Die Diskussion über die Abhängigkeit von Öl und Gas aus Russland macht mit aller Dringlichkeit deutlich, dass die Energiewende alternativlos ist. Ein wichtiger Baustein im nachhaltigen Energiemix der Zukunft ist die Wasserkraft. Hier liegen derzeit noch große Potenziale brach, gerade in den süddeutschen Bundesländern. Am Fachbereich Bau- und Umweltingenieurwesen der Hochschule Darmstadt (h_da) arbeitet ein Team um Prof. Dr. Nicole Saenger deshalb daran, der Jahrtausende alten Wasserradtradition zum Sprung in die Moderne zu verhelfen und so die Potenziale von Wasser als Energiequelle nachhaltig zu nutzen.
Von Christina Janssen und Paul Anton Gerlitz (Film), 30. Mai 2022
Der Name der Gemeinde Mühltal im Odenwald ist Programm: Jahrhundertelang war die Region durch die Mühlenstandorte entlang der Modau und ihrer Zuflüsse gekennzeichnet. Nahezu 70 Wassermühlen klapperten hier einst – wie im Kinderlied – am „rauschenden Bach“, wurden aber ab Ende des 19. Jahrhunderts nach und nach stillgelegt. „Da schlummert noch Potenzial“, sagt Wasserbauingenieurin Prof. Dr. Nicole Saenger von der Hochschule Darmstadt. Und damit meint sie nicht nur die idyllische Hügellandschaft Südhessens: „In Deutschland gab es früher 60.000 Mühlen. Wenn man an diesen Standorten wieder Wasserräder installieren könnte, wäre viel gewonnen.“ Der Vorteil liegt auf der Hand: Wasser fließt rund um die Uhr, die Energiegewinnung ist emissionsfrei. Allerdings werden neue Wasserkraftanlagen an vorhandenen Wehren nur genehmigt, wenn sie für Fische und Sedimente durchgängig sind. Diese Verpflichtung ist seit dem Jahr 2000 im EU-Recht verankert.
Rund 7.300 Wasserkraftanlagen produzieren nach Angaben des Branchenverbandes derzeit in Deutschland Strom. Im Jahr 2019 lag ihr Anteil an der Gesamtproduktion bei 3,5 Prozent. Doch Umweltschützer und Wasserkraftbetreiber sind sich nicht grün. Jedes Kraftwerk, egal wie klein, ist ein „Querbauwerk“ im Fluss und somit ein Störfaktor im komplexen Ökosystem: Die Fließgeschwindigkeit verändert sich, Wasser wird gestaut, Fische können nicht mehr ungehindert wandern, Sand und Kies bewegen sich anders durchs Flussbett. Zudem werden fast alle Anlagen mit Turbinen betrieben. „Die Mortalität der Fische ist an Turbinen relativ hoch. Wenn Fische hineingeraten, werden sie gehäckselt“, erläutert Professorin Saenger, die vor einem Jahr ihr Amt als erste Vize-Präsidentin für Forschung und Nachhaltigkeit der h_da antrat. „Deshalb sind aufwändige Fischschutzanlagen erforderlich.“
Ökostrom und glückliche Fische
Die Professorin setzt in ihrer Forschung darum auf Wasserräder statt Turbinen. Sie bieten im Vergleich viele Vorteile – gerade in puncto ökologischer Durchgängigkeit. Ort des Geschehens ist die 1000 Quadratmeter große Wasserbauhalle, ein kubistisches Bauwerk der 1970er Jahre und für die h_da als Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW) ein Alleinstellungsmerkmal: „Wasserbauhallen dieser Größenordnung gibt es sonst nur an Universitäten“, berichtet die wasserbegeisterte Wissenschaftlerin. Durch Rinnen und Kanäle rauscht hier das Wasser, strudelt über Kies und Sand, setzt plätschernd Wasserräder in Bewegung, deren Aktivität durch präzise Messtechnik erfasst und ausgewertet wird. Von Saengers fünf Doktoranden, die am bundesweit einzigartigen Promotionszentrum Nachhaltigkeitswissenschaften der h_da promovieren werden, forschen hier drei daran, die Energiewende voranzubringen und die Kleinwasserkraft umweltverträglicher zu gestalten. „Ziel ist es, einerseits die Effizienz von Wasserrädern zu optimieren und sie gleichzeitig für Fische durchgängig zu gestalten.“
Im Gegensatz zu einigen Turbinen-Typen sind Wasserräder nur in der „kleinen Wasserkraft“ im Einsatz: Sie drehen sich um ein Vielfaches langsamer, verarbeiten deutlich geringere Wassermengen und sind mit einem Wirkungsgrad von 60 bis gut 80 Prozent weniger effizient als manche Turbinen mit 90 bis 95 Prozent. Dafür aber sind Wasserräder robust, leicht zu bauen, kostengünstig und damit auch eine für Entwicklungs- und Schwellenländer geeignete Technologie. Professorin Saenger nennt weitere Vorzüge: „Wasserräder kommen besser mit Hoch- und Niedrigwasser zurecht, funktionieren auch bei geringen Fallhöhen, die Mortalität für Fische ist geringer als ein Prozent.“ Das heißt konkret: Wenn Turbinen in den trockenen Sommermonaten längst abgeschaltet sind und keinen Strom mehr generieren, drehen sich die Wasserräder unermüdlich weiter.
Eine besonders effiziente Variante ist das Zuppinger-Wasserrad, mit dem sich Saengers Doktorand Julius Maier beschäftigt. „Das Besondere daran ist: Es nutzt nicht nur die Fallhöhe des Wassers, um sie in elektrische Energie umzuwandeln, sondern auch die Fließgeschwindigkeit.“ Diesen genialen Wasserrad-Klassiker möchte der 25-Jährige weiter optimieren. „Klar, der Leistung ist eine Grenze gesetzt, aber ein bisschen mehr geht noch, und das möchte ich herauskitzeln.“ Dafür misst Maier Drehmoment und Drehzahl bei wechselnden Bedingungen und wertet die Leistung am Laptop aus. Wie so oft in der Wissenschaft, war es der Zufall, der den Nachwuchs-Forscher dabei auf eine spannende Spur brachte: „Bei einer Umbauaktion bin ich darauf gekommen, das Wasserrad zu halbieren. Und das war ein Volltreffer.“ Das halbseitig beplankte Rad liefert zwar – kaum überraschend – weniger Strom, dafür aber glücklichere Fische, die einfach daran vorbeischwimmen können. Draußen in der Natur wurde das zwar noch nicht getestet. Aber: „Wir forschen weiter und möchten auf dieser Grundlage einen neuen Typ von Wasserrad entwickeln.“
Den Klimawandel „nachspielen“
Auch Maiers Kollege Philipp Werner hat das Wohl der Fische im Blick. Am benachbarten Versuchsstand experimentiert er an einer sogenannten Fischtreppe. Solche Beton-Konstruktionen sollen es den Tieren ermöglichen, Stufen an Wehren und Wasserkraftanlagen zu überwinden, also zwischen Ober- und Unterstrom hin und her zu wandern. Auch hier spielt der Klimawandel eine ungute Rolle: Durch extreme Wetterphänomene wie Hochwasser oder Dürre werden Fischtreppen funktionsuntüchtig. „Ich schaue mir deshalb die klimatischen und hydraulischen Einflussfaktoren auf solche Anlagen an“, berichtet Philipp Werner. Dabei bezieht der junge Wissenschaftler Prognosedaten aus Klimamodellen bis ins Jahr 2100 ein und überträgt die Szenarien auf seine Versuchsanlage. „So können wir den Klimawandel quasi ‚nachspielen‘.“ Das Ziel sind Fischtreppen, die auch unter extremen Bedingungen noch funktionieren. „Mir macht dieses Forschungsgebiet unheimlich Spaß“, schwärmt Werner. „Aber wenn ich mir die Prognosen zum Klimawandel anschaue, bekomme ich Bauchschmerzen. Umso schöner ist es dann, an einem Thema arbeiten zu können, mit dem man etwas Positives bewirkt.“
Diese Motivation führte auch den Vermessungstechniker und Bauingenieur Martin Weber ans Promotionszentrum Nachhaltigkeitswissenschaften – und in die Wasserbauhalle. In seiner Forschung geht es um den teils bedenklichen Zustand der deutschen Flüsse. Bis zum Jahr 2027 sollen gemäß europäischer Wasserrahmenrichtlinie die EU-Staaten ihre Gewässer in einen ökologisch „guten Zustand“ versetzen – Flüsse, Seen, Küstengewässer und auch das Grundwasser. „Davon sind wir in Deutschland weit entfernt“, beschreibt Weber die Ausgangslage. Das größte Problem bei der Renaturierung von Flüssen ist schlicht nicht lösbar: Es mangelt an Platz. „Oft reichen Äcker oder Bebauung bis ans Ufer heran, hier bleibt kein Raum für eine größere Umgestaltung.“ Weber arbeitet deshalb an einfachen, pragmatischen Mitteln, um stark veränderte Flussläufe wieder zu echten Biotopen zu machen. Das Motto: Wenig hilft viel.
Totes Holz für lebendige Flüsse
Ob und wie das geht, untersucht Weber an einem sogenannten „Stream Table“. Mit seinem Kollegen Kevin Rieger und Studierenden arbeitet er gerade an einem Modell der Weschnitz. Ein Betonkanal, dessen Form und Abmessungen der Geometrie des südhessischen Flüsschens entsprechen. Die Rinne ist noch nicht betriebsbereit; sie wird im nächsten Schritt abgedichtet, mit Sediment versehen, also mit Sand und Kieseln. „Für unsere Messungen werden wir dann ein Stück Totholz einbringen“, erläutert Weber und legt – stellvertretend für einen umgeknickten Baumstamm, der quer im Wasser liegen bleibt – seinen roten Bleistift in den noch trockenen Modell-Kanal. „Üblicherweise wird solches Totholz aus den Flüssen entfernt, weil man negative Auswirkungen im Falle von Hochwasser befürchtet. Doch abgestorbene Äste und Stämme sind auch ein wichtiger Lebensraum, Nahrungsquelle und Schutz gegen Sonne wie Fraßfeinde.“ Darin und darum herum siedeln sich Fische und kleinere Organismen an. In der Flusssohle sammelt sich im Umfeld eines liegen gebliebenen Baumstamms Kies, den manche Fischarten zum Laichen benötigen. Genau dieses Szenario möchten Weber und Rieger zunächst im Experiment simulieren und dann an der Weschnitz testen. Ihre These: Die positiven Effekte überwiegen die negativen bei weitem.
Die Wahrheit wird sich am Stream Table weisen, wenn auch hier das Wasser fließt. Dann wird das Team Weber – Rieger die Veränderungen rund um ein querliegendes Stückchen Holz in ihrer Mini-Weschnitz exakt beobachten und messen: „Wo wird etwas abgetragen, wo landet etwas an? Im besten Fall können wir live sehen, wie sich die einzelnen Körner in der Flusssohle bewegen.“ Dann wird die Idee ins „Reallabor“ übertragen und vielleicht zu einem Zukunftsmodell für Deutschlands Flüsse: „Wir möchten ein kleines Fließgewässer hier in der Region mit einem Stück Totholz versehen und dann durch intensives Monitoring die Veränderungen beobachten.“ Weber ist sich sicher: Das wird gut. „Darauf weisen alle bisherigen Erkenntnisse hin.“
Ins Profil der h_da, die in Lehre und Forschung einen besonderen Schwerpunkt im Bereich Nachhaltigkeit setzt, fügen sich die Forschungsthemen in der Wasserbauhalle mit ihren vielfältigen Facetten bestens ein, freut sich Vizepräsidentin Nicole Saenger: „Hier geht es um regenerative Energie, um Fließgewässer-Ökologie, also um interdisziplinäre Themen. Wir haben hier beispielsweise Anknüpfungspunkte zu Geografen und Biologen. Das passt auch zu den Plänen unserer Hochschule, interdisziplinäre Studienfelder zu entwickeln.“ Hinzu kommt der Transfergedanke: „Wir möchten unsere Forschung in die Gesellschaft, in die Ingenieurbüros und Verbände hineintragen. Denn das, was wir hier erforschen, soll auch umgesetzt werden.“ Der aktuelle Vorstoß der Berliner Ampel-Koalition, kleinen Wasserkraftwerken die Förderung zu streichen, kommt aus Saengers Sicht zur Unzeit. „Wir brauchen regenerative Energie mehr denn je. Deswegen wäre es sinnvoll, die Renaissance der Wasserräder voranzutreiben. Sie sind ein Weg, die Wasserkraft ökologisch verträglich zu nutzen.“ Und das nicht nur im schönen Mühltal, sondern weltweit.
Kontakt
Christina Janssen
Wissenschaftsredakteurin
Hochschulkommunikation
Tel.: +49.6151.533-60112
E-Mail: christina.janssen@h-da.de
Wasserkraft in Deutschland
Rund 7.300 Wasserkraftanlagen produzieren derzeit in Deutschland Strom. Ihr Anteil an der gesamten Stromproduktion lag im Jahr 2019 bei 3,5 bis 4 Prozent, der Anteil am Strom aus erneuerbaren Energien bei 8,3 Prozent.
Der größte Teil der Wasserkraftanlagen – die Angaben schwanken zwischen 4.800 und 6.900 – zählt zu den Kleinwasserkraftanlagen mit einer Leistung von weniger als einem Megawatt. Diese kleinen Anlagen liefern rund zehn Prozent des Stroms aus Wasserkraft, die großen Anlagen generieren 90 Prozent.
Fast alle Wasserkraftanlagen in Deutschland werden mit Turbinen betrieben. Ihre Effizienz liegt bei 90 bis 95 Prozent. Bei Wasserrädern sind es je nach Bautyp 60 bis gut 80 Prozent. Aufgrund von schwankenden Niederschlagsmengen unterlag die Stromproduktion aus Wasserkraft in den letzten Jahren starken Schwankungen.
Quellen: h_da / Nicole Saenger; Bundesverband Deutscher Wasserkraftwerke