Die Lederindustrie wächst weltweit - und gleicht dennoch einer Black Box. Ein interdisziplinäres Forschungsprojekt an der h_da will Licht ins Dunkel bringen. Dafür bringen die Forschenden auch die Industrie mit an den Tisch. Eines von vielen Zielen: Ein Konzept für einen nachhaltigeren Lederschuh. Der könnte sogar einmal im Laden stehen.
Von Nico Damm, 13.1.2021
Wo lebte die Kuh, aus deren Haut Ihr Lederschuh gemacht ist? Vermutlich wissen Sie es nicht. Höchstwahrscheinlich weiß das nicht einmal die Gerberei, die dieses Leder produziert hat – geschweige denn die Produzentinnen und Produzenten des Schuhs. Moderne Lederproduktion im Schweinsgalopp: Die Kuh steht oft in Brasilien, das Leder wird überwiegend in China und Bangladesch weiterverarbeitet und gelangt irgendwann in eine Schuhfabrik. Die Leder-Lieferkette ist in weiten Teilen eine Black Box. Und das in einem Markt, der weltweit stetig wächst. Vor allem in Asien nimmt der Konsum von Rindfleisch und von Milchprodukten seit Jahren stark zu. Damit steigt fast automatisch die Lederproduktion, da die Häute bekanntermaßen als Nebenprodukt der Schlachthöfe anfallen. Die Industrie mit einem globalen Jahresumsatz von 80 Milliarden US-Dollar fertigt zum großen Teil günstige Massenware. Dabei war Leder einmal ein Luxusgut, das in vorindustrieller Zeit weitgehend umweltverträglich gefertigt wurde.
Diese Entwicklung bereitet Dr. Julian Schenten Sorge. „Fürs Gerben werden meist große Mengen an Chemikalien verwendet, die zum Teil sehr gesundheitsschädlich sind. Der Großteil des weltweiten Leders kommt aus Asien und Lateinamerika und entsteht dort in vielen kleinen Betrieben unter intransparenten Bedingungen.“ Die Bilder von Arbeiterinnen und Arbeitern, darunter Kinder, die in Bangladesch barfuß und knietief in einer giftigen Bracke stehen, gingen und gehen um die Welt. Schenten will einen Beitrag dazu leisten, dass so etwas einmal der Vergangenheit angehört. Er leitet das Projekt „Nachhaltigere Chemie in den Lederlieferketten“, das Teil der Nachhaltigkeits-Initiative „Systeminnovation für Nachhaltige Entwicklung (s:ne)“ an der Hochschule Darmstadt ist. Der Name des Vorhabens ist Programm: Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wollen die Lederbranche ein Stück transparenter und sauberer machen – gemeinsam mit zentralen Akteuren entlang der Lieferkette. Seit 2018 eint das Projekt ein knappes Dutzend Forschende mit unterschiedlichen Fachgebieten, unter anderem Rechts- und Wirtschaftswissenschaften, IT, Biologie, Chemie- und Biotechnologie sowie Design und Nachhaltigkeitswissenschaften.
"Wer heute Vorreiter ist, erfüllt morgen nur noch den Standard"
Damit die Forschung nicht im luftleeren Raum geschieht, machte Schenten diejenigen zum Teil des Projekts, die mit Leder tagtäglich zu tun haben: Die Chemiebranche, Gerbereien, Verbände, Prüfinstitute sowie kleine und große Marken, die Lederprodukte wie etwa Schuhe vertreiben. Unter den Händlern sind sowohl sehr ökologisch orientierte Unternehmen als auch Betriebe, deren Kerngeschäft die Masse ist. „Wir haben in drei ganztägigen Workshops knapp 20 Akteure zusammengebracht und gemeinsam überlegt, wie die Branche im Jahr 2035 aussehen könnte“, sagt der Jurist. Erstes Ergebnis des „Szenario-Prozesses“, wie die angewandte Methode heißt: Es muss sich etwas ändern. Denn: „Wer heute Vorreiter ist, erfüllt morgen nur noch den Standard.“
Die europäische Chemikalienverordnung REACH stuft regelmäßig neue Stoffe als „besonders besorgniserregend“ ein, etwa, weil sie im Verdacht stehen, Krebs erregen oder Erbgut verändern zu können. Einmal gelistet, wird der Einsatz dieser Substanzen Stück für Stück strenger reguliert oder sogar verboten. In einem Teilprojekt widmet sich das Team der Vereinheitlichung bestehender Standards, in einem weiteren der Rückverfolgbarkeit von Chemikalien. „Unsere Praxispartner haben großes Interesse daran, mehr über die Chemikalien zu erfahren, die in ihren Produkten stecken“, sagt Schenten. Denn nur wer bis ins kleinste Detail wisse, welche Stoffe verwendet wurden, könne Veränderungen anstoßen. Im Laufe des Jahres soll deshalb eine Pilotstudie ergründen, wie mithilfe moderner IT die Rückverfolgbarkeit erleichtert werden kann. Dass sich das Projekt auf echtes Leder statt Kunstleder konzentriert, hat vor allem zwei Gründe. Erstens ist Kunstleder in der Regel ein erdölbasiertes Produkt. Zweitens fällt Leder in der Fleisch- und Milchindustrie ohnehin in großen Mengen an.
Und was ist mit der pflanzlichen Gerbung? „Gerbung mit Chrom geht schnell und ist günstig“, sagt Schenten. „Deshalb ist rund 85 Prozent des weltweit hergestellten Leders mit Chrom gegerbt.“ Allerdings sei diese Art der Leder-Produktion nicht per se schlecht: Traditionsreiche deutsche Gerbereien etwa arbeiten seit Jahrzehnten mit Chrom und erfüllen trotzdem hohe Standards in Sachen Umwelt-, Arbeits- und Verbraucherschutz. Doch vielleicht geht es ja auch ganz ohne. Im Sinne einer „grünen Chemie“ wird am Fachbereich Chemie- und Biotechnologie zu nachhaltigeren und gesundheitsverträglicheren Gerbmitteln geforscht - und wie diese weniger energieintensiv hergestellt werden könnten.
Grünere Gerbung, grüneres Leder
Die Logik leuchtet ein: Werden die Gerbmittel auf dem Markt grüner, werden auch die Gerbereien ein Stück nachhaltiger. Die seien nämlich teils schwer für Projekte zu gewinnen, meint Schenten: „Das Problem ist, dass der Großteil des Leders dort entsteht, wo viel geschlachtet wird und die Arbeitskraft günstig ist. Das sind zurzeit asiatische Länder, aber es zeichnet sich bereits ein Abwandern der Branche in Staaten wie Eritrea ab.“ In Entwicklungsländern sei der Markt unübersichtlich. Es gibt viele kleine Gerbereien, die kommen und gehen – und die Bereitschaft zum Wandel ist meist gering, denn in einigen Ländern ist die Lederindustrie eine der wichtigsten Branchen. Dennoch möchte das Projekt über die Einbindung von Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit auch Brücken in den globalen Süden bauen. Der gewählte Ansatz heißt „transformative Forschung“ und soll Wissenschaft, Wirtschaft und Zivilgesellschaft an einen Tisch bringen und zu gemeinsamen Vorhaben motivieren. Ziel ist es, globale Lieferketten rund um Leder nachhaltiger zu machen. Ausgangspunkt hierfür ist Deutschland: Spätestens zum Ende des Projekts im Jahr 2022 soll hierzulande mindestens ein Konzept für ein nachhaltigeres Lederschuh-Modell vorgestellt werden – und, wenn möglich, soll dieses Modell sogar produziert und vertrieben werden. Die Projektbeteiligten wählten diesen Ansatz, weil mehr als die Hälfte des weltweit produzierten für Schuhe verwendet wird.
Die nachhaltige Fußbekleidung wird der erste Anwendungsfall für die sogenannten „Leder-Designguidelines für Nachhaltige Entwicklung“, die die Partnerinnen und Partner als gemeinsame Richtschnur in Kreativ-Workshops erarbeiten. Die Guidelines sollen frei im Netz zugänglich sein und Designerinnen und Designer sowie andere an der Produktentwicklung beteiligte Personen, etwa aus dem Einkauf oder Marketing, durch die Vermittlung von Designprinzipien und Herangehensweisen dabei unterstützen, nachhaltigere Lederprodukte zu entwickeln.
Für dieses Teilprojekt zeichnet Dr. Jonas Rehn verantwortlich. Der wissenschaftliche Mitarbeiter am Institut für Designforschung der h_da sieht sich in der Rolle eines Mediators, der vor allem Impulse gibt und den Prozess strukturiert und überwacht. Um den Schuh im wahrsten Sinne des Wortes auf die Straße zu bringen, sind die Unternehmen aus der Branche verantwortlich. Rehn hat sich bereits in seiner Promotion damit beschäftigt, wie die Gestaltung von Produkten das Denken, Fühlen und Handeln beeinflusst. Für ihn spielt die Psychologie eine große Rolle. „Eine zentrale Frage ist für uns: Wie können wir einen Lederschuh so gestalten, dass die Kundinnen und Kunden ihn hegen und pflegen und ein Bewusstsein für Nachhaltige Entwicklung bekommen?“ Zurzeit gehe die Branche mit billiger „Fast Fashion“ zwar in die entgegengesetzte Richtung. „Aber es gibt ja viele Menschen, die sich liebevoll um ihre Dinge kümmern, zum Beispiel um Oldtimer oder alte Möbelstücke.“ Wenn eine solche emotionale Bindung entstehe, könnten Lederprodukte ganz neu gedacht werden. Zentrale Fragen: Wie kann das Nachhaltigkeits-Mantra „Reduce, Reuse, Recycle“, also Müll reduzieren, Produkte wiederwenden und recyceln, auf Lederprodukte angewendet werden? Und könnten dabei auch innovative Lösungen wie Schuh-Leasing eine Rolle spielen?
Im Leder steckt weniger Natur, als viele denken
Um mehr über potenzielle Kundinnen und Kunden solcher Produkte zu erfahren, nutzte Rehn das von Prof. Dr. Daniel Hanß und seinem Team geleitete Bürgerpanel, das für „s:ne“ regelmäßig Menschen im Raum Darmstadt befragt. Die rund 600 Interviewpartnerinnen und Interviewpartner hatten klare Vorstellungen, wie ein Lederprodukt beschaffen sein muss. Robust soll es sein, wasserfest und dabei natürlich aussehen. Das sind durchaus hohe Ansprüche, denn Leder verändert sich durch Wasser- und Hautkontakt sowie Sonneneinstrahlung im Lauf der Zeit. „Meistens ist Leder keineswegs das Naturprodukt, als das es empfunden wird“, sagt Jonas Rehn. „Der Gerbprozess etwa schließt ungefähr 20 verschiedene Schritte ein.“ Oft sorge beispielsweise eine Schicht aus Kunststoff für die gewünschte Oberflächenstruktur und Widerstandsfähigkeit. Das sei wohl kaum der Weg für ein nachhaltiges Produkt, denn einerseits bergen die üblichen Chemikalien teils gesundheitliche Risiken für die Verbraucherinnen und Verbraucher, zum Beispiel als Allergene. Andererseits ist ein Lederprodukt meist nur dann gut wiederzuverwerten, wenn es möglichst naturbelassen ist. Zudem müssen die einzelnen Komponenten, wie etwa Sohle und Obermaterial, gut voneinander zu trennen sein. Dann kann ein alter Schuh ein zweites Leben erhalten – ob als neues Tretwerk, Upcycling-Produkt oder als sogenannter Lederfaserstoff. Dieser kommt etwa in der Produktion von Schuhabsätzen oder Bucheinbänden zum Einsatz.
Lederprodukte, die sich im Lauf der Nutzung stärker veränderten, hätten ihren Reiz, sagt Rehn. „Wir wollen uns überlegen, wie wir diese spezifischen Eigenschaften von nachhaltigem Leder so inszenieren können, dass daraus ein Alleinstellungsmerkmal wird. Vielleicht kann ein getragener Schuh sogar besser aussehen als ein neuer Schuh.“ Vom Material her ist Leder nämlich genau so angelegt: Der Schuh schmiegt sich an die Form des Fußes an und passt mit der Zeit besser als am Anfang – eine Eigenschaft, die nicht viele Materialien mitbringen. Die Branche sei auch bereits dabei, die Öko-Ecke zu verlassen. „Die nachhaltigen Schuhe, die ich kenne, stehen in ihren Eigenschaften den konventionellen Produkten in keiner Weise nach.“ Damit solches Wissen bei den Konsumentinnen und Konsumenten ankommt, brauche es jedoch Aufklärungsarbeit und den Mut, weiter in den Massenmarkt vorzudringen, sagt Rehn. Das zeige auch die Bürgerpanel-Umfrage: Zwar wussten rund drei Viertel der Befragten, dass zur Herstellung von Leder immer Chemikalien eingesetzt werden. Jedoch stimmten fast genauso viele der (falschen) Aussage zu „Leder ist in der Regel kompostierbar“ und 79 Prozent hielten Leder für „immer wasserabweisend“. Aufklärungsarbeit könnte sich allerdings lohnen: Für umwelt- und gesundheitsverträgliche Schuhe mit deklariertem Ursprung der Tierhaut waren die Befragten bereit, im Schnitt 45 Euro mehr für das Produkt zu bezahlen. Das sind 50 Prozent mehr als für einen konventionellen Schuh. Falls der nachhaltige Schuh also kommt – es warten wohl schon potenzielle Kunden.
Transformative Kraft
Die Forschenden sprechen von der „transformativen Kraft“ der Nachverfolgbarkeit von Materialien und Chemikalien: Erst, wenn die Design- und Marketing-Abteilung einer Marke genau weiß, was in ihren Produkten steckt, kann sie beispielsweise einen nachhaltigeren Lederschuh produzieren und bewerben. Das hat diverse Vorteile: Die Firma kann ihren Einkauf gezielter steuern. Die erhöhte Transparenz kann die Marke „grüner“ und sympathischer erscheinen lassen und Haftungsrisiken minimieren. Wenn etwa Verbraucherschutzverbände die Marke wegen angeblicher Schadstoffe kritisieren, kann diese lückenlos nachweisen, dass der Schuh alle notwendigen Standards erfüllt. Und da die Marke die Vorgeschichte ihrer Materialien genau kennt, muss sie weniger Geld in Labortests stecken.
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