwickeln und darüber auch eigenständige Forschungsfragen formulieren. Im Rahmen von „Gruß & Kuss“ wollen wir analysieren, wie Bürger*innen mit den Briefen arbeiten, welche Fragen sie an das Material und den Inhalt stellen. Aus wissenschaftlicher Perspektive ist für uns darüber hinaus wichtig, ob wir bestimmte Formen innerhalb der Briefe identifizieren können. Hierbei kann es sich um Anreden, Kosenamen, Abschiedsfloskeln, aber auch um bestimmte Redewendungen handeln, mit denen Liebesbezeugungen artikuliert werden – und dies eben immer unter sich verändernden Raum-, Zeit- und Sprachbezügen.

impact: Das heißt, Sie wollen den frischen Blick von Bürgerinnen und Bürgern, und in die andere Richtung möchten Sie auch einen Bildungscharakter haben?

Schmunk: Der Bildungscharakter ist mir nicht so wichtig. Wir wollen vor allem diesen frischen und innovativen Blick. Wir erhoffen uns, dass wir bestimmte Gruppen mobilisieren oder ein Interesse wecken können, sich mit den Materialien auseinanderzusetzen. Ich würde mich sehr darüber freuen, wenn wir auch ITler, Digital Natives oder computeraffine Menschen zur Mitarbeit gewinnen können. Vielleicht hat jemand eine zündende Idee, was mit den Briefen über das, was uns bislang interessiert hinaus noch gemacht werden kann.

impact: Sie planen zusammen ein „Blind Date Café“ mit dem schönen Namen Stelldichein, das die Bürgerbeteiligung fördern soll. Was genau ist dieses Café?

Schmunk: Das Café Stelldichein soll ein Ort des Austauschs sein. Dort sollen Ideen geäußert werden können. Dort wollen wir gemeinsam mit Bürger*innen überlegen, wie wir mit dem Material umgehen können und Ideen generieren – vergleichbar mit einem Think Tank für bürgerwissenschaftliche Forschung. Als wir im Januar 2020 den ersten Entwurf geschrieben haben, gingen wir noch davon aus, dass wir alles wirklich vor Ort machen können. Wir wollten das Café etwa in der Darmstädter oder Koblenzer Innenstadt aufbauen. Das können wir momentan nicht realisieren, hoffen aber, dass wir es 2022 angehen können. In den kommenden Wochen werden wir in einem ersten Schritt ein digitales Café Stelldichein entwickeln.

impact: Der zweite Meilenstein des Projekts ist ein „Lab“, also ein Labor, das an der Universitäts- und Landesbibliothek in Darmstadt angesiedelt sein soll...

Schmunk: Das Lab wird der Ort sein, an dem Bürger*innen an dem Projekt arbeiten können. Die digitalisierten Briefe aus Koblenz werden nach Darmstadt an die Universitäts- und Landesbibliothek kommen. Menschen sollen hier mit verschiedenen digitalen Werkzeugen einen kreativen, spielerischen Zugang zu diesen Daten bekommen und sich mit den Liebesbriefen auseinandersetzen. Um damit digital und maschinell umgehen zu können, müssen die Briefe transkribiert und erschlossen werden: Ist ein Name eine Liebesbezeugung oder ein Kosename? Warum wird der Name verwendet? Ist es vielleicht ein Eigenname? Das können wir nicht ausschließlich maschinell angehen. Wir brauchen einen Trainingskorpus, um den Algorithmen zu vermitteln, welche Formen bestimmte Inhalte haben. Im Rahmen der geplanten Love Coding App soll beides ermöglicht werden. Wir probieren, damit eine Transkription von Texten zu ermöglichen, aber auch eine Transkription mittels „Speech to Text“, wie es einige von ihren Mobiltelefonen kennen: Man spricht rein und es kommt ein geschriebener Text raus. Damit könnten wir in Seniorenheime gehen: Dann könnten Menschen, die Sütterlin oder Kurrent noch lesen können, aber möglicherweise nicht tippen können, Briefe vorlesen.

impact: Was ist für Sie die größte Herausforderung in diesem Projekt?

Schmunk: Die größte Herausforderung ist der Vermittlungsprozess und die Zusammenarbeit zwischen Bürger*innen und Wissenschaftler*innen. Für alle am Projekt Beteiligten ist dies eine spannende Perspektive, da wir in erster Linie ermöglichen möchten, mit den Briefen zu arbeiten. Aber dadurch, dass das Hauptaugenmerk auf dem Ermöglichen liegt, können wir auch nicht genau sagen, wie viel final wirklich realisiert wird. Werden 5.000 Briefe oder 2.500 Briefe digitalisiert? Erhalten wir möglicherweise 50.000 neue Briefe für das Liebesbriefarchiv oder doch nur 500? 

impact: Das heißt, Sie haben nicht das feste Ziel, die Algorithmen in der Projektlaufzeit so fit zu kriegen, dass Sie das ganze Archiv erfassen und verschlagworten können?

Schmunk: Wir werden es versuchen, aber aufgrund der extremen sprachlichen und materiellen Unterschiedlichkeit der Briefe werden wir nicht die umfassende Lösung – one fits all – generieren können, sondern wir sind auf die Mitarbeit der Bürger*innen angewiesen. Unsere Intention ist, dass wir einen Startpunkt setzen möchten, um Citizen-Science-Engagement zu ermöglichen und das Archiv weiter auszubauen.

impact: Ist das Liebesbriefarchiv auch für Privatleute zugänglich?

Schmunk: Genau dies wird im Rahmen des Forschungsprojektes umgesetzt: Der Zugang zu den Briefen. Dabei müssen oftmals noch Urheber- und Persönlichkeitsrechte geklärt werden, aber der erste Schritt ist es, eine Teilsammlung zu erstellen mit Materialien, die öffentlich über die Website genutzt werden können. 

Kontakt

Nico Damm
Wissenschaftsredakteur
Hochschulkommunikation
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