Didaktik in MINT-Fächern
Der Mathematiker und Hochschullehrer Torsten-Karl Strempel ist an der h_da ein Motor für MINT-Vernetzung, Didaktik und Schulkooperationen. Nach der MNU-Landestagung in Darmstadt mit Workshops für Lehrerinnen und Lehrer aus ganz Hessen spricht er im impact-Interview darüber, warum Mathe in Talkshows belächelt wird, was Lehrerinnen und Lehrer heute belastet und wie digitale Tools und Künstliche Intelligenz den Unterricht verändern.
Interview: Christina Janssen, 24.11.2025
impact: Herr Strempel, starten wir doch mal mit einem Klassiker: Sie erzählen auf einer Party, dass Sie Mathematiker sind. Die Umstehenden sagen dann vor Schreck entweder gar nichts. Oder aber: „In Mathe war ich immer ganz schlecht.“ Richtig?
Prof. Dr. Torsten-Karl Strempel: Das kann ich bestätigen. (lacht)
impact: Manche Leute prahlen geradezu damit, dass Ihnen Mathe in der Schule ein Graus war, auch viele Promis. Ich habe ChatGPT gefragt, warum sie das wohl tun.Die Antwort lautete: um Sympathie zu erzeugen. Hat die Mathematik ein Imageproblem?
Strempel: Ja. Und die Wissenschaft insgesamt hat ein Imageproblem. In der Corona-Zeit hat sich das sehr zugespitzt: Zu erleben, wie bestehende Lehrmeinungen revidiert werden mussten, hat viele verunsichert. Das haben sich einige zunutze gemacht, um die Wissenschaft in Misskredit zu bringen. In der Mathematik kommt außerdem noch hinzu, dass sie als besonders „schwer“ gilt.
impact: Ist das ein deutsches Phänomen? In Frankreich, so mein Eindruck, prahlen Menschen eher damit, dass sie Mathe können.
Strempel: Frankreich ist tatsächlich ein Land, von dem ich das auch höre. Ob das für viele andre Länder genauso gilt, weiß ich aber nicht.
impact: Kann Mathe denn wirklich Spaß machen?
Strempel: Mathe macht einen Riesenspaß! Das merke ich immer, wenn ich Schulklassen zu Besuch habe: Wir spielen mit Zahlen, mit Stift und Papier, machen kleine Simulationen am Computer und jeder hat ein Erfolgserlebnis. Sofort ist Spaß da – und Austausch. Es ist ein gesellschaftliches Problem, dass wir Mathe abwerten. Dazu kommt, dass Lehrkräfte viel leisten müssen und oft zusätzlich mit Verwaltungsaufgaben gefordert sind.
impact: Hat sich im Schulunterricht in den letzten zehn bis 20 Jahren etwas verbessert?
Strempel: Aus meiner Sicht ist es eher schlechter geworden. Nicht wegen der Lehrkräfte, sondern wegen der Rahmenbedingungen. Viele Kinder kommen nicht mehr schulreif an. Die Bürokratie nimmt überhand: Teilhabe-Card, neue Curricula, Digitalisierung, Berufsorientierung, politische Bildung – alles landet auf dem Tisch der Lehrkräfte.
impact: Also liegt es nicht an fehlenden didaktischen Ideen, sondern daran, dass diese gar nicht umgesetzt werden können?
Strempel: Genau. Die Lehrkräfte müssen sich im Klassenraum zuerst mit pädagogischen Herausforderungen befassen – ADHS, Sprachprobleme, Sozialisierung, …. Fachlicher Unterricht findet erst danach statt. Und wenn zu Hause die Haltung fehlt, dass Schule etwas Wertvolles ist, wird es noch schwieriger.
impact: Welche neuen didaktischen Ansätze gibt es heute im MINT-Unterricht?
Strempel: Die Digitalisierung ist auch in den Schulen angekommen. Es gibt Lernplattformen, Tools, Animationen. Aber das Deputat von hessischen Lehrkräften beträgt 25,5 Unterrichtsstunden pro Woche. Einen Unterricht zu gestalten, der für die Schüler so attraktiv ist wie eine Gameshow, ist kaum zu leisten. Schulcurricula wechseln außerdem sehr oft. Es fehlt die Kontinuität.
impact: Sie haben gerade an der h_da eine große MINT-Tagung für Lehrkräfte organisiert: Was stand bei der MNU-Landestagung auf dem Programm?
Strempel: Eine Mischung aus Vorträgen, Workshops und Experimenten zu allen Fächern aus dem MINT-Bereich von Biologie über Informatik bis hin zur Technik. Kolleginnen und Kollegen aus der Hochschule haben gezeigt, was man im Unterricht nachbauen oder nutzen kann – zum Beispiel Optik-Experimente für den Physikunterricht oder KI-Experimente mit Lego-Robotern. Es gab einen Arduino-Workshop, wo man mit kleinen Schaltkreisen experimentieren konnte. Die Feuerwehren aus Frankfurt, Darmstadt und Fulda waren zu Gast – unter anderem auch mit Anwendungsthemen rund um Chemie oder Physik. Wir hatten Beiträge zum Klimawandel in Grönland, zum „Experimentieren mit dem Smartphone“ oder „Serious Games“ im Unterricht. Ein sehr breites Angebot, und vieles davon ist im Unterricht wirklich umsetzbar.
impact: Wer war bei der Tagung dabei?
Strempel: Etwa 90 Teilnehmende aus ganz Hessen: Lehrkräfte, Pensionäre, Hochschulprofessorinnen und -professoren, Vertreter der Feuerwehren und verschiedener MINT-Zentren, außerdem Verlage und Ausstatter von Experimentierlaboren.
impact: Sie haben selbst einen Workshop zum Thema KI gegeben. Was kann KI im Mathematikunterricht leisten?
Strempel: Immer mehr. Früher hat KI oft Unsinn ausgespuckt. Heute liefert sie häufig korrekte Ableitungen oder Lösungswege. Insofern muss man sich fragen, ob es noch sinnvoll ist, dass die Schüler diese Kompetenzen erlernen, oder ob ich nicht einen Schritt weitergehe und die KI als Trainingspartner in den Erkenntnisgewinn einbinde: Lernende mit schneller Auffassungsgabe bekommen zusätzliche Aufgaben, andere erhalten mehr Zwischenschritte. Dieses Prinzip der Binnendifferenzierung gibt es schon lange – aber KI macht es praktikabler.
impact: Wird das in Schulen schon genutzt?
Strempel: Ja, zum Beispiel mit der Plattform FelloFish.
impact: Haben Sie auf der Tagung etwas erlebt, was Sie selbst als Schüler begeistert hätte?
Strempel: Ich bekomme bei Computern und Elektronik leuchtende Augen. Das MINT-Zentrum Darmstadt hatte einen kleinen Weihnachtsbaum mit LEDs mitgebracht. Ein Eyecatcher. Das eigentliche Thema war aber natürlich nicht Weihnachten, sondern dass man heute mit wenig Geld und wenig Mitteln elektronische Schaltkreise selbst bauen kann. Man kann zum Beispiel die Bewässerung eines Blumentopfes mit einem kleinen Computer steuern. Ich kann auf meinem Balkon einen Feinstaubsensor installieren. Ich kann beim Fahrradfahren einen Abstandsensor nutzen und diese Daten an eine Plattform übermitteln. Das sind kleine Schritte – und schon steht man mit einem Fuß in der wissenschaftlichen Welt. Das macht einfach Spaß.
impact: Wie finden solche Ideen ihren Weg in die Schulen?
Strempel: Über Begegnungen wie unsere Tagung. Lehrkräfte besuchen solche Workshops, kommen später mit ihren Klassen an die Hochschulen oder fragen nach Materialien. Es entstehen Kooperationen, und genau das ist wichtig. Die Lücke zwischen Hochschulreife und Studienbeginn ist größer geworden. Dieses Problem lösen wir nur gemeinsam – und nicht durch Schuldzuweisungen.
Torsten-Karl Strempel, Mathematik-Professor und Wahl-Waschenbacher, lehrt seit 2011 an der Hochschule Darmstadt. Seine Schwerpunkte sind mathematische Grundlagen, numerische Mathematik und Mathematik und Physik im Export.
An der h_da organisiert Strempel regelmäßig Veranstaltungen wie das Forum Mathematik, außerdem unterstützt er Studienanfänger mit Angeboten wie MatheFit beim Einstieg ins Studium und vertritt die h_da beim jährlichen Fachbereichstag Mathematik. Er ist Mitorganisator des Oberstufen-Wettbewerbs „Tag der Mathematik“ und der Tagung Forum Begabungsförderung Mathematik.
Außerhalb des Hörsaals ist Strempel begeisterter Radfahrer, Tischtennis- und Volleyballspieler. Für das „Darmstädter Echo“ gießt er regelmäßig Fragen rund um Ostern und Weihnachten in mathematische Formeln – zum Beispiel, wenn er erklärt, warum der Weihnachtsmannschlitten besser keine Räder hat…
impact: Woran genau hapert es beim Übergang von der Schule ins Studium?
Strempel: Früher haben fünf Prozent eines Jahrgangs studiert, heute sind wir bei 50 Prozent. Schule muss heute also im Wesentlichen auf das Studium vorbereiten. Aber auch für Ausbildungsberufe ist MINT- Wissen wichtig: Wer früher KFZ-Mechaniker war, ist heute Mechatroniker. Ein Maler oder eine Verputzerin hat heute mit sehr komplexen Materialien zu tun. Das Entscheidende ist deshalb, dass Schulen und Hochschulen miteinander reden. Im Gespräch ist zum Beispiel ein Mindestanforderungskatalog für den MINT-Bereich: Was müssen Schülerinnen und Schüler auf jeden Fall mitbringen? Das wäre sehr nützlich.
impact: Wie sind Sie eigentlich zur Mathematik gekommen, haben Sie sich schon als Kind den Kopf über die Geometrie des Ostereis zerbrochen?
Strempel: Nein, das war reiner Zufall. Ich komme aus einer Arbeiterfamilie. Als Kind habe ich zwischen Raumfahrer und Rennfahrer geschwankt. Mein Onkel hat mir dann aber irgendwann Fischertechnik geschenkt, das hat mich geprägt. Später hatte ich einen Team-Kollegen im Handball, der an der TU Darmstadt studiert hat. Ich habe dann Mathe und Physik studiert und eine Gruppe von Leuten kennengelernt, mit denen das Lernen Spaß gemacht hat. So etwas ist entscheidend: Wenn Studierende eine gute Gruppe finden, laufen sie.
impact: Und ein bisschen Spaß in der Vorlesung darf auch mal sein…?
Strempel: Ich hoffe! Ich versuche eine freundliche Atmosphäre zu schaffen. Gerade letztes Semester hatte ich so ein Paradebeispiel: Ein Student hat beim Vorrechnen an der Tafel irgendwie nicht mitgezogen. Ich habe aber mitbekommen, wie er einem anderen Studenten aus seiner Gruppe die Lösung perfekt erklärt hat, und habe dann etwas spöttisch angemerkt, er sei offenbar nur zu faul, es vorne vorzurechnen. Ein anderer Student hat mir dann erklärt, sie seien eben wie Diamanten: Die entstehen nur unter Druck. Das ist und bleibt jetzt meine „Diamantengruppe“.
impact: Wir hatten es vorhin schon vom Weihnachtsbaum. Sie schreiben jedes Jahr die mathematische Weihnachtsgeschichte fürs Darmstädter Echo. Können Sie uns schon verraten, welches Problem der Weihnachtsmann dieses Jahr lösen muss?
Strempel: Dieses Jahr kümmert sich der Weihnachtsmann wahrscheinlich um das Verpacken von Geschenken. Damit haben wir uns noch nicht im Detail befasst... (lacht)
Kontakt zur Wissenschaftsredaktion
Christina Janssen
Wissenschaftsredakteurin
Hochschulkommunikation
Tel.: +49.6151.533-60112
E-Mail: christina.janssen@h-da.de
Fotografie: Samira Schulz
Links
Strempels Feiertagsformeln
Darmstädter Echo, 16.4.25: „Das Osterhasen-Geburtstagsparadox“
Darmstädter Echo, 22.12.24: „Warum der Weihnachtsmann-Schlitten besser keine Räder hat“
Darmstädter Echo, 13.12.23: „Wie der Weihnachtsmann Geschenke packt“
Darmstädter Echo, 17.4.22: „Von der Geometrie des Ostereis“