Stegreif für Utopia

Auf einer erlebnisdichten Exkursion in New York entwerfen Architektur-Studierende der Hochschule Darmstadt ein Apartmenthaus für bezahlbares Zusammenwohnen von Obdachlosen und Studierenden mitten in Manhattan. Aha-Effekte erlebt die Reisegruppe zudem beim Durchstreifen der Hochhauslandschaften und Hereinschnuppern in die Arbeitswelt renommierter Büros. Die Begeisterung ist groß – auch über die andersartige Baukultur und Lehre als zuhause.

Von Alexandra Welsch, 18.1.2024

Ist es eine realitätsferne Utopie oder eine gangbare Lösung in wohnungsnotgebeutelten Städten? Ein Apartmenthaus, in dem Obdachlose und Studierende unter einem Dach zusammenwohnen, sie leben Seite an Seite in Wohngruppen beieinander, begegnen sich in Gemeinschaftsräumen oder einem begrünten Innenhof, kochen zusammen in der WG-Küche oder treffen sich auf ein Mittagessen im hauseigenen Lokal. So sehen es die Entwürfe vor, die Architekturstudierende der Hochschule Darmstadt (h_da) im Rahmen einer außergewöhnlichen Exkursion entworfen haben – mitten in New York.

Wo sonst als in der Stadt der Utopien, dem Utopia der modernen Welt, können solche Ideen entwickelt werden. „New York ist ein Ort der Extreme“, betont Katharina Körber, Lehrkraft für besondere Aufgaben am Fachbereich Architektur und Mitorganisatorin der einwöchigen Exkursion unter Leitung der Professoren Lars Uwe Bleher und Thorsten Helbig im Mai. „In New York wird architektonisch wahnsinnig viel ausprobiert, da werden immer wieder Meilensteine gesetzt“, weiß die junge Frau, die das schon zu Studienzeiten in den USA erlebt hat. Ihre Lehrbeauftragten-Kollegin Jasmina Herrmann hingegen war zum ersten Mal in Big Apple und schwärmt, „dass man sofort in den Flow der Stadt kommt, weil die Bevölkerung so divers ist und die Atmosphäre so offen“. Und das, ergänzt Körber, „spiegelt auch die Baukultur wider“.

Staunend durch die Hochhauslandschaften

Freudig, staunend und oft nach oben gerichtet zu den Gipfeln der Hochhauslandschaften sind die Blicke, die auf den Fotos im Exkursionsbericht aus den Gesichtern der 47 teilnehmenden Studierenden herausschauen. Wie sie auf einer Stadttour zu Fuß reihenweise markante Bauwerke besichtigen, von modernen Museumsbauten, wie dem Museum of Modern Arts oder Guggenheim bis zu Wolkenkratzer-Klassikern wie dem Chrysler oder Seagram Building, wie sie in der altehrwürdigen Grand Central Station deren Architektur in Zeichnungen bannen oder auf einer Radtour per Pedale die beeindruckende Brooklyn und Manhattan Bridge erkunden.

„Es ist so gigantisch, dass man gar nicht hinterherkommt“, fasst Student Jonathan Uhlemann seine Eindrücke zusammen. Es sei spannend, all die weltbekannten Gebäude in echt zu sehen und greifen zu können, warum sie in der Architekturgeschichte eine solche Relevanz haben. „Das hat eine Dimension, die man in der Lehre nicht rüberbringen kann.“ Seiner Kommilitonin Yasaman Zeinali geht es ähnlich: „New York hat eine besondere städtebauliche Struktur, es ist sehr durchgerastert“, sagt sie. „Das vor Ort zu erleben, ist etwas ganz Anderes.“ Jonathan kommt hier auf städtebauliche Charakteristika zu sprechen, wie den Central Park als riesige grüne Insel inmitten der Hochhausgebirge Manhattans, oder dass es im Financial District bei aller Businessdominanz einen beachtlichen Wohnungsanteil von 50 Prozent gibt. „Die ganze Stadt ist viel hybrider“, stellt er fest. „Es ist wie eine funktionierende Utopie.“

„New York ist der krasseste Ort, was Wohnungspreise angeht“

Das führt direkt zu dem eigenen Gebäude-Entwurf, den Teile der Exkursionsgruppe bei einem zweitägigen Workshop in Kooperation mit dem College „The Cooper Union The Irwin S. Chanin School of Architecture“ erarbeitete, nachdem das an beiden Hochschulen im Semester davor vorbereitet worden war. „New York ist auch der krasseste Ort, was soziale Unterschiede und Wohnungspreise angeht“, merkt Lehrkraft Körber an. Da zahle man für die kleinste Wohnung mit ganz wenigen Quadratmetern schon zwei- bis dreitausend Dollar. Daher hätten dort auch Social-Housing-Projekte eine Tradition, um Menschen mit wenig Einkommen bezahlbaren Wohnraum zu bieten. Beispielquartiere wie die Stuyvesant Town - Peter Cooper Village wurden im Rahmen der Expedition mitbetrachtet. Daran sollte der Architekturnachwuchs mit einem neuartigen, hybriden Ansatz anknüpfen.

Unter dem Titel „(don’t) mind the (social) gap“ haben Studierende beider Hochschulen unter Anleitung von Professorin Mersiha Veledar (Cooper)  sowie Professor Thorsten Helbig und Lehrbeauftragter Jasmina Herrmann (beide h_da) für eine real existierende Baulücke in der E 4th Street im Viertel Bowery mitten in Manhattan ein mehrgeschossiges Apartmentgebäude für temporäres, gemischtes Zusammenwohnen von Obdachlosen und Studierenden entworfen – also für zwei von Wohnraumnot besonders betroffene Gruppen. Nach eigenständiger Standortanalyse und einem Inputvortrag über Obdachlosigkeit in New York entstanden in Kleingruppen mehrere Entwürfe. „Wir wollten nicht nur ein Haus planen, sondern eine Gemeinschaft schaffen“, kommentiert Studentin Yasaman ihren Entwurf. Die Grundstruktur bilden kleine Clusterappartements mit Küche und Bad in Kombination mit großzügigen Freiflächen, von Gemeinschaftsräumen über Dachterrasse und Garten bis zum selbstbewirtschafteten Restaurant im Erdgeschoss.

Die andere Exkursionsgruppe mit Fokus auf Innenarchitektur hat sich unterdessen in einem Workshop am Pratt Institute als zweiter New Yorker Partnerhochschule mit deren Professorin Alison B. Snyder sowie von der h_da Professor Lars Uwe Bleher und Katharina Körber mit Unterschieden und Gemeinsamkeiten der Lehre dort und an der h_da beschäftigt. Den Eindruck von einem „sehr unterschiedlichen Arbeiten und Denken“ hat etwa Yasaman Zeinali gewonnen und nennt ein Beispiel: „Für uns müssen Entwürfe vor allem funktionieren, unsere Partnerinnen und Partner in New York denken da freier und achten mehr auf schöne Formen und Ideen“. Im Gegensatz zu Deutschland, so merkt Katharina Körber hierzu an, würden dort nur ein Drittel der Architektur-Lehrenden auch selbst bauen und kämen teils aus anderen Fächern. „Das führt zu einem weiteren Blick, das Studium ist sehr viel experimenteller und auch bei der Interdisziplinarität passiert viel“, sagt sie einerseits. „Andererseits ist die Lehre stellenweise zu weit weg von der Realität, das deutsche Studium bereitet mit mehr Praxisbezug auf den Beruf vor.“

Aha-Effekte in Architekturbüros

Starke Aha-Erlebnisse bescherten der Exkursionsgruppe zudem die vielen Einblicke in die Arbeitswelt New Yorker Architekten bei Besuchen vierer renommierter und dabei sehr unterschiedlicher Büros. Das reichte von den nArchitects als Spezialisten für bezahlbaren Wohnraum mit ähnlichen Ansätzen wie bei dem studentischen Gebäudeentwurf bis zum Büro Diller Scofidio + Renfro, Gestalter etwa des Highline-Parks oder des Kunstzentrums The Shed, was der Nachwuchs beides am nächsten Tag an Ort und Stelle bestaunen konnte. Bleibenden Eindruck hinterließen Profis wie das Büro SOM aber auch wegen atemberaubender Panorama-Blicke von ihren Büros über die einzigartige Metropole und aktueller Bauprojekte im Umfeld. Und nicht zuletzt zündete hier auch die typisch amerikanische Lockerheit.

„Wir haben sie einfach angeschrieben und die haben gesagt, kommt vorbei“, erzählt Jonathan begeistert. „Das war so leger, wie die die Türen geöffnet haben“, schwärmt auch Lehrbeauftragte Körber, für die da noch eine weitere Erkenntnis mitschwang: „Man hat gemerkt, auch die Weltbüros kochen nur mit Wasser.“ Sogar Visitenkarten seien ausgegeben worden. „Da träumt man schon, wie es wäre, da mal zu arbeiten“, gesteht Jonathan. Doch auch, wenn es so weit nie kommt, gilt für den Studenten im 8. Semester nach dieser einschlägigen Erfahrung jetzt schon: „Das hat mir Mut gemacht, mich im Ausland zu bewerben.“

Dass eine solch weite Flugreise viele CO2-Emissionen verursacht, wurde dabei nicht ausgeblendet – sondern durch ein an der h_da entwickeltes Monitoring-Tool zur Berechnung des CO2-Fußabdrucks in den Fokus gerückt. Dass die Teilnehmenden für diese fachlich wie menschlich erlebnisdichte Erfahrung in New York zwischen 600 und 700 Euro Eigenanteil leisten mussten, hat sich „hundertprozentig gelohnt“, versichert Yasaman Zeinali in schwärmendem Ton. „Man nimmt jede Sekunde was mit, nicht nur wegen der Architektur-Büros und Projekte – das alles selbst erleben zu können, ist etwas ganz Anderes.“ Und hat auch Jonathan Uhlemann nachhaltig inspiriert. „Wir wissen alle, wir wollen nicht klassisch bauen, und das hat einem den Blick geöffnet: Es ist so viel möglich in der Architekturwelt.“ Am Ende gar Utopien.

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