Derzeit leben in Deutschland rund 1,8 Millionen Menschen mit Demenz, die meisten von ihnen sind an Alzheimer erkrankt. Prognosen zufolge werden die Zahlen deutlich steigen, sofern in den nächsten Jahren kein medizinischer Durchbruch gelingt. Immerhin: Im vergangenen Jahr wurde in den USA ein erstes Medikament zugelassen, das gezielt die für Alzheimer charakteristischen Proteinablagerungen im Gehirn angreift. Allerdings hilft der neue Wirkstoff nur, wenn die Krankheit früh entdeckt wird. Genau hier setzt ein Team vom Fachbereich Mathematik und Naturwissenschaften der Hochschule Darmstadt an: In einem von der EU geförderten Projekt arbeiten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der h_da gemeinsam mit Partnern in den Niederlanden, Großbritannien und Deutschland an neuen Methoden in der Alzheimer-Diagnose. Ihr Ziel ist es, die Krankheit früher erkennen und erfolgreicher behandeln zu können, sobald entsprechende Medikamente auf den Markt kommen.
Von Christina Janssen, 14.3.2024
„Wehret den Anfängen!“ könnte man das Forschungsprojekt überschreiben, das allerdings mit einem geringfügig sperrigeren Titel daherkommt: „Arterial spin labelling Scanner- and Patient-Independent Robust diagnostic Evaluation“, kurz ASPIRE. Das Projekt zielt darauf ab, langfristig die Therapiechancen für Alzheimer-Patient*innen zu verbessern. Es geht also um etwas, worauf Millionen Menschen hoffen – Erkrankte wie Angehörige. Für das Projekt zusammengetan haben sich Physikprofessor Johannes Gregori und der Mathematikprofessor Andreas Weinmann. Zu ihrem Team gehören Doktorandin Chiara Schmidt, Master-Student Ben Isselmann und Master-Student Jakob Seeger. In dem von der EU geförderten Projekt kooperieren sie mit dem Universitätsklinikum Amsterdam, dem Heidelberger Unternehmen mediri, das sich auf medizinische Bildgebung spezialisiert hat, und dem britischen Medizintechnik-Hersteller Gold Standards Phantoms.
Die Forschenden haben sich vorgenommen, die Alzheimer-Diagnostik neu auszurichten. Heute wird die Krankheit meist – zusätzlich zu kognitiven Tests sowie Labortests auf das Auftreten krankheitsspezifischer Proteine – durch klassische MRT-Aufnahmen des Gehirns diagnostiziert. Dieses Standard-Verfahren bildet den Status quo des Gehirns ab. Eine zuverlässige Methode, aber noch nicht das Optimum, meinen die Darmstädter Wissenschaftler: „Veränderungsprozesse im Gehirn erkennt man auf diese Weise erst recht spät“, erläutert Prof. Dr. Johannes Gregori. „Wenn man sich dagegen schon zu einem früheren Zeitpunkt Veränderungen im Stoffwechsel oder der Durchblutung des Gehirns ansieht, hat man eine Chance, die Krankheit früher zu entdecken.“
Untersuchungen ohne Kontrastmittel
Das Forschenden-Team der h_da beschäftigt sich deshalb intensiv mit zwei anderen Diagnose-Verfahren. Eines ist die Positronen-Emissions-Tomographie (PET). In der untersuchten Variante macht es Veränderungen im Blutzucker-Stoffwechsel des Gehirns sichtbar, die schon sehr früh auf eine Alzheimer-Erkrankung hindeuten können. Die Methode ist bereits etabliert, die Untersuchung geht aber mit körperlichen Belastungen einher, weil dafür ein leicht radioaktives Kontrastmittel verabreicht werden muss. Und sie ist teuer: rund 700 US-Dollar pro Scan. Im Gegensatz dazu hat die zweite Methode, die Gregori, Weinmann & Co. im Blick haben, große Vorteile: Das „Arterial Spin Labelling“ (ASL), das auch im Projekt-Titel auftaucht, ist um ein Vielfaches billiger, kommt ohne Kontrastmittel aus und kann ebenfalls früh Hinweise auf eine Erkrankung liefern. ASL ist eine spezielle Variante des MRT, bildet aber keinen statischen Zustand ab, sondern die Veränderungen des Blutflusses im Gehirn: Wie viel Blut fließt rein und raus – und wie schnell? Auch diese Parameter können Indikatoren für eine sich anbahnende Alzheimer-Erkrankung sein.
Es ist diese bislang noch wenig genutzte Methode, die in Kombination mit einem KI-System zum neuen „Gold-Standard“ in der Alzheimer-Diagnostik werden könnte. „An gesunden Personen oder Patienten ohne Symptome würde man teure und belastende Untersuchungen im Normalfall nicht machen“, sagt Physiker Gregori. „Die deutlich günstigeren ASL-Untersuchungen könnten dagegen sogar Bestandteil routinemäßiger Screening-Untersuchungen in jüngeren Jahren werden.“ Noch gibt es bei Alzheimer keine Hoffnung auf eine Heilung, es wird aber weltweit an Wirkstoffen geforscht. Leqembi bzw. Lecanemab, das 2023 in den USA für die Alzheimer-Therapie zugelassen wurde, kann das Fortschreiten der Erkrankung in einem frühen Krankheitsstadium verzögern. Je mehr Medikamente dieser Art auf den Markt kommen, desto entscheidender wird der möglichst frühe Diagnosezeitpunkt. „Sobald eine wirksame Alzheimer-Therapie verfügbar ist, muss man möglichst frühzeitig die Krankheit entdecken können, um dann die Behandlung zu beginnen. Daran arbeiten wir. Auch wenn das im Moment für die allermeisten Betroffenen noch ferne Zukunft ist.“
KI unterstützt bei der Diagnose
Doch wie früh ist ‚möglichst früh‘? „Sechs Jahre“, sagt Professor Gregori. „Schon sechs Jahre vor der finalen Diagnose kann es Hinweise darauf geben, dass sich mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Alzheimer-Erkrankung entwickeln wird.“ Möglich macht das schon heute die KI-gestützte Auswertung der oben beschriebenen PET-Bilder. Dasselbe oder ein noch besseres Ergebnis strebt das h_da Team nun mit den gesundheits- und kostenschonenden ASL-Scans an. „Und es wird spannend zu sehen, ob wir das hinbekommen“, sagt Gregori.
Konkret möchte das h_da-Team erreichen, dass ASL-Bilder genauso zuverlässige Alzheimer-Diagnosen liefern wie die heutigen Standard-Methoden. Das ist aus verschiedenen Gründen eine Herausforderung. Ben Isselmann und Jakob Seeger, die im Projekt für die Beschaffung und technische Aufbereitung immenser Mengen an Bilddaten verantwortlich waren, beschreiben die Ausgangslage so: „ASL-Bilder sind nicht so leicht zu bekommen, weil die Methode noch relativ neu ist. Außerdem müssen diese Bilder aufwändig vorverarbeitet werden, damit wir sie nutzen können.“ Denn im Vergleich zu anderen Methoden, sind die Mess-Schwankungen bei ASL sehr hoch. Das heißt, bei verschiedenen Aufnahmen vom selben Patienten können die Bilder sehr unterschiedlich aussehen: „Ob jemand vor der Untersuchung Kaffee trinkt oder raucht, sich bewegt oder nicht macht Unterschiede in der Durchblutung.“ Umso komplexer ist es, aus den Daten die für Alzheimer typischen Merkmale herauszulesen.
Wissenschaftliches Neuland
„Deshalb kommt hier die Künstliche Intelligenz ins Spiel“, erklärt Doktorandin Chiara Schmidt. Das Prinzip: Die KI erkennt in Bildern die für eine Alzheimer-Erkrankung charakteristischen Muster und macht auf dieser Basis einen Diagnose-Vorschlag – Alzheimer, nicht Alzheimer oder eine Zwischenform. Das vom h_da-Team entwickelte und mit immensen Mengen an Datensätzen trainierte KI-System erledigt diese Aufgabe mit MRT- und PET-Daten bereits sehr gut. Ein erster Erfolg für die Darmstädter Wissenschaftler*innen. „Der nächste Schritt ist die Übertragung dieser Leistung auf die ASL-Daten“, berichtet Chiara Schmidt. „Das ist der Punkt, an dem wir uns auf wissenschaftliches Neuland begeben – und wo die größte Herausforderung liegt.“
Wissenschaftliches Neuland bedeutet auch: Das Team arbeitet mit Technologie auf höchstem Niveau. „Wir nutzen ein sogenanntes Transformer-Modell“, erläutert KI-Experte Andreas Weinmann. „Das ist der letzte Schrei, also wirklich ein ‚Up-to-date-Modell‘. Die Ergebnisse, die es liefert, sind vergleichbar und teilweise besser als das, was medizinisch State of the Art ist. Ich sehe nicht, wie das mit klassischen Methoden erreichbar ist.“
„Explosion an Methoden“
Der „Transformer“, den die Forschenden nutzen, analysiert Bilder mit ähnlicher Methodik wie ChatGPT Texte erzeugt – oder auch wie das Programm DALL-E, das aus gesprochenen Sätzen Bilder generiert. „Die erste Revolution in diesem Bereich waren neuronale Netzwerke auf Basis sogenannter Falt-Module. Diese sind schneller, aber nicht so präzise wie Transformer. Die Falt-Module basieren auf Ansätzen, die früher in der klassischen Bildverarbeitung verwendet wurden,“ erläutert Andreas Weinmann. „Jetzt erleben wir mit den neuen Transformern auf Basis sogenannter ‚Attention-Module‘ die zweite Revolution: Diese Transformer brauchen zwar mehr Rechenleistung und sind langsamer, dafür aber genauer.“ Die technologische Entwicklung vollziehe sich gerade im Zeitraffer, fügt der Mathematiker hinzu. „Die Neuerungen überschlagen sich. Auf der einen Seite ist fantastisch, was innerhalb von kürzester Zeit an neuer Methodik entsteht. Auf der anderen Seite ist es schwierig, auf dem Laufenden zu bleiben. Das ist eine Explosion an Möglichkeiten, eine ganze blühende Welt.“
In dieser „blühenden Welt“ haben Ben Isselmann und Jakob Seeger ihre Begeisterung für das Thema Computer Vision entdeckt und möchten nach dem Master-Abschluss im Bereich medizinische Bildverarbeitung weiterarbeiten. Doktorandin Chiara Schmidt hatte ursprünglich nicht an eine Promotion gedacht, freut sich jetzt aber über die Chance, das Alzheimer-Projekt an der h_da voranzubringen: „Das ist ein wichtiges, vielversprechendes Thema und ich bin gespannt, wie es weitergeht. Wir haben unsere Pläne. Ob sie in der Praxis funktionieren, muss sich zeigen. Ich bin aber optimistisch, dass es klappt.“ Die ersten Ergebnisse präsentiert das h_da-Team auf der internationalen wissenschaftlichen Fachtagung ISMRM im Mai in Singapur. Weitere Ergebnisse wurden bereits eingereicht, geplant ist eine Präsentation im Oktober auf der Konferenz MICCAI in Marokko. Mathematiker Weinmann bringt die Zusammenarbeit so auf den Punkt: „Das ist einfach ein wahnsinnig schönes Projekt.“
Kontakt zur h_da-Wissenschaftsredaktion
Christina Janssen
Wissenschaftsredakteurin
Hochschulkommunikation
Tel.: +49.6151.533-60112
E-Mail: christina.janssen@h-da.de
Studiengänge
Projekt-Team
Prof. Dr. Johannes Gregori auf LinkedIn
Prof. Dr. Andreas Weinmann: Website
mediri: mediri.com/
Universitätsklinikum Amsterdam: www.amsterdamumc.org/en.htm
Gold Standard Phantoms: goldstandardphantoms.com/
EU-Förderlinie Eurostars: www.eurostars.dlr.de/
Weiterführende Links
Deutsche Alzheimer Gesellschaft:
Neue Zahlen zur Demenz
Alzheimer Forschung Initiative:
Neues Alzheimer-Medikament
DER SPIEGEL, 7.7.2023:
Therapie mit Antikörpern