Gemeinsam mutig umsteuern

Auto-Fokussierung beenden, Perspektiven wechseln, Flächen umverteilen, Infrastruktur umbauen, ÖPNV ausbauen, Gewohnheiten reflektieren, zum Ausprobieren motivieren. Diese Lösungsansätze für unsere Verkehrsprobleme nannten die Teilnehmenden des 2. h_da Dialog-Forums „Stadt und Region – gemeinsam mobil“. Dazu hatten Hochschule Darmstadt, HEAG mobilo und Wissenschaftsstadt Darmstadt am 17. September eingeladen. Die ins Virtuelle verlegte Diskussion verlangte allen Beteiligten jene Flexibilität ab, die auch der Mobilitätswende den Weg bereiten könnte.

Von Daniel Timme, 19. Septmeber 2020

Oberbürgermeister, Bürgermeisterin, Geschäftsführer des Verkehrsunternehmens und Professoren für Verkehrswesen: Die Podiumsbesetzung löste den Anspruch des Formats ein, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft zusammenzubringen. Wichtig sei aber auch, die Bürgerinnen und Bürger inhaltlich mitzunehmen, betonte Prof. Dr. Thomas Döring, Leiter des Servicezentrums Forschung und Transfer der h_da und Moderator des Abends. Coronabedingt war bei Teil zwei der im Januar gestarteten Reihe kein Publikum zugelassen. Die Diskussionsrunde am Fachbereich Gestaltung der h_da wurde per Livestream übertragen. Technisch-organisatorisch gelang es über weite Strecken, den Dialog ins Internet zu verlegen. Anfangs holperte es noch, später ging es flüssig voran. Über ein Online-Tool konnten die virtuell Zuschauenden Fragen einspeisen und beantworten. Die Wichtigkeit dieses Austauschs unterstrich auch Prof. Dr. Arnd Steinmetz, Vizepräsident für Forschung und wissenschaftliche Infrastruktur der h_da, in seinem Videogrußwort.

138 Fußballfelder voller Pkw

Verkehrsthemen hätten höchste Bedeutung für die Bevölkerung, sagte Darmstadts Oberbürgermeister Jochen Partsch in seinen Begrüßungsworten. Dabei seien die vorgebrachten Wünsche – mehr Radwege, mehr Parkplätze, mehr Straßenbau, besserer ÖPNV – widersprüchlich. Gemeinsam mit Bürgerschaft und Wissenschaft gelte es, „komplexe Kompromisse“ zu finden. Die Mobilitätswende bedeute, „dass wir deutliche Schritte weg vom motorisierten Individualverkehr machen müssen“, legte sich der OB fest. Die in Darmstadt zugelassenen Pkw beanspruchten eine Fläche von 138 Fußballfeldern – Räume, die eigentlich für Bürgerinnen und Bürger da seien.

Eine Steilvorlage für Matthias Kalbfuss, Vorsitzender der Geschäftsführung von HEAG mobilo, der das dritte Grußwort beisteuerte. Wenn mehr Menschen auf das Auto verzichten sollten, müssten Verkehrsunternehmen wie seines ihr Angebot ausweiten. Ohnehin seien die Fahrgastzahlen über die Jahre stark gestiegen. Für einen dichteren Takt und bessere Verbindungen brauche es mehr Fahrzeuge, Fahrerinnen und Fahrer. Das sei nur über ausreichend finanzielle Mittel von Bund, Land und Kommunen zu stemmen.

Wer kreuzt hier wen?

Jürgen Follmann, h_da-Professor für Verkehrswesen, führte ins Thema ein. „Wir werden die Mobilitätswende nur packen, wenn wir alle unsere Mobilität, unsere Wege und Gewohnheiten überdenken“, sagte er. Ein Viertel der Wege, die heute mit dem Auto gefahren werden, seien kürzer als zwei Kilometer, die Hälfte kürzer als fünf Kilometer. Diese Wege ließen sich zu Fuß oder per Rad zurücklegen – was zudem der Gesundheit zugutekomme. „Wir müssen zu Veränderungen motivieren und Infrastruktur umbauen.“ Follmann, Mitinitiator zahlreicher Verkehrsprojekte, unter anderem der Radschnellverbindung zwischen Frankfurt und Darmstadt, warb für einen Perspektivwechsel: „Nicht der Mensch kreuzt die Fahrbahn. Die Fahrbahn kreuzt seinen Lebensraum.“

Katja Diehl, durch ihr Label „She Drives Mobility“ bundesweit bekannte Mobilitätsexpertin, Bloggerin und Podcasterin aus Hamburg, wurde kurz vor dem Ziel von den Corona-Auflagen ausgebremst. Sie war aus Wien angereist, also aus einer Region, die Stunden vor Veranstaltungsbeginn zum Risikogebiet erklärt worden war. Damit war ihre Teilnahme vor Ort unmöglich. Ihren Impulsvortrag „Mobilität in Stadt und Region – kann heute beginnen!“ steuerte sie aus einem Darmstädter Hotelzimmer bei. Ihren Platz auf dem Podium nahm kurzfristig Jürgen Follmann ein.

Wie zuvor schon Partsch und Follmann hob auch Diehl auf die Flächengerechtigkeit ab: „Ein Auto in München steht 98 Prozent der Zeit herum. Das ist geparktes Blech, das keinem etwas bringt.“ Stau, Dreck, Lärm, gefährliche Situationen – niemand sei mit der Mobilität in der Stadt zufrieden. „Im Stau zu stehen, ist eine einzige Verschwendung von Lebenszeit!“, fand Katja Diehl. ÖPNV-Angebote krankten jedoch oft an komplizierten Tarifsystemen oder zu geringer Taktung. Immerhin: Die in den Vortrag eingeflochtene (freilich nicht repräsentative) Befragung des Online-Publikums ergab, dass es um den ÖPNV in Darmstadt und dem Umland gar nicht so schlecht steht.

Der verflixte erste Schritt

„Das Schwierigste an der Änderung unseres Mobilitätsverhaltens ist der erste Schritt“, sagte Diehl. Meist folgten wir unreflektiert Glaubenssätzen. Etwa: Beim Pendeln mit dem Rad komme ich oft in den Regen. Oder: Die Taktung der Busse in den Nachbarort ist zu niedrig. So rechtfertigten wir unser Festhalten am Gewohnten. Tatsächlich sei die ÖPNV-Abdeckung in Deutschland sehr gut. Die angedockte Publikumsbefragung zielte auf Veränderungen des Mobilitätsverhaltens durch die Corona-Pandemie. Etwa ein Drittel gab an, mehr Wege per Rad und zu Fuß zurückzulegen; elf Prozent steigen häufiger ins Auto, drei Prozent nutzen vermehrt den ÖPNV. Ein Viertel hat das Verhalten nicht verändert – und 30 Prozent verzichten auf Wege.

Die Vermeidung von Mobilität als Lösungsbeitrag? „Wenn Unternehmen ihren Beschäftigten ermöglichen, an einem Tag der Woche im Homeoffice zu arbeiten, kann das spürbare Effekte haben“, sagte Christel Sprößler, Bürgermeisterin von Roßdorf bei Darmstadt. Sie nannte eine interessante Erkenntnis aus dem Corona-Lockdown: Schon die Reduzierung des Autoverkehrs um etwa 20 Prozent habe den sonst stockenden und sich stauenden Verkehr vielerorts wieder fließen lassen. Jürgen Follmann machte einen Vorschlag zur gleichmäßigeren Auslastung vorhandener Strukturen. Jeden Morgen seien Busse und Bahnen in der Stoßzeit überlastet, weil Schülerinnen, Schüler und Studierende praktisch gleichzeitig zu Schulen und Hochschulen gelangen müssten. „Warum nicht in den Hochschulen eine Stunde später anfangen, um die Studierenden aus der Hauptverkehrszeit herauszunehmen?“, fragte er.

„Bauen dauert ewig“

Thomas Döring moderierte die Runde im Doppelpass mit Dr. Franziska Rischkowsky, die bei HEAG mobilo die Felder Innovation und Projektmanagement bearbeitet. Einschreiten mussten die beiden kaum. Häufig herrschte Einigkeit. Allerdings räumte Jochen Partsch auch ein, dass in Darmstadt noch manches aufzuholen sei. „Unser Verkehrssystem ist auf Autos ausgelegt“, sagte er. Was man angehen müsse, liege oft auf der Hand. Das Problem sei die große Vorlaufzeit von Infrastrukturmaßnahmen: „Etwas zu bauen, dauert ewig lang.“ Dem pflichtete Follmann bei – und nannte darauf aufsetzend seine Prioritäten: „Wir brauchen vorrangig eine Nord-Süd- und eine West-Ost-Verbindung durch die Stadt für den Radverkehr, zweitens günstigen, bequemen Zugang zum ÖPNV für alle und drittens eine noch deutlich konsequentere Parkraumbewirtschaftung.“ Das durch Corona veränderte Mobilitätsverhalten zeige, dass viele Menschen flexibel sind. Sie gelte es nun mitzunehmen.

Prof. Dr. Axel Wolfermann, ebenfalls Professor für Verkehrswesen an der h_da, sagte: „Wir müssen bedenken und ehrlich diskutieren, welche Konsequenzen unser heutiges Mobilitätsverhalten hat!“ Umzüge oder Jobwechsel seien geeignete Zeit- und Ansatzpunkte, um eingeschliffene Routinen zu durchbrechen. „Wir brauchen einerseits Regulierung, aber auch Graswurzelaktivitäten aus der Bürgerschaft, die zeigen, was alles möglich ist und funktionieren kann.“ Ein gutes Beispiel dafür bietet derzeit das Projekt „LieferradDA“, an dem Wolfermann beteiligt ist.

Reichen viele kleine Schritte aus?

Und kostenloser ÖPNV? Kann man machen, sagte Michael Dirmeier, Geschäftsführer von HEAG mobilo. „Aber das würde für uns jährlich 35 Millionen Euro zusätzliches Defizit bedeuten. Das muss jemand bezahlen.“ Verbilligte oder kostenlose ÖPNV-Tickets bewegten den überzeugten Autofahrer aber ohnehin nicht zum Umstieg, ist Dirmeier sicher. Wichtiger seien der Ausbau des ÖPNV, hohe Qualität und Zuverlässigkeit. All das sieht auch Christel Sprößler als Bedingung dafür, dass der ÖPNV für potenzielle Umsteiger attraktiv ist. Auch sie plädierte dafür, den Radverkehr zu stärken. „Wir müssen nach vielen kleinen Lösungen suchen, statt auf die eine große Lösung zu warten“, glaubt Sprößler.

Axel Wolfermann brachte zum Ende die Generationengerechtigkeit zur Sprache. Er mahnte an, die Folgen der Klimaerwärmung bei heutigen Entscheidungen und Handlungen stärker in den Blick zu nehmen. „Stand heute brauchen wir bis 2035 weltweit null CO2-Emissionen. Das werden wir alleine durch kleinere Maßnahmen nicht schaffen. Aber alles, was wir bis dahin nicht geschafft haben, bedeutet, dass die zukünftigen Generationen darunter leiden werden. Das dürfen wir bei all unseren Diskussionen über Machbarkeit und Umsetzbarkeit nicht vergessen.“ Aus dem Kreis der mehr als 300 Bürgerinnen und Bürger, die die Diskussion verfolgten, kam abschließend mehrheitlich positives Feedback zur Veranstaltung.

Kontakt

Daniel Timme
Servicezentrum Forschung und Transfer
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