Vorschläge für ein faires Finanzsystem

Der Darmstädter Finanzmathematiker Professor Christoph Becker engagiert sich für einen fairen Finanzmarkt. Im Interview spricht er über die ungeheure Macht der Fonds, die Werbebriefe seiner örtlichen Bank – und darüber, wie er gern investieren würde.

Interview: Kilian Kirchgeßner, 24.6.2024

impact: Herr Becker, wie weit haben Sie es zu Ihrer nächsten Bankfiliale?

Prof. Dr. Christoph Becker: Die ist nicht weit weg, aber außer dem Automaten ist da niemand mehr. Mich befällt immer ein wenig Melancholie, wenn ich da reingehe und mich erinnere, dass da mal Leute saßen, die mit einem sprechen und die Lebensbedingungen vor Ort genau kennen, weil sie schließlich jeden Tag die gleiche Straße entlanggehen.

impact: Das hört sich jetzt sehr nach einer Verklärung der Vergangenheit an.

Becker: Nein, es ist etwas anderes: Ich bin überzeugt davon, dass regionale Finanzstrukturen sehr wichtig sind. Für eine regional verwurzelte Bank ist das Wohl und Wehe der Region und der dort lebenden Kunden die unmittelbare Geschäftsgrundlage. Sie gewähren den Unternehmen aus der Nachbarschaft Kredite und unterstützen damit die Entwicklung der eigenen Region. Wenn hingegen ein großer globaler Fonds Kredite vergibt, dann ist das für ihn bloß eine von vielen Investitionsgelegenheiten. Das Wohlergehen der Region sinkt für ihn zu einem Risikomanagementproblem ab. Das ist zu wenig, finde ich.

impact: Moment: Sagen Sie, dass globale Fonds mit den lokalen Banken konkurrieren?

Becker: Dahinter steht eine schleichende Änderung – weg von einem Finanzsystem, das auf den Banken basiert, und hin zu einem kapitalmarktbasierten System. Schauen wir nochmal in die Vergangenheit: Wer Geld anlegen wollte, hat das bei seiner örtlichen Bank getan, die aus den Einlagen wiederum Kredite an örtliche Firmen und an Häuslebauer vergeben hat. Das war ein Verhandeln auf Augenhöhe.

impact: Und heute?

Becker: Heute zahlt der Bürger Geld in verschiedene Fonds ein: in Pensions- und Investmentfonds zum Beispiel. Dahinter stecken sehr komplexe Strukturen, in denen das Geld über Firmengeflechte durch etliche Länder läuft und bei denen nicht nachvollziehbar ist, wo es rauskommt. Diese Fonds wiederum müssen das Geld ja auch anlegen, aber sie sitzen auf solchen unvorstellbaren Summen, dass ein einzelner Kreditnehmer für eine Eigentumswohnung in Darmstadt oder auch ein hiesiger Mittelständler kaum ins Gewicht fällt. Aber das sollte man den globalen Fonds nicht übelnehmen: Globale Strukturen als solche sind mit derartigen individuellen Themen allzu leicht überfordert; sie können es schlicht nicht leisten. Wenn wir überhaupt jemanden anklagen wollen, dann nur uns selbst. Wir selbst erschaffen oder unterstützen Strukturen, die sich am Ende ungeachtet des durchaus guten Willens aller Beteiligten gegen uns richten.

impact: Aber eine Privatperson kann doch gar nicht bei einem internationalen Fonds einen Kredit beantragen.

Becker: Das stimmt. Üblicherweise läuft das so, dass zum Beispiel Banken kleine bis mittelgroße Kredite vergeben  und diese dann in eine große Kiste packen, bis sich das Kreditvolumen für große, institutionelle Anleger rechnet. Und diese gewaltigen Kisten, in denen die verbrieften Kredite zusammengefasst sind, werden dann gebündelt an Investoren verkauft. Da geht es also nicht mehr um die einzelne Firma, sondern um eine gebündelte Rendite-und Risikobetrachtung.

Zur Person

Christoph Becker ist Professor für Finanzmathematik und Stochastik an der Hochschule Darmstadt. Seine Forschungsinteressen sind Risikomanagement und Stabilität des Banken- und des Schattenbankensystems, die Weiterentwicklung des Finanzsystems zur Finanzierung der Energiewende sowie Finanzmarktökonometrie und Data Science. Christoph Becker arbeitete als Risikomanager bei der Commerzbank AG in Frankfurt. Er studierte Angewandte Mathematik an der Universität Trier und promovierte in Finanzmathematik an der Frankfurt School of Finance & Management. Becker ist Mitglied im Verein „Finanzwende“, der sich für nachhaltige Finanzmärkte einsetzt. Foto: h_da / Samira Schulz

impact: Was folgt daraus?

Becker: Zum einen wird die Macht ungeheuer konzentriert. Früher gab es viele dezentrale Banken, und die Entscheidung über Kreditvergaben ist bei denen gefallen. Heute sind es auf der ganzen Welt stetig weniger Fonds, die über die Vergabe von Krediten entscheiden. Aber es gibt noch einen anderen Punkt. Ein Finanzsystem, das der Gesellschaft authentisch dient, versucht gezielt Win-Win-Situationen zu schaffen. Eine kleine, regionale Bank könnte sich folgendes überlegen: Bei den Häusern meiner Kundschaft herrscht nach dem letzten Hochwasser großer Sanierungs- und damit Kreditbedarf. Damit es meiner Kundschaft auch morgen noch wirtschaftlich gut geht und sie mit mir Geschäfte macht, lohnt es sich für mich, besonders günstige, zweckgebundene Kredite für die Reparaturarbeiten zu vergeben. Alle Beteiligten haben etwas davon. Einige kleine, lokale Banken haben das in Deutschland kürzlich so gehandhabt. Globale Fonds tun das meines Wissens nach nicht. Und das ist nur logisch: Win-Win-Situationen kann man regional, vor Ort, schaffen. Mit der globalen Brille ist es viel schwieriger.

impact: Ist die Machtkonzentration, über die Sie sprechen, nicht eine natürliche Entwicklung? Wir beobachten sie ja beispielsweise auch im Handel, wo die Macht bei global agierenden Konzernen konzentriert ist und nicht mehr auf die vielen Einzelhändler irgendwo in der Fußgängerzone verteilt ist.

Becker: Ganz klar: Das ist die gleiche Art von Machtkonzentration. Im Einzelhandel ist das Problem aber viel sichtbarer, weil jeder im alltäglichen Leben mitbekommt, wenn wieder irgendwo ein kleiner Laden zumachen muss. Im Finanzsystem ist das abstrakter und deshalb im Alltag schwieriger zu bemerken. Deshalb will ich auch darauf aufmerksam machen.

impact: Jeder Verbraucher kann aber zum Beispiel entscheiden, ob er in nachhaltige Produkte investieren will.

Becker: Oh ja, ich bezeichne das gern als „Ideale zum Kaufen“. Aber im Ernst: Sie sprechen die sogenannten ESG-Produkte an, in denen die drei entscheidenden Nachhaltigkeitskriterien berücksichtigt werden, nämlich Umweltschutz (Environmental), soziale Gerechtigkeit (Social) und gute Unternehmensführung (Governance). Dahinter steht ein System, bei dem ein Investmentfonds alle Firmen, in denen er sich engagiert, nach bestimmten Kriterien bewertet. Es gibt also gewissermaßen Punkte für gutes Verhalten, und an die Punktezahl ist gebunden, ob und zu welchen Konditionen man Zugang zu einem Kredit bekommt.

impact: Was ist daran schlecht, wenn Nachhaltigkeit zu einem Kriterium wird?

Becker: Ganz einfach: Es gibt keine einheitlichen Maßstäbe für dieses ESG-Ranking. Manche Fonds beziehen da sogar Fragen nach der Fluktuation von Mitarbeitern oder der Zahl von anhängigen Prozessen vor dem Arbeitsgericht mit ein. Es ist reine Willkür, was wie gemessen wird. Mich erinnert das immer an das chinesische System, bei dem Bürger Sozialpunkte bekommen, wenn sie sich verhalten, wie erwünscht. Dahinter steckt eine akute Gefährdung von Selbstbestimmung und individueller Freiheit. Und noch eins ist auffällig…

impact: …nämlich?

Becker: Warum sollte ausgerechnet das Finanzsystem besonders befähigt sein, Nachhaltigkeit bewerten oder durchsetzen zu können? Nehmen Sie als ein besonders extremes Beispiel unter denen, die im Finanzsystem aktiv sind: die Hedgefonds. Hedgefonds sind typischerweise in einer Steueroase registriert. Deutlicher kann man doch gar nicht ausdrücken, dass einem die Spielregeln der zivilisierten Gesellschaft egal sind.

impact: Heißt das im Umkehrschluss, wir sollten die globalen Finanzstrukturen abschaffen?

Becker: Nein, natürlich brauchen wir die auch. In den meisten Fällen sind aber lokale Strukturen überlegen. Wir müssen also weg von der Machtkonzentration und hin zu einem Finanzsystem, das die individuelle Freiheit fördert. Die Lösung ist eine gezielte, wohldosierte Regionalisierung von Finanzbeziehungen.

impact: Also wieder zurück zu den Filialbanken der 1960er Jahre?

Becker: Nein, so einfach ist das nicht! Die Welt hat sich in den vergangenen Jahrzehnten schließlich weitergedreht, wir können nicht heute mit Lösungen von vorgestern kommen. Demnächst halte ich einen Vortrag vor Zentralbankern, die mich eingeladen hatten, um über Ideen für die Stabilisierung des Kapitalmarkt-basierten Finanzsystems zu sprechen. Und ich möchte ihnen sagen: Bitte denken Sie über die Einführung regionaler Pensionsfonds nach! Da reicht ja eine grobmaschige Aufteilung, etwa in Deutschland Nord, Süd, Ost und West. Groß genug, dass der Fonds sich rechnet, klein genug, um den Menschen hinter der Investition noch sehen zu können. Das kann viel zur Fairness im Finanzsystem beitragen, und alle Gewinne, die damit erwirtschaftet werden, bleiben in diesen Regionen.

impact: Die müsste aber erstmal jemand gründen und organisieren, das ist aufwendig.

Becker: Das Finanzsystem zu ändern, ist ein Projekt für 20 oder 30 Jahre. Falls Sie schon einmal anfangen möchten, habe ich hier einen Vorschlag: Vor einigen Wochen habe ich einen Werbebrief von meiner Sparkasse bekommen, der Betreff lautete: „Wir für Sie in der Region. Unsere Investment-Tipps.“ Und was stand drin? Ein Hinweis auf einen Fonds auf diesen oder jenen amerikanischen Index. Ja hat die Sparkasse denn nichts Besseres anzubieten?

impact: Wie würden Sie denn stattdessen gern investieren?

Becker: Ich bin mir sicher, dass man in jeder Region sinnvolle Projekte findet – und dass die Bürger begeistert wären von der Möglichkeit, da einzusteigen. Ich erinnere mich an eine Anleihe an der Börse in München, über den sich Bürger an einem städtischen Projekt zur Förderung von bezahlbarem Wohnraum beteiligen konnten. Oder ein anderes Beispiel: In Baden-Baden wurde ein Park-and-Ride-Parkplatz mit Solarpanels überdacht. Die Autos darunter haben Schatten, die Dächer liefern Energie. Um das Projekt zu finanzieren, hat die Sparkasse eigene Wertpapiere an die Bürger vor Ort verkauft. Der Bank wurden die Wertpapiere regelrecht aus den Händen gerissen! Ich habe also in meiner Sparkasse angerufen und gefragt, ob sie etwas Vergleichbares im Angebot haben. Die Reaktion: Verblüffung – und Aufgeschlossenheit für die Idee.

impact: Und jeder Anleger kann jeden Tag dort parken, wo er investiert hat.

Becker: Genau! Und plötzlich entwickelt sich Ihr Verhältnis zum Geld weiter, ganz schleichend. Geht es ausschließlich um Renditemaximierung und um Konsummaximierung, und sonst um nichts? In diesem Fall investiere ich mein Geld und warte passiv auf die pünktliche Zahlung meiner hoffentlich hohen Rendite. Wie der andere Mensch das für mich bewerkstelligt, kümmert mich nicht. Wie auch, ein globales Finanzsystem macht den anderen Menschen für mich unsichtbar. Und so wird der andere Mensch zum Erfüllungsgehilfen meines Renditeanspruchs, ich degradiere ihn zum Objekt.

impact: Was ist die Alternative?

In einem regionalen Fonds gibt es vielleicht auf einmal ein Projekt, das mich als Menschen etwas angeht: von dem ich selbst profitiere, mit dem ich meine Region unterstütze, im besten Fall sogar die Akteure kenne. Ich erziele Rendite, aber tue dabei etwas für die Entwicklung in meiner Region und weiß genau, was mit meinem Geld passiert. Ich möchte die Idee des regionalen Investierens nicht übermäßig idealisieren, aber wenn Sie mehr Fairness und langfristiges Denken in das Finanzsystem einbauen möchten, dann kann eine wohldosierte Regionalisierung Ihnen genau das Angebot dazu liefern. Sie können das Angebot annehmen - oder eben nicht. Wenn nicht, dann maximieren wir eben weiterhin ganz einseitig die eigene Rendite, machen damit unsere Erfahrungen, und plagen einander ganz unnötig. Ich persönlich finde: Wir haben mit der einseitigen Betonung globaler Finanzstrukturen genug schlechte Erfahrungen gemacht und sollten diese Finanzstrukturen weiterentwickeln.

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