Foto des smarten Blindenstocks mit neongrünem Handgriff, auf einem Tisch liegend
Wenn Hightech auf den Blindenhund kommt

Professor Carsten Zahout-Heil vom Fachbereich Elektrotechnik und Informationstechnik der h_da entwickelt mit Studierenden smarte Hilfsmittel für eine barrierefreie Teilhabe von Menschen mit Behinderungen. Ziel sind einfach umsetzbare und möglichst günstige Lösungen, nutzerfreundlich realisiert in enger Abstimmung mit Betroffenen. Ein zentrales Projekt ist ein mit viel Sensorik erweiterter Blindenstock 4.0., der nicht nur warnt, sondern auch navigiert. Es geht hier aber auch um Bewusstseinsbildung.

Von Alexandra Welsch, 20.07.2021 

Es sticht sofort heraus, dass hier Spezielles im Gange ist. Knallgrün leuchtet der Kunststoffgriff, der oben über den Blindenstock gestülpt ist. Doch er ist nicht nur farblich markant, er hat es auch in sich: Sensoren, die viel erfassen können – von der genauen Verortung des Stocks bis zu Hindernissen in Metern Entfernung. Über eine App und Navigation lässt sich darüber der Weg weisen. Auch Wetterdaten oder Nachrichten könnten übertragen werden. Und an einem kleinen Kästchen ganz oben fahren Blindenschrift-Punkte heraus, die mit dem Daumen erfasst werden und im Gehen Informationen übermitteln. Voilà: Der Blindenstock 4.0, ausgedacht an der Hochschule Darmstadt.

Es ist derzeit das zentrale Projekt in der Tüftelschmiede von Professor Dr. Carsten Zahout-Heil vom Fachbereich Elektrotechnik und Informationstechnik. Der 50 Jahre alte Darmstädter beschäftigt sich innerhalb seines Schwerpunkts Messtechnik und Sensorik seit seinem Eintritt in die h_da im Jahr 2015 verstärkt mit Smart Accessibility, also intelligenter Barrierefreiheit durch Einsatz smarter Technik. Neben Forschung und Lehre – und aktuell auch seiner Tätigkeit als Dekan – lädt er Studierende und andere Fachleute ein, sich im Rahmen des offenen „Smart Accessibility Laboratory“ (SmAccLab) praxisnahe Hilfsmittel für Menschen mit Behinderungen auszudenken.

„Man muss machen, was die Betroffenen brauchen“

Dabei wird eng mit Betroffenen zusammengearbeitet, sie sind der Dreh- und Angelpunkt. „Es ist immer leicht, sich als Gesunder Lösungen zu überlegen“, erläutert Zahout-Heil. „Aber letztendlich muss man das machen, was die Betroffenen brauchen. Da liegen manchmal Welten dazwischen.“ Dabei gehe es gar nicht immer darum, etwas Großartiges zu erfinden. Etwas, was eine kleine Tür aufstoße, könne auch schon sehr viel Wert sein. Bewusst griffen sie bei der Entwicklung neuer Lösungen zudem auf vorhandene Technik und einfache Tools zurück, die oft nicht teuer und unkompliziert einsetzbar seien. „Es ist eine Ungerechtigkeit, dass viele Hilfsmittel über den medizinischen Fachhandel extrem teuer sind“, findet der Ingenieur. Dabei sei der Materialwert oft sehr gering. Sie hingegen wollten Lösungen anbieten, die günstig und leicht anwendbar sind. Denn Menschen mit Behinderungen hätten oft weniger Einkommen. Da ist Barrierefreiheit auch eine Frage des Geldbeutels.

Woher kommt sein Interesse daran? Die Initialzündung liegt rund zwanzig Jahre zurück, berichtet der Professor. Da sei im Zuge seines Studiums eine Frau mit Querschnittslähmung an das Institut herangetreten und habe um Unterstützung gebeten. Sie habe sich mit einfachen Methoden einen Muskelstimulator gebaut, mit dem sie ein Liegerad habe steuern können. „Wir haben die Elektronik verbessert“, erinnert sich der Ingenieur. Spätestens da sei sein Interesse für das Thema geweckt gewesen. Als er dann elf Jahre lang in der Autoindustrie gearbeitet habe, seien die Aufgaben andere gewesen. Aber vieles an Technik aus diesem Automotive-Bereich wende er seit seinem bewussten Wechsel an die h_da in seiner Forschung und Lehre und konkret auch im SmAccLab an. 

Das gilt etwa für die zwei Sensoren an dem weißen Kästchen, die Zahout-Heil als eine Vorstufe bei der Blindenstock-Weiterentwicklung präsentiert. „Die findet man in Autos zur Abstandmessung.“ Und genau dazu sollen sie hier Blinden dienen. „Der Blindenstock hat den Nachteil, dass er nur den Boden abtastet“, erläutert der Ingenieur. Was über der Körpermitte liege, etwa eine Schranke oder ein Ast in Kopfhöhe, nehme er nicht wahr. Hier kommen die beiden Sensoren ins Spiel: Montiert an den Stock, einer ausgerichtet auf den Boden und einer nach vorne, registrieren sie per Laser und Radar auch Objekte, die weiter weg und höher liegen. Diese Information wird über Vibrationsmotoren auf ein Armband übertragen.

Bastler für Barrierefreiheit

Doch damit gaben sich die Bastler für Barrierefreiheit noch lange nicht zufrieden. „Die Idee war, wir bauen einen Blindenhund“, berichtet Zahout-Heil. Denn im Austausch mit Betroffenen hätten sie erfahren, dass einige keinen Blindenhund wollen, aber gerne seine Funktion nutzen würden. Sprich: Nicht nur vor etwas gewarnt, sondern auch zu etwas hingeführt werden. Ergänzend zum Einsatz kommt hier etwa Lidarscan, eine dreidimensionalen Laserscanmethode. „Da erhalte ich für die ganze Fläche Abstandsinformationen.“ Und mittels zugeschalteter Navigation kann der Blindenstockbenutzer gezielt an einen bestimmten Ort geleitet werden. Per App kann die Wegweisung – etwa: „drei Schritten nach rechts gehen“ – durch Vibration oder Blindenschrift an den Griff übertragen werden. Der knallgrüne Prototyp ist ein Zwischenergebnis, quasi der Welpe des digitalen Blindenhundes 4.0.

Die große Herausforderung beschreibt Zahout-Heil so: „Welche übertragenen Informationen nutze ich und wie breche ich das runter auf die Sinneskanäle eines Blinden, ohne ihn zu überfachten.“ Es gehe immer darum, die Datenmenge stark zu reduzieren und so zu übertragen, dass man das intuitiv erfassen könne. Er vergleicht das mit einem Spurhalteassistenten im Auto, der ganz unmittelbar wirkt ohne große Ansagen. Die Idee, einen Blindenstock aufzuwerten, sei dabei nicht neu. „Aber es gibt noch keine gute Lösung.“ Oft seien die Geräte zu schwer. Andere verdienten zwar Designpreise, seien aber letztlich nicht zu gebrauchen. Um das zu verhindern, wird im SmAccLab eng an den Bedürfnissen der Betroffenen gearbeitet. So sind die Tüftler im steten Austausch mit dem Darmstädter „Club Behinderter und ihrer Freunde“, dem örtlichen Blindenbund oder einer Blindenschule in Marburg. „Und mein erster Sparringspartner ist immer Ingo Wolters, ein blinder Kollege an der h_da.“

Von der Weiterentwicklung des Blindenstocks zum Blindenhund ist dieser mehr als angetan – nicht nur, weil sein eigener Hund inzwischen im Rentenalter ist und zu gebrechlich zum Führen. „Mit dem Stock ist nur einen Meter vor mir in Bodennähe ertastbar, was da los ist“, erklärt Ingo Wolters, der als Datenverarbeitungskaufmann in der Verwaltung arbeitet und darüber hinaus als Fachberater parat steht. „Das ist ein Manko seit Erfindung des Stocks.“ Mit der weiterentwickelten Version könne man viel früher viel mehr wahrnehmen. Doch nicht nur deshalb unterstützt er das Vorhaben. „Es geht für mich auch darum, dass mit solchen Projekten Studierenden vor Augen geführt wird, dass nicht jeder normal sieht“, betont Wolters. „Es geht zunächst mal um die  Bewusstseinsbildung.“

Bewusstseinsbildung für Studierende

Rund dreißig Studierende haben sich bislang unter Anleitung von Professor Zahout-Heil in Teamprojekten mit smarten Lösungen für mehr Barrierefreiheit und Teilhabe beteiligt, auch ist eine Hand voll Abschlussarbeiten dazu entstanden. So hat sich eine Masterarbeit mit der Warn-Sensorik für den Langstock befasst. Und in einer Teamarbeit ging es um die Entwicklung eines barrierefreien Schalters, sprich eines Bedienelements, das optisch, taktil und akustisch wahrnehmbar ist. Ebenfalls erdacht wurde ein Gerät, das Farben von Objekten erkennt und als Sprache ausgeben kann. In der Weiterentwicklung befindet sich ein taktiler Handschuh, der durch optische Sensoren und Vibrationsmotoren an den Fingerspitzen ein Erfühlen von Plänen und Zeichnungen ermöglicht. Und das große Ziel ist natürlich der „Blindenhund 4.0“.

Sein offenes SmAccLab würde Carsten Zahout-Heil gerne als regelmäßiges, festes Angebot etablieren. Explizit willkommen seien dabei auch Kollegen anderer Fachbereiche wie Maschinenbau, Bildverarbeitung oder Informatik. „Ich würde mir wünschen, dass noch mehr Leute Lust haben, da mitzumachen“, unterstreicht er. Denn die Erhöhung der Selbstbestimmung von Menschen mit Einschränkungen kann für ihn nur in Teamarbeit gelingen. Und unabhängig vom sozialen Aspekt, könne man dort auch rein fachlich glänzen. „Wir machen hier Sensorik und Aktorik auf hohem Niveau“, betont der Wissenschaftler. „Es ist Hightech.“ Hightech, die auf den Blindenhund gekommen ist.

Kontakt

Christina Janssen
Wissenschaftsredakteurin
Hochschulkommunikation
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