Portraitfoto von Prof. Vincont in seinem Büro, im Hintergrund Bücher und Leitzordner
Wedekinds Briefwechsel

Frank Wedekind (1864-1918) gilt als einer der wichtigsten Autoren der literarischen Moderne. Seit fast 35 Jahren arbeitet die Editions- und Forschungsstelle Frank Wedekind an der h_da die Werke und Korrespondenzen Wedekinds wissenschaftlich auf. Prof. Dr. Hartmut Vinçon beleuchtet in seiner neuesten Publikation „Briefwechsel mit den Eltern 1868-1915“ den Austausch der Familie in bewegten Zeiten. Im impact-Interview berichtet der Gründer und Leiter der Darmstädter Editions- und Forschungsstelle Frank Wedekind von seiner Arbeit.

Ein Interview von Simon Colin, 23.7.2021

impact: Auf August 1868 datiert der erste Briefwechsel zwischen Frank Wedekind und seinen Eltern. Da war er gerade einmal vier Jahre alt und schreibt seinem Vater. Wie kam es zu diesem schriftlichen Austausch in so ungewöhnlich jungem Alter?

Vinçon: Frank Wedekinds Vater Friedrich Wilhelm war durch seinen Immobilien- und Geldhandel in Kalifornien reich geworden. 1864 nach Europa zurückgekehrt, praktizierte er daher nicht mehr als Arzt und war als Privatier häufig auf Reisen. Mutter Emilie hielt ihre Kinder früh dazu an, dem abwesenden Vater zu schreiben. Es entsprach dem Ideal bürgerlicher Briefkultur, bei räumlicher Abwesenheit nicht nur gelegentlich, sondern kontinuierlich miteinander in Verbindung zu bleiben. Für Franks Erstlingsbrief spendete sein Vater ihm ein riesiges Lob für seine ‘Schreibkunst’. Scherzhaft ließe sich vermuten, dass Franklin, sein eigentlicher Vorname, früh fürs Schreiben ‘geimpft’ wurde.

impact: In Ihrer neuesten Publikation beschäftigen Sie sich mit dem Briefwechsel Frank Wedekinds und seinen Eltern in den Jahren 1868 bis 1915. Warum legen Sie einen Fokus auf diesen Zeitraum?

Vinçon: Wir hatten von Beginn an eine Gesamtausgabe und nicht nur eine Auswahlausgabe der Briefe geplant. Daher beginnt der Briefwechsel mit dem eben erwähnten Erstlingsbrief aus dem Jahr 1868 und endet mit dem letzten Brief Frank Wedekinds vom November 1915 an seine Mutter. Sie starb am 25. März 1916, der Vater bereits im Oktober 1888. Eine Auswahl von Briefen ist dagegen stets willkürlichen Kriterien unterworfen.

impact: Wie viele Briefwechsel der drei Wedekinds liegen vor – und wie kam es dazu, dass sie über einen so langen Zeitraum bis heute erhalten sind?

Vinçon: Insgesamt liegen heute 203 Korrespondenzstücke wie Briefe, Postkarten und Telegramme der drei Briefpartner vor. Darunter einige Briefe, die leider nur noch in Form von Briefzitaten überliefert sind. Die Briefe von Frank Wedekind an seine Mutter und an seinen Vater sind fast vollständig erhalten. Mehrere Briefe seiner Mutter an den Sohn sind jedoch verschollen, obwohl Frank Wedekind an ihn gerichtete Briefe in der Regel sorgfältig aufbewahrte. Dass die Briefe von und an ihn überhaupt überliefert sind, ist dem Mut Pamela Wedekinds, der Tochter des Dichters, zu verdanken. Ihr gelang es im Jahr 1943, den gesamten Nachlass ihres Vaters vor einer drohenden Beschlagnahmung durch die Gestapo in die Schweiz zu schaffen.

impact: Was lässt sich aus dem Briefwechsel über Leben, Schicksal und Beziehungen der Familie Wedekind herauslesen?

Vinçon: Auf Schloss Lenzburg, dem Wohnsitz der Eltern in der Schweiz, regierte das Patriarchat. Der autoritäre, durchaus kulturell interessierte Vater bestimmte über das Schicksal der Familie. Der Mutter, erfolgreich als Opernsängerin, war es untersagt, ihre Opernkarriere nach der Heirat fortzusetzen. Frank Wedekind, der Schriftsteller werden wollte, wurde diktiert, sich für ein Jurastudium in München einzuschreiben. Seine früh berühmte Schwester Erika konnte ihre Ausbildung zur Opernsängerin erst nach dem Tod des Vaters beginnen, und der Tod des Vaters beendete eine zu scheitern drohende Ehe. Deutlich geht aus den Briefen hervor, wie sehr die innerfamiliären Konflikte die insgesamt sechs Kinder prägten. Die gegensätzlichen autoritären und liberalen Erziehungsvorstellungen der Eltern entwickelten eine Eigendynamik, die den Zusammenhalt der Familienmitglieder stark gefährdete. Obgleich die Kinder auf dem paradiesisch gelegenen Schlossgut Lenzburg und in einer bildungsbürgerlich interessierten Kleinstadt aufwuchsen, lebten sie in einem nur scheinbar idyllischen Milieu. Der jüngste Bruder, Donald Wedekind, ebenfalls Schriftsteller, beging 1908 Suizid. 

impact: Inwiefern lassen sich aus den Briefwechseln Rückschlüsse auf das künstlerische Schaffen Frank Wedekinds ziehen?

Vinçon: Die Briefe Wedekinds an die Eltern dokumentieren die Stationen auf seinem Weg zum erfolgreichen Theaterautor. In der Rolle des Künstlers als Außenseiter der bürgerlichen Gesellschaft rang er um doppelte Anerkennung. Sie war ihm lange einerseits durch seine Familie, andererseits durch die bürgerliche Gesellschaft und ihren konservativ orientierten Kulturbetrieb versagt. Grundthemen seines literarischen Schaffens waren die Emanzipation von überholten künstlerischen Formen und die Veränderung der Beziehungen der Geschlechter durch die gesellschaftliche Moderne. Das brachte ihm privat wie öffentlich den Ruf eines Provokateurs ein. In Wahrheit wurde er zu einem einflussreichen Schriftsteller der literarischen Moderne. Einige bekannten sich als seine Schüler, wie etwa Heinrich Lautensack oder Bertolt Brecht. Seine großen Erfolge als Dramatiker bewunderte schließlich auch seine Mutter: “Du lieber Frank hattest am schwersten zu kämpfen”, schreibt sie in einem Brief.

impact: Warum ist Frank Wedekind für die wissenschaftliche Auseinandersetzung so attraktiv?

Vinçon: Als kulturpolitisch engagierter Schriftsteller und einer der Wegbereiter der literarischen Moderne war Wedekind als Repräsentant eines liberalen Bürgertums eng mit der oppositionellen literarischen Welt seiner Epoche vernetzt. Dies belegen seine Kontakte zu bedeutenden Schriftstellern wie Heinrich und Thomas Mann, Arthur Schnitzler und Gerhart Hauptmann, seine Rolle als Autor großer Verleger wie Albert Langen, Bruno Cassirer und Georg Müller und seine Zusammenarbeit als Autor und Schauspieler mit hervorragenden Regisseuren wie Max Reinhardt, Georg Stollberg und Carl Heine. Für das literarische Leben seiner Zeit ist und bleibt er eine zentrale Figur für die Erforschung der vielfältigen Aspekte von Kunst und Literatur im Kaiserreich. Nicht zuletzt fühlte sich Wedekind eng einer jüdisch-deutschen Kultur verbunden, die zu jener Zeit progressiv und einzigartig war, bis sie durch das nationalsozialistische Regime 1933 völlig zerstört wurde.

impact: Wie kamen Sie erstmals mit Frank Wedekind in Berührung?

Vinçon: Mit dem Werk Wedekinds kam ich erstmals während meines Studiums in Berührung. Ich überlegte, über ihn als Theaterschriftsteller zu promovieren. 1980 gab ich mit Peter Unger Wedekinds Tragödien „Erdgeist“ und „Die Büchse der Pandora“ in Goldmanns Klassikerreihe heraus. Dabei wurde ich auf die Urfassung dieser ‚Monstretragödien‘ aufmerksam, die - weitgehend unbekannt - im Wedekind-Nachlass der Münchener Stadtbibliothek schlummerte. Ich entdeckte, wie sträflich die Nachkriegsgermanistik diesen unbequemen Schriftsteller vernachlässigt hatte, eine Folge der Verdrängung des Wedekindschen Oeuvres als Ganzes aus dem öffentlichen Bewusstsein während der Herrschaft des Nationalsozialismus. Aufführungen seiner Werke galten 1933 bis 1945 als unerwünscht. Dieser Rezeptionsbruch motivierte mich, sein Werk wieder für die Forschung und die kulturelle Öffentlichkeit in Erinnerung zu rufen.

impact: Was gab dann den Anstoß zur Etablierung der Editions- und Forschungsstelle?

Vinçon: 1987 veröffentlichte ich eine ausführliche Monographie zur Rezeptionsgeschichte seiner Werke und begann, die Teilnachlässe Wedekinds in München und in der Aarauer Kantonsbibliothek aufzuarbeiten. Unterstützt wurde diese philologische Erschließung seines Gesamtwerks durch Mittel der Fritz Thyssen-Stiftung in Köln. Dadurch war die Gründung der Editions- und Forschungsstelle Frank Wedekind an der h_da und die Anstellung wissenschaftlicher Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ermöglicht. Seit 1979 stand ich bereits in Kontakt mit der jüngeren Tochter des Dichters, Kadidja Wedekind, die bis 1994 lebte. Es entstand der Plan einer Kritischen Gesamtausgabe der Werke Frank Wedekinds, ein Desiderat für die literarhistorische Forschung. Dank der Bewilligung eines Langzeitprojekts durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft konnte 1992 mit der Edition der Werke Wedekinds begonnen werden.

impact: Wie reiht sich Ihre neueste Publikation in die bisherige Arbeit der Editions- und Forschungsstelle ein?

Vinçon: Eine kommentierte Werkedition setzt voraus, dass dazu die überlieferten Briefe von und an Wedekind – immerhin fast 4000 – herangezogen werden. Es lag nahe, die zur Kommentierung erschlossenen Briefe nicht brach liegen zu lassen. Zumindest aufschlussreiche Briefwechsel sollten für das Verständnis von Wedekinds Person und Werk durch Print-Editionen zugänglich gemacht werden, wie zum Beispiel der Briefwechsel zwischen Tilly und Frank Wedekind und der jetzt vorliegenden Briefwechsel Frank Wedekinds mit den Eltern. Angesichts der Masse an Briefen entstand in Kooperation mit der Kollegin Uta Störl am Fachbereich Informatik die Idee einer Online-Briefdatenbank. Ein erster Prototyp wurde 2015 ins Netz gestellt. Im selben Jahr wurde für dieses Projekt ein Kooperationsvertrag zwischen der Hochschule Darmstadt und der Universität Mainz geschlossen. Er bildete die Basis für die Fortsetzung des Datenbankprojekts unter der Federführung von Prof. Dr. Ariane Martin am Deutschen Institut in Mainz und von Prof. Dr. Uta Störl. 2018 bewilligte die Deutsche Forschungsgemeinschaft für das Projekt Drittmittel für drei Jahre. 2021 wurde das Projekt um weitere drei Jahre verlängert.  

impact: Seit fast 40 Jahren beschäftigten Sie sich nun schon mit Werk und Leben Frank Wedekinds. Wie nah sind Sie ihm hierbei gekommen?

Vinçon: Mich mit dem Autor als Person zu identifizieren, war mir fremd. Mich reizte als wissenschaftlicher Editor, durch praxisbezogene Forschungsprojekte Werk und Rezeption des Dichters wieder in einen aktuellen kulturhistorischen Diskurs zurückzuführen. Aus ihm war er nach seinem Tod bald und für lange Zeit fast völlig verbannt. Wedekind gilt heute als einer der Wegbereiter der kulturellen Modernisierung der wilhelminischen Gesellschaft, die von sozialen und politischen Umbrüchen und Aufbrüchen geprägt war. Aus dem Repertoire der Bühnen sind Wedekinds Werke wie „Frühlings Erwachen“, die Tragödie „Lulu“ oder der „Marquis von Keith“ heute nicht mehr wegzudenken. Wedekind hat aber auch Werke minderen Ranges geschrieben. Seine Persönlichkeit war stark geprägt durch sein Aufwachsen in einer streng patriarchalischen Gesellschaft. Gegen sie begehrte er auf, privat blieb er ihr als Mann verhaftet. Sein absoluter Wille war, als erfolgreicher Schriftsteller anerkannt zu werden. Dies zu erreichen, bediente er sich der Mittel der Selbstinszenierung. Sein Handwerk, medial auf sich aufmerksam zu machen, hatte er als Werbetexter bei dem Unternehmen Maggi gelernt. Er war verschrieen als Provokateur. Literarhistorisch geurteilt, war er als Kulturkritiker seiner Zeit Repräsentant eines bürgerlichen Liberalismus im Kampf gegen eine untergehende, konservative und reaktionäre Gesellschaft. Sich um die Werke dieses einmal fast vergessenen Schriftstellers editorisch zu kümmern, war von Anfang an die große Herausforderung für das Team der Editions- und Forschungsstelle Frank Wedekind.  

Kontakt

Simon Colin
Hochschulkommunikation
Tel.: +49.6151.16-38036
E-Mail: simon.colin@h-da.de

Zur Person: Frank Wedekind

Frank Wedekind (1864-1918) wuchs auf in Hannover und ab 1872 auf Schloss Lenzburg. Ab 1888 arbeitete er als freier Schriftsteller in Berlin und München. Er schrieb fortan Gedichte, Erzählungen, Dramen und Tagebücher. Die erste Erfolgspublikation war „Frühlings Erwachen. Eine Kindertragödie“ (1892). Zugleich arbeitete er mit an der ab 1896 erscheinenden illustrierten Wochenschrift „Simplicissimus“. Wegen Majestätsbeleidigung wurde er 1899 verurteilt zu einer siebenmonatigen Gefängnisstrafe aufgrund eines pseudonym veröffentlichten Gedichts im „Simplicissmus“. Seit 1903 wurden seine Bühnenwerke erfolgreich aufgeführt. Trotz vielfacher Aufführungsverbote durch die polizeiliche Theaterzensur etablierte er sich als anerkannter Theaterautor. 1906 heiratete er die Schauspielerin Tilly Newes (1886-1970). Aus der Ehe hervor gingen die Töchter Pamela (1906-1986) und Kadidja (1911-1994). Er starb am 9.3.1918 in München.

Die wichtigsten Arbeiten der Editions- und Forschungsstelle Frank Wedekind

Kritische Studienausgabe der Werke Frank Wedekinds in 15 Bänden, hg. von Elke Austermühl, Rolf Kieser und Hartmut Vinçon. Darmstadt 1994-1913. Verlag Jürgen Häusser.

Wedekind-Reihe „Pharus“, hg. von Elke Austermühl, Rolf Kieser und Hartmut Vinçon. Darmstadt 1989-1996, 5 Bände. Verlag Jürgen Häusser.

Reihe „Wedekind-Lektüren“, hg. v. Elke Austermühl, Sigrid Dreiseitel, Rolf Kieser und Ariane Martin. Ab 2000 in bisher 7 Bänden. Verlag Königshausen und Neumann.

Edition des Briefwechsels zwischen Frank und Tilly Wedekind. Göttingen 2018. Wallstein Verlag.

In Zusammenarbeit mit der Frank Wedekind-Gesellschaft Darmstadt: http://www.frankwedekind-gesellschaft.de/

Projekt einer Online-Briefdatenbank: http://briefedition.wedekind.h-da.de/, ab 2014 und wieder ab 2018 in Kooperation mit der Editions- und Forschungsstelle Frank Wedekind an der Universität Mainz.