Tempelfassade in Petra
Virtuelle Wüstenwelten

Im November haben Lehrende und Studierende aus den Fachbereichen Informatik und Media der Hochschule Darmstadt (h_da) im Nahen Osten ein wegweisendes Projekt gestartet: Gemeinsam mit der TH Brandenburg und der German Jordanian University in Amman haben sie damit begonnen, jahrtausendealte jordanische Kulturstätten zu digitalisieren. Dazu zählt neben antiken Sehenswürdigkeiten in Jordaniens Hauptstadt Amman auch die Nabatäerstadt Petra, das archäologische Glanzlicht des Landes. Ziel ist es, digitale Zwillinge dieser Orte zu erstellen und sie der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Jetzt liegen die ersten Ergebnisse vor.

Von Christina Janssen, 15.2.2023

Als „herrlichsten Ort der Welt“ rühmte der britische Offizier und Schriftsteller T. E. Lawrence, besser bekannt als „Lawrence von Arabien“, die antike Felsenstadt Petra. Jede Beschreibung sei sinnlos, weil sie „der Wirklichkeit nicht gerecht werden könnte“. Rund 100 Jahre und etliche Spielfilme vor eben jener herrlichen Kulisse später, nehmen zwei Lehrende der Hochschule Darmstadt den Schriftsteller beim Wort: Wozu beschreiben, wenn man auch abbilden kann? Und zwar so real, dass die Magie des Ortes spürbar wird.

Mit diesem Auftrag schickten Informatik-Professorin Bettina Harriehausen und Virtual-Reality- Professor Paul Grimm ihre Studierenden in die Wüste. Genauer: in den Südwesten Jordaniens. Eine Woche lang war dort im November 2022 eine Gruppe von sieben h_da-Studierenden unterwegs. Im Team mit Kommiliton:innen der TH Brandenburg und der 2005 gegründeten German Jordanian University in Amman erkundeten sie alte Festungen, römische Ruinen und die Felsenstadt Petra, die die Nabatäer vor 2300 Jahren in rosafarbene Felswände hieben. Dazu gehört auch das berühmte „Schatzhaus“ Khazne al-Firaun, ein 40 Meter hoher Tempel mit kunstvoll gemeißelter Säulenfassade.

Technologie mit breitem Anwendungsgebiet

„Der Zugang zur Felsenstadt führt durch eine enge Schlucht, den Siq“, beschreibt Data-Science-Student Felix Glockengießer den Weg an seinen außergewöhnlichen Arbeitsplatz. „Wenn man dann plötzlich vor den Gebäuden steht, ist das ein unglaublicher Anblick. Das werde ich nie vergessen.“ Früh morgens vor Sonnenaufgang setzte sich die bunt gemischte Studierendengruppe, schwer bepackt mit Foto-Equipment, in Bewegung, um vor den Touristenströmen an Ort und Stelle zu sein. „Wir wollten ungestört fotografieren“, sagt Krista Plagemann, Studentin im Bachelorstudiengang „Expanded Realities“. Aufgabe der Studierenden war es, mit Hilfe von Handys, Spiegelreflexkameras und 360-Grad-Kameras 3D-Scans von Gebäuden, einzelnen Objekten und der Umgebung zu erstellen. Während Felix Glockengießer tagelang mit der Kamera eine Säule umrundete, arbeitete sich Krista Plagemann an einer großen Tempelfassade ab. Ihr Kommilitone Sebastian Kostur beschäftigte sich währenddessen intensiv mit Oberflächen – mit Steinfassaden, Sandböden, Mauern und Mosaiken, deren Bilddaten später benötigt werden, um sie in die virtuelle Umgebung einzuarbeiten.

„Wir mussten jede Ritze fotografieren, damit das 3D-Modell am Ende gut wird“, erinnert sich Krista Plagemann. Und auch die Lichtverhältnisse waren kompliziert. „In den frühen Morgenstunden steigt die Sonne schnell auf, der Schattenwurf verändert sich. Das bringt die Software durcheinander.“ Allein für den digitalen Zwilling einer einzigen Säule braucht es deshalb viele Hundert Bilder, für einen gesamten Tempel „very big data“. Damit aus Massen an Fotos schließlich erlebbare 3D-Welten entstehen, werden die Bilder nach und nach in eine kommerzielle Software eingespeist, die dann das 3D-Modell errechnet. Je präziser und umfangreicher das Bildmaterial, desto plastischer das Ergebnis. Lücken und Ungenauigkeiten müssen aufwändig von Hand nachgearbeitet werden.

Photogrammetrie nennt sich das Verfahren, das heute schon in vielen Bereichen zum Einsatz kommt. „Unser Ziel ist es, dass die Studierenden die Kulturstätten grafisch erfassen und korrekt digital wiedergeben. Wie genau man das praktisch umsetzen kann, sollen sie in diesem Projekt herausfinden“, erläutert Informatikerin Bettina Harriehausen. „Diese Technologie wird in der Entertainmentbranche genutzt, in der Spiele-Entwicklung, im Städtebau, in der Werbung, aber auch in der Lehre, um realistisch aussehende Kopien realer Gegenstände zu erzeugen“, erklärt Paul Grimm vom Fachbereich Media der h_da. „Museen nutzen solche 3D-Modelle für immersive Ausstellungen, die Automobilindustrie in der Entwicklungsarbeit. Die Spanne ist also groß – von den Ingenieurwissenschaften bis zur Entertainmentbranche.“

Exkursion als interkultureller Augenöffner

Bis zum Ende des Wintersemesters 2022 / 23 haben die Studierenden aus Darmstadt, Amman und Magdeburg Zeit, ihre virtuellen Wüstenwelten zu bauen. Auf der Datenautobahn zwischen den drei Standorten rauscht es derzeit noch mächtig: „Einzelne Objekte von der Zitadelle in Amman, wo wir auch unterwegs waren, sind bereits fertig gestellt“, erläutert Paul Grimm, „auch mit dem Schatzhaus sind die Studierenden schon weit gekommen. Aber es ist noch viel zu tun.“ Die Arbeitsweisen innerhalb der Gruppe sind unterschiedlich, das Team ist bunt, vielsprachig, multikulturell. Durch die persönliche Begegnung in Jordanien sei aber eine tolle Basis für die Zusammenarbeit entstanden, betonen alle Beteiligten. Eine Erfahrung, die den Blick der deutschen Gäste auf den Nahen Osten verändert hat: „Für mich war Jordanien ein Augenöffner“, resümiert Felix Glockengießer, der von sich selbst sagt, er sei noch nicht viel herumgekommen. Aber auch für den weitgereisten Expanded-Reality-Studenten Paul Lakos hat sich in der jordanischen Wüste das Tor zu einer neuen Welt aufgetan: „Ich hatte vorher kein Bild vom Nahen Osten. Jetzt habe ich gesehen, was für ein schönes Land Jordanien ist, wie unglaublich gastfreundlich die Menschen sind – und das Essen ist wirklich gut!“

Auf 'Play' wird externer Medieninhalt geladen, und die Datenschutzrichtlinie von YouTube gilt

Nach Ende ihrer Arbeitsphase unternahmen die deutschen Studierenden einen Road Trip ans Rote Meer – gemeinsam mit ihrem jordanischen Kollegen Hashem, der den Gästen abseits touristischer Pfade Begegnungen ermöglichte. „Hashem hat uns zum Übernachten in seine Familie eingeladen“, erzählt Sebastian Kostur. „Es war sehr interessant, einen Einblick ins Familienleben zu bekommen, gemeinsam zu essen und die Offenheit und Liebenswürdigkeit der Jordanier zu erleben.“ So entstanden Bekanntschaften und Freundschaften, die das Semesterprojekt überdauern werden – trotz Sprachbarriere und vereinzelter Vorbehalte vor der Abreise. „An einem Abend waren wir oben auf der Zitadelle in Amman“, berichten die Studierenden. „Die Sonne ging unter, wir hatten den Blick über die ganze Stadt. Von jedem Minarett strahlte ein grünes Licht und dann begannen die Gebetsrufe. Einfach wunderschön.“

Dieser interkulturelle Aspekt ist für Informatik-Professorin Bettina Harriehausen ebenso wichtig wie der fachliche: „Wir möchten als Hochschullehrer nicht nur Fachwissen vermitteln, sondern den ganzen Menschen bilden“, sagt die Wissenschaftlerin. Dazu gehöre auch mal der Mut, sich auf eine ganz andere Kultur einzulassen. „Mir persönlich liegt die Partnerschaft mit dem Nahen Osten besonders am Herzen. Auch ich hatte früher ein ganz anderes Bild von dieser Region. Heute weiß ich: Jordanien ist ein friedliches Land. Und der Nahe Osten ist nicht ‚böse‘, sondern wunderschön. Es ist mir wichtig, dass die Studierenden das sehen und erleben.“

Wie die „Naschkatze“ nach Jordanien kam

Seit die German Jordanian University vor 18 Jahren nach dem Vorbild der deutschen Fachhochschulen gegründet wurde, unterstützt Bettina Harriehausen das Projekt. Inzwischen hat sich im Bereich Informatik ein Netzwerk gebildet, an dem neun deutsche Hochschulen für angewandte Wissenschaften beteiligt sind. Die h_da und die TU Brandenburg gehören zu den treibenden Kräften: „Wir treffen uns mehrmals jährlich. Anfangs ging es darum, die jordanischen Kollegen und Kolleginnen zu coachen. Inzwischen arbeiten wir primär an gemeinsamen wissenschaftlichen Projekten.“ Der Fokus der deutsch-jordanischen Zusammenarbeit liegt derzeit auf der Digitalisierung von Kulturstätten – ein Themenbereich, der vom DAAD gefördert wird. Aus naheliegenden Gründen: Im Nachbarland Syrien hat die Terrormiliz „IS“ Weltkulturerbestätten wie Palmyra, die Kreuzritterburg Krak des Chevaliers und die Altstadt von Aleppo zerstört. Und selbst wenn ein solches Szenario für Jordanien derzeit nahezu undenkbar ist:  Die Zerstörungswut, der Kulturdenkmäler in Kriegen und Konflikten regelmäßig zum Opfer fallen, führt die Fragilität dieser kostbaren Orte vor Augen.

Die Studierenden der h_da treibt allerdings noch ein anderer Gedanke an: „Wir hatten jetzt das Privileg, nach Jordanien zu reisen und diese tollen Orte selbst zu erleben“, betont Paul Lakos. „Die meisten anderen Menschen werden diese Chance nicht haben. Für sie sind Augmented-Reality-Anwendungen eine Möglichkeit, mehr über solche Orte zu erfahren.“ Auf den Spuren des „Lawrence von Arabien“ lernen indessen nicht nur die Studierenden dazu, sondern auch ihre Dozenten. „Für viele ist es eine interessante Lernerfahrung, dass nicht alles mit deutscher Perfektion und Pünktlichkeit geplant werden muss“, schmunzelt Paul Grimm. „Am Ende funktioniert es auch so.“

In seinem neuen Forschungsprojekt „Future Learning Spaces“ will Grimm Augmented-Reality-Anwendungen für die Initiative EUt+ nutzbar machen, in der sich die h_da mit sieben europäischen Hochschulen zusammengeschlossen hat. Am Jordanien-Projekt werden die beiden nahostbegeisterten Lehrenden fachbereichsübergreifend gemeinsam weiterarbeiten. Im Idealfall entsteht so im Laufe der kommenden Jahre eine virtuelle jordanische Wunderwelt, die jedem offensteht. Bis dahin werden noch einige deutsche Studierenden-Teams in die Wüste geschickt, um mit einem reichen Daten- und Erfahrungsschatz zurückzukehren. Das gilt umgekehrt auch für ihre jordanischen Kolleginnen und Kollegen. Einige planen schon den Gegenbesuch in Deutschland und arbeiten an ihren Sprachkenntnissen: „Sie haben viel Deutsch von uns gelernt“, freuen sich die h_da-Studierenden. „Natürlich nur nette Wörter. ‚Naschkatze‘ zum Beispiel. Das fanden sie sehr, sehr lustig.“

Mitarbeit: Anna Hryshchenko

Kontakt

Christina Janssen
Wissenschaftsredakteurin
Hochschulkommunikation
Tel.: +49.6151.533-60112
E-Mail: christina.janssen@h-da.de

Digitalisierung des Kulturerbes in Jordanien


Auf 'Play' wird externer Medieninhalt geladen, und die Datenschutzrichtlinie von YouTube gilt

Weiterführende Links

Website von Prof. Dr. Bettina Harriehausen: fbi.h-da.de/personen/bettina-harriehausen

Website von Prof. Dr. Paul Grimm: er.mediencampus.h-da.de/grimm/ 

Website der German Jordanien University: www.gju.edu.jo/