Wenn die Wohnung auf uns aufpasst

xxxxxxx

Die Deutschen altern. Die meisten möchten zuhause in gewohnter Umgebung ein selbstbestimmtes, sicheres Leben führen. KI-Fachleute der Hochschule Darmstadt arbeiten an einer Software-Plattform und digitalen Lösungen, die genau das möglich machen sollen. Was wäre also, wenn die Wohnung künftig auf uns aufpasst und in einem Notfall Hilfe alarmiert? Ein solches Pilotprojekt, das von der h_da geleitet und vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wird, läuft ab 2023 in der Oberlausitz an. Mit dem Verbundvorhaben sollen gleichzeitig Unternehmen und Einrichtungen in der strukturschwachen Region gefördert werden.

Von Astrid Ludwig, 15.12.2022

Für Reiner Wichert ist die digitalisierte Pflege die Pflege der Zukunft. Noch dazu eine erschwingliche Alternative, wenn die Kräfte schwinden und der Alltag beschwerlicher wird. Ins Heim? „Das wollen die Wenigsten und es ist teuer. Bei rund 2.100 Euro liegt bundesweit der Anteil, der für Pflegeheim oder Altersresidenz aus eigener Tasche gezahlt werden muss“, sagt der 58-Jährige, seit 2022 Professor für Informatik an der Hochschule Darmstadt. Wer zuhause wohnen bleibt, steht jedoch irgendwann vor einem Betreuungsproblem. Denn das Unfallrisiko steigt und damit die drängende Frage, wer bei Stürzen und Notfällen helfen kann.

Natürlich gibt es Notrufknöpfe oder Armbänder, „aber das sind aktive Alarme, die von den Betroffenen ausgelöst werden müssen“, sagt Reiner Wichert. Doch wenn der Notfallknopf gerade nicht zur Hand ist oder gar nicht mehr gedrückt werden kann? Auch passive Alarme wie die Smartwatch am Handgelenk oder Sturzerkennungssysteme im Fußboden sind kein ausreichender Schutz. Wie also muss eine Hilfe beschaffen sein, die zuverlässig Notsituationen erkennt? Daran forschen der Professor und sein Team in dem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Verbundprojekt „Innovation & Strukturwandel: Wandel durch Innovation in der Region“. Ihr Ansatz: Nicht die Betroffenen müssen aktiv werden, sondern die Wohnung passt auf ihre Bewohner*innen auf. Dafür hat haben die Forschenden eine Software-Plattform entwickelt, die Künstliche Intelligenz nutzt.

Das KI-System, so Wichert, stützt sich dabei auf Sensoren, die in den Wohnräumen eingebaut werden. Diese sollen kritische Situationen wie einen Sturz, längere Inaktivität der Bewohner*innen, Rauchentwicklung oder zu lange Aufenthalte im Bad registrieren und auch merken, wenn jemand nachts aufsteht, aber nicht in sein Bett zurückkehrt. Die Sensoren sind mit einem ebenfalls in der Wohnung installierten Controller einem kleinen Computer vernetzt, der die Informationen auswertet und analysiert, ob es sich um eine Notlage handeln könnte. In einem solchen Fall meldet sich das Gerät über Lautsprecher bei den Bewohner*innen. „Sie werden aufgefordert, nicht ans Telefon zu gehen, wenn sie Hilfe brauchen“, erklärt der Professor das Prozedere. Passiv wird so eine Notrufkette ausgelöst, die Nachbarn, Familie, Freunde, Hausverwaltung oder Notrufzentrale telefonisch alarmiert, die über den Controller auch direkt mit den in Notgeratenen sprechen können. Trifft Hilfe ein, kann je nach Hausausstattung sogar die Eingangstür digital freigeschaltet werden.

Bis 2021 war Wichert an einem EU-geförderten Forschungsprojekt über Künstliche Intelligenz und Aktives Altern beteiligt, an dem rund 7000 Nutzer*innen aus Europa und Deutschland teilnahmen. Sie sollten Erfahrungen sammeln, wie Pflege digitalisiert und intelligente Systeme bei einem selbstbestimmten Leben helfen können.

Dabei hat der Informatik-Professor bereits an der Entwicklung einer Open Source Software-Plattform mitgearbeitet, die flexible Lösungen und Dienste anbietet, damit Menschen möglichst lange zuhause wohnen bleiben können. In einer weiterentwickelten Form wird diese Software nun bei dem Pilotprojekt in der Oberlausitz eingesetzt. Neu ist, betont Wichert, dass das KI-System Nutzer*innen vom Kleinkind- bis ins Seniorenalter begleiten kann und sich den veränderten Bedingungen anpasst. Denkbar sind digitale Hilfen, die die Sicherheit der Bewohner*innen unterstützen, die helfen, Energie einzusparen oder eben der persönlichen Gesundheit und Pflege dienen. 

Wie das funktioniert? Bei der Künstlichen Intelligenz, die eigens für das Projekt entwickelt wird, handelt es sich um ein selbstlernendes System, „das man sich wie einen Kreislauf vorstellen muss“, erklärt der Informatiker. Bestimmte Muster wie zum Beispiel die Verhaltensweisen von Bewohner*innen werden anhand großer Datenmengen trainiert, damit das System das alltägliche Leben, normale Reaktionen der Betroffenen, aber sehr gut auch Abweichungen davon erkennt. Denn diese Abweichungen zeigen, „dass etwas passiert sein könnte“, so Wichert. Bei den Nutzerdaten, auf die das System trainiert wird, kann es sich um das Schlafverhalten, die Anzahl der Schlaf- und Wachstunden handeln, wie viel Zeit jemand normalerweise im Bad oder Wohnzimmer zubringt, ob jemand das Haus verlassen oder nur die Tür geöffnet hat. Wichtig ist, so Wichert, „dass die Erkennungswahrscheinlichkeit des Systems hoch ist“. Die lässt sich mit einer erweiterten Sensorik verbessern - etwa in Form von Türkontaktschaltern, Bewegungsmeldern oder Sturzsensoren. All diese komplexen Informationen gilt es zusammenzubringen. Den Forschenden geht es darum, ein besonders genaues KI-System zu entwickeln. Daher sollen die Projekt-Fördergelder in zwei Stellen für wissenschaftliche Mitarbeitende investiert werden, die an der Optimierung und auch der schnellen Situationserkennung forschen. Hilfe soll, wenn nötig, schließlich schnell eintreffen.
 

Bald soll das System in den Livebetrieb gehen. Das von Prof. Wichert geleitete Projekt startet im Januar 2023. 30 Monate lang wird die Maßnahme mit 1,14 Millionen Euro gefördert. An dem Kooperationsvorhaben sind neben der h_da die TU Dresden, die Hochschule Zittau/Görlitz sowie die Johanniter-Unfall-Hilfe und die Wohnungsbaugesellschaft Oberland Neugersdorf, sowie der Hardware-Hersteller TQ-Systems und das Software-Unternehmen uCORE Systems beteiligt. In der Anfangsphase sollen 26 Wohnungen im Kreis Görlitz mit den Sensoren ausgestattet werden. „50 weitere Wohnungen sind in einer zweiten Phase avisiert, insgesamt 200 möglich“, so Wichert. 

Angesiedelt wird die erste Anwendung in Deutschland bewusst in einer überalterten und strukturschwachen Region wie der Oberlausitz. Gezielt sollen damit Unternehmen und Einrichtungen vor Ort gefördert werden, um Stellen zu schaffen, Firmenansiedlungen zu fördern und die Attraktivität der Region zu erhöhen. So wird nicht nur die Hardware von dem örtlichen Unternehmen TQ-Systems produziert. Elektriker*innen aus der Region sollen die Sensorik einbauen. Dafür wird es Schulungen geben, die die Hochschule Zittau/Görlitz anbietet. Auch örtliche Gesundheitsdienste und Gesundheits-Apps sollen ihre Dienste offerieren können. Die Software ist bewusst flexibel programmiert, dass eine Erweiterung möglich und neue Anbieter jederzeit auf der Plattform einsteigen können, betont der Professor.

Um sicherzustellen, dass alles funktioniert, wird es eine Testphase in einer Laborumgebung geben, die von einem regionalen Verein namens „Wohnxperium“ betreut wird. Sind Kinderkrankheiten kuriert, soll die Plattform Mitte 2024 in den Wohnungen online gehen. Wichtig ist, betont der h_da-Professor, dass das System auch die Privatsphäre schützt. „Analysiert werden die kritischen Situationen nur auf dem Controller in der Wohnung und auch die Hilfeleistung wird nur von dort aus angestoßen. Alle Daten werden zudem nur 14 Tage lokal gespeichert.“ 
Ein Basis-Set des KI-Systems soll später im Verkauf einmalig ab rund 2000 Euro erhältlich sein - plus monatliche Wartungskosten von rund zehn Euro. „Das ist erschwinglicher als ein Heimaufenthalt“, findet Wichert. 
 

Mehr über Prof. Dr. Reiner Wichert

Der Informatiker befasst sich schon lange mit Lösungen für den Bereich Smart Home und Personal Health. Vor seine Professur an der h_da war Reiner Wichert Abteilungsleiter beim Fraunhofer Institut IGD in Darmstadt und Sprecher der Fraunhofer-Allianz „Ambient Assisted Living“, in der elf Fraunhofer-Institute gemeinsam an Methoden und Konzepten forschen, die ältere oder behinderte Menschen „situationsabhängig und unaufdringlich“ im Alltag unterstützen sollen.