Logistik zwischen Biergarten und Biowarenlager

Wie können Lieferketten nachhaltiger gestaltet werden? Damit haben sich 30 Studierende aus Italien, Frankreich, Bulgarien und Darmstadt bei einem Blended Intensive Programme im Rahmen der europäischen Hochschulinitiative EUT+ beschäftigt. Unter der Regie zweier h_da-Logistik-Professorinnen haben die Teilnehmenden ein Semester lang zunächst online miteinander gearbeitet und sind nun bei einer Intensiv-Woche in Darmstadt ins Finale gegangen. Gewachsen sind sie nicht nur fachlich, sondern auch in ihrer Englischkompetenz.

Von Alexandra Welsch, 9.7.2024

Der Sommer zeigt sein verregnetes Gesicht. Erbarmungslos nieselt es von einem grauen Wolkenhimmel, noch dazu bei 16 Grad Kühle. Ob Bäume, Büsche, Biergarnituren oder Sonnenschirme – alles betröpfelt und nass. Auch stimmungsmäßig brennt auf den ersten Blick nicht gerade die Hütte im Herrngartencafé in Darmstadts zentralem Stadtpark. Bei schönem Wetter wären jetzt sämtliche Tische besetzt zum Public Viewing für die Fußball-Europameisterschaft. Heute ist so gut wie niemand da. Doch ganz am Rande sitzt eine schulklassengroße Gruppe junger Menschen zusammen zwischen flimmernden TV-Großbildschirmen und macht einen fidelen Eindruck.

Aus Italien erstmals zu Gast in Deutschland

„Ich finde es besser als bei uns“, kommentiert Vanessa Petrarca, Studentin von der italienischen Universität von Cassino und Lazio Meridionale (UNICAS), das Wetter mit einem fröhlichen Lächeln. „Besser, als wenn es heiß wäre“, ergänzt Kommilitonin Aisaltan Emil und denkt da an die Hitze, aus der sie vor ein paar Tagen hergeflogen sind. Bedeutsamer ist für die jungen Frauen dabei aber ohnehin, dass sie zum ersten Mal in Deutschland sind – als Teilnehmerinnen der Semesterabschlusswoche im Rahmen eines Blended Intensive Programm (BIP) unter dem Dach des europaweiten Hochschulnetzwerks EUT+.

„Nachhaltiges Lieferketten-Management und Logistik“, so ist das BIP überschrieben, das am Fachbereich Wirtschaft der Hochschule Darmstadt unter der Regie der Logistik-Professorinnen Johanna Bucerius und Monika Futschik organisiert wurde. Bezuschusst vom Förderprogramm Erasmus+ der Europäischen Union, haben mehr als 30 Studierende der seit 2020 zusammenwachsenden Hochschulinitiative "European University of technology“ (EUT+) teilgenommen. Neben einer größeren Gruppe erstmals aus Italien sind Kommilitonen der Partnerhochschulen „Université de technologie de Troyes“ in Frankreich und „Technical University Sofia“ in Bulgarien dabei sowie Studierende der h_da.

„Ich finde den Grundansatz wirklich gut“, begründet Professorin Futschik, Auslandsbeauftragte an ihrem Fachbereich, warum sie sich im Rahmen des Verbunds engagiert. „Eine europäische Uni mit verschiedenen Campussen, das ist eine so geniale Idee!“ Und gerade wegen der europäischen Verortung biete sich das Thema nachhaltige Logistik auch aus aktuellem Anlass an: Seit Januar 2023 sei es EU-weit für alle Unternehmen mit mehr als 250 Mitarbeitern verpflichtend, eine Treibhausgasbilanz vorzulegen. „Und in unserem BIP-Projekt lernen die Studierenden, wie man eine Kohlendioxid-Berechnung für logistische Prozesse macht.“

Wie nachhaltig kann man nach China liefern?

Der größte Teil lief das Sommersemester über in Online-Treffen ab. Zunächst haben die beiden deutschen Professorinnen sowie ihr Kollege Murat Afsar von der französischen Université de technologie de Troyes das nötige Fachwissen vermittelt. Dann haben sich die Studierenden in gemischten Gruppen mit Lieferketten über mehrere Länder befasst. Dies geschah in Form konkreter Fallstudien für eine exemplarische Getriebebau-Firma in Darmstadt, die Teile für einen Industriekunden in China herstellt. Mit Fokus auf CO2-Emissionen spielten die Studierenden mit verschiedenen Parametern, wie etwa Verkehrsträger, Antriebsarten oder Routen.

„Wir nutzen dafür eine Software unseres Darmstädter Partnerunternehmens AEP Solutions, mit der man den CO2-Fußabdruck berechnen kann“, erläutert Monika Futschik. „Durch die Kombination von manuellen Berechnungen von Treibhausgasemissionen und die Verwendung der Simulationssoftware konnten die Studierenden eine Vielzahl verschiedener Lösungsszenarien schnell durchsimulieren“, ergänzt ihre Kollegin Johanna Bucerius. Zum Abschluss der Intensiv-Woche in Darmstadt präsentierte jede Gruppe Kalkulationen für zwei Lieferketten und Vorschläge, wie man sie im Sinne der Nachhaltigkeit optimieren kann.

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Im verregneten Biergarten indes ist Logistik-Professorin Futschik mehr mit der Lieferkette für Essen und Getränke beschäftigt. Auf einen Zettel haben die Studierenden Essensbestellungen geschrieben, die schwungweise an der Ausgabe auflaufen. Da packt die Professorin – „euer Essen ist fertig“ – auch mal selbst an, um Teller an Tische zu tragen. Hungrig macht sich der europäische Logistiknachwuchs dann über Schnitzel mit Pommes, Handkäs mit Musik oder Gulasch mit Spätzle her. Das derweil laufende EM-Spiel Holland gegen Rumänien findet hingegen wenig Beachtung.

Beeindruckt von Merck und deutscher „Organisiertheit“

Zu blöd, dass Italien ausgeschieden ist. Daran knappst Vanessa immer noch ein bisschen herum, die dem EM-Aus ihrer italienischen Mannschaft zwei Tage zuvor hier live bewohnte. „Ich hab‘ mich so geschämt“, sagt die quirlige Italienerin. Ihrer Freude an der Darmstadt-Woche tut das aber keinen Abbruch. „Alles hier ist so gut organisiert und strukturiert“, lobt nicht nur sie. „Das Wissen über Lieferkettenmanagement ist sehr stark hier“, wirft Kommilitonin Zhuldyz Gabbassova ein. Begeistert waren sie auch vom Besuch beim internationalen Chemiekonzern Merck in Darmstadt und der Begegnung mit dessen oberster Nachhaltigkeitsmanagerin Kristin Balk. „Die denken groß, das ist sehr beeindruckend“, findet Aisaltan. „Das Unternehmen war wie eine Stadt“, zeigt sich auch Vanessa beeindruckt. „Und alles ist so systematisch.“

Diese Erkenntnis winkt auch am nächsten Tag bei einer Führung im Verteilzentrum des Bio-Lebensmittelhändlers Alnatura in Lorsch. Ausstaffiert mit grünen Sicherheitswesten und aufgeschnallten Schutzkappen über den Schuhen laufen die EUT+-Studis entlang gelber Bodenlinien wohlgeordnet wie eine kleine Ameisenstraße durch die riesige Lagerhalle. Ein Hauch von Abbey Road liegt in der Luft, während die Besucherschlange im Gänsemarsch etliche Zebrastreifen quert. Und spätestens bei den Haltepunkten heißt es dann: staunen. Besonders im Hochregallager. 20 Meter hoch reichen die Regalwände mit insgesamt 32.000 Stellplätzen für Lebensmittelpaletten, vollautomatisiert werden sie von Regalbediengeräten oder Roboterarmen gehoben und über Rollenförderbänder zum Warenausgang gefahren.

Wie nachhaltig das ist, wird ebenfalls deutlich. „Es ist das europaweit größte Lagerhaus aus Holz“, betont Judith Büttner, fachliche Assistentin des Bereichsverantwortlichen der Logistik. Man brauche weder Heizung noch Kühlung, weil das Gebäude 2,50 Meter tief in den Boden gesetzt wurde und einen natürlichen Kühleffekt nutzt. „Das spart eine Menge Energie.“ Und das gilt bis hin zum Warenausgang, wo sich die Förderbänder mit Gefälle zum Boden absenken und die Paletten daher ohne Strombedarf herabrollen.

„Nachhaltigkeit ist die Zukunft“

„Nachhaltigkeit ist die Zukunft“, so bringt es Petar Stoev von der bulgarischen Partneruni im Anschluss an den Rundgang auf den Punkt. Und erzählt im nächsten Atemzug, warum er als Student des IT-Managements bei dem Blended Intensive Programme dabei ist und damit auch erstmals in Deutschland: Er möchte später eine eigene Software-Firma gründen und hier könnte er viele Eindrücke und Impulse aus der Praxis mitnehmen – auch in puncto Nachhaltigkeit, was längst ein relevanter Marktfaktor sei.

Den starken Praxisbezug lobt auch Benguagu Khaoula von der UTT im französischen Troyes: „Unser Studium ist sehr theoretisch, und hier sehen wir mit eigenen Augen, wie das umgesetzt wird, und verstehen besser, was man studiert.“ Besonders klasse sei, dass innerhalb der Intensiv-Woche allein vier Exkursionen zu Unternehmen anstehen, BASF zum Abschluss inklusive. Das BIP sei für sie auch wegen des überschaubaren Zeit- und Geldaufwands über nur ein Semester mit Online-Kursen und einer nur einwöchigen Reise attraktiv. „Das macht die Teilnahme für mich einfacher.“

Viel davon nehmen auch die Studierenden von der h_da mit. „Nachhaltigkeit ist ein wichtiges Thema, kommt aber im Grundstudium wenig vor“, sagt Logistik-Studentin Lea Tabeling. Und wie sie sich hier mit der Berechnung von Kohlendioxid beschäftigt haben, „das konnten wir jetzt schon in anderen Modulen anwenden“, ergänzt Marta Petrovska. Und dass das BIP – im Gegensatz zu ihrem alltäglichen Studium – komplett auf Englisch ablief, hat sie auch in Sachen Sprachskills relevant weitergebracht. Denn ohne die zentrale Sprache der Weltwirtschaft kommt man in der globalen Logistik nicht weit.

Kontakt zur h_da-Wissenschaftsredaktion

Christina Janssen
Wissenschaftsredakteurin
Hochschulkommunikation
Tel.: +49.6151.533-60112
E-Mail: christina.janssen@h-da.de

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