Stark im Sturm

Geschätzt fünf Millionen Kinder und Jugendliche wachsen in Deutschland mit einem psychisch- oder suchtkranken Elternteil auf. Sie müssen oft früh in der Familie Verantwortung übernehmen und sind durch die Krankheit von Mutter oder Vater vielen Belastungen ausgesetzt. „Meist sind sie die nächste Generation, die auch krank wird“, weiß Yvonne Grimmer, h_da-Professorin für Sozialmedizin und Gesundheitswissenschaften. Die Medizinerin hat daher die Initiative „Stark im Sturm“ gegründet, die in Baden-Württemberg schon erfolgreich arbeitet. In fünf Kliniken kümmern sich dort Familien- und Kinderbeauftragte ebenfalls um den Nachwuchs der Patientinnen und Patienten. Ein präventiver Ansatz, den Grimmer auch in Hessen umsetzen will.
Von Astrid Ludwig, 24.4.2025
21 Jahre hat Yvonne Grimmer als Ärztin und Oberärztin in der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim gearbeitet, davon zehn Jahre auch in der Ambulanz. Sie weiß genau, dass auch die Kinder leiden, wenn die Eltern krank sind. Im Oktober vergangenen Jahres wechselte die Humanmedizinerin als Professorin für Sozialmedizin und Gesundheitswissenschaften an den Fachbereich Soziale Arbeit der Hochschule Darmstadt. „21 Jahre habe ich Kinder aus dem Fluss gefischt. Jetzt war es Zeit flussaufwärts zu ziehen und nach dem Grund zu suchen, warum die Kinder in den Fluss fallen“, erklärt sie ihren Wechsel. Sucht, so die Medizinerin, kann über Generationen weitergegeben werden. Wachsen Kinder und Jugendliche in einer Familie auf, in der ein Elternteil psychisch krank oder suchtkrank ist, haben sie statistisch gesehen ein drei- bis vierfach erhöhtes Risiko im Laufe ihres Lebens selbst krank zu werden.
Früh Hilfe in die Familien bringen
„Ich will vermeiden, dass diese Kinder später meine Patienten*innen werden“, sagt Grimmer. Die Kinder- und Jugendpsychiaterin hat daher 2018 das Projekt „Stark im Sturm“ gegründet. Das war in Mannheim während ihrer Zeit am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit. Mit dem Wechsel nach Darmstadt hat sie diese Initiative auch an die h_da und nach Hessen getragen. Die Hochschule ist seit Oktober 2024 eine der Kooperationspartner*innen der Initiative und hat 50 Prozent der Stelle von Yvonne Grimmer bis 2027 „Stark im Sturm“ zugewiesen. Auf diese Weise kann die Professorin am Fachbereich Soziale Arbeit der h_da als Sozialmedizinerin und Gesundheitswissenschaftlerin den Blick künftiger Sozialarbeiter*innen für gerade diese junge Klientel schulen und zugleich die Initiative weiteraufbauen.

Ziel von „Stark im Sturm“ ist die Prävention. „Wir wollen früh Hilfe direkt in die Familien bringen.“ Kinder von Eltern mit psychischen Problemen oder einer Suchtkrankheit haben nicht die gleichen Chancen wie Jungen und Mädchen aus einem intakten familiären Umfeld. Armut ist ein weiterer Faktor und „gleichbedeutend mit rund zehn Jahren weniger an Lebenserwartung“, sagt Prof. Grimmer. Schwache soziale Verhältnisse gehen meist einher mit einer schlechteren Wohnsituation, weniger Entfaltungs- und Spielmöglichkeiten oder auch einem geringeren Bewusstsein für gesunde Ernährung.
Sind Mütter oder Väter süchtig oder psychisch krank, müssen die Kinder meist schon früh Aufgaben in der Familie übernehmen. „Sie müssen oftmals kochen, einkaufen, Geschwister versorgen. Sie müssen viel Verantwortung übernehmen, fühlen sich damit allein gelassen und wissen nicht, an wen sie sich wenden sollen“, so die Erfahrung der Kinder- und Jugendpsychiaterin.
Während ihrer Mannheimer Zeit wurden jährlich rund 300 betroffene Eltern in der Klinik betreut. „Zuweisungen ihrer Kinder an uns gab es jedoch nur wenige.“ Der Blick sei in der Individualmedizin auf die Patienten verengt und nicht auf ihr Umfeld. Der Mensch werde nicht als Ganzes gesehen. „Es wird zu wenig auf die Kinder geschaut“, sagt Grimmer. Und auch die Eltern selbst trauten sich oftmals nicht, das anzusprechen - aus Scham oder Schuldgefühlen heraus. „Psychisch krank oder suchtkrank und zugleich gute Eltern zu sein, ist eine enorme Anstrengung. Daher ist es unsere Aufgabe, die Betreuung der Kinder anzusprechen.“
Erfolgreich an fünf Kliniken
Genau das hat sich die Initiative „Stark im Sturm“ zum Ziel gesetzt. Zusammen mit ihrer Kollegin Prof. Dr. med. Anne Koopmann, Fachärztin für Psychiatrie, hat Yvonne Grimmer in den vergangenen sieben Jahren ein Hilfsnetz für Baden-Württemberg aufgebaut. In fünf Kliniken – dem Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim, am Uniklinikum Heidelberg, der Klinik für Suchttherapie und Entwöhnung des Psychiatrischen Zentrums Nordbaden in Wiesloch, dem Zentrum für Psychiatrie Südwürttemberg sowie dem Klinikum am Weissenhof / Zentrum für Psychiatrie Weinsberg – konnte die Initiative festangestellte Familienbeauftragte etablieren. Möglich war das seit 2020 mit der finanziellen Hilfe durch die Dietmar Hopp Stiftung, die „Stark im Sturm“ in zwei Förderperioden bis 2027 mit rund 1,8 Millionen Euro unterstützt. 200.000 Euro kommen vom Sozialministerium Baden-Württemberg hinzu. Dank dieser Mittel werden die Stellen in den fünf Kliniken finanziert.
Die Familienbeauftragten konnten seither 197 ehrenamtliche Kinderbeauftragte an den Kliniken rekrutieren. Meist sind es Mitarbeitende aus den sozialen Diensten oder den Reihen des Pflegepersonals, die diese Aufgabe übernehmen. Es ist seither dort zur Pflicht geworden, schon bei der Aufnahme nach der Elternschaft zu fragen. Die Kinderbeauftragten sprechen alle Patienten*innen auf ihre Töchter oder Söhne an und bieten Hilfe an. „Der erste Gesprächstermin findet schon während der Behandlung in der Klinik statt, der zweite dann danach außerhalb. Wichtig ist, dass persönliche Kontakte schon geknüpft sind und die Betroffenen die Helfenden kennen“, betont die h_da-Professorin. Die fünf Familienbeauftragten schulen die Kinderbeauftragten, spinnen Netzwerke zur örtlichen Kinder- und Jugendhilfe, betreuen Kinderschutzfälle, bieten Workshops und Beratungen an.
Angebot auch in Hessen etablieren
„Es ist wichtig, die Kinder gleich von Anfang an mitzudenken. Wir müssen frühzeitig intervenieren“, betont Prof. Grimmer. „Das sollte eigentlich Normalität werden in allen Kliniken in Deutschland“, findet sie. Expertenschätzungen gehen davon aus, dass drei bis vier Millionen Kinder von psychisch kranken Eltern betroffen sind sowie nochmals rund zwei Millionen Mädchen und Jungen von suchtkranken Elternteilen. Hinzu kommt eine hohe Dunkelziffer. Die Notwendigkeit zu handeln hat auch der alte Bundestag noch erkannt, der im Januar 2025 einen gemeinsamen Antrag von SPD, CDU, Grünen und FDP beschloss, wonach die Prävention verbessert und Kinder psychisch und sichtkranker Eltern mehr unterstützt werden sollen. Prof. Grimmer hofft daher nun auf mehr Hilfen auch von Regierungsseite. In skandinavischen Staaten wie Norwegen ist das schon eine Selbstverständlichkeit. Dort würde bereits in allen Kliniken, so Grimmer, die Elternschaft abgefragt und Hilfsangebote für Kinder gemacht.
„Auch in Hessen ist der Bedarf hoch“, sagt die Medizinerin. Die Initiative hat neben Gesprächen in Rheinland-Pfalz und Bayern daher auch bereits im Rhein-Main-Gebiet erste Kontakte aufgenommen. „Im Mai stellen wir unser Konzept an der Uniklinik Frankfurt vor. Wir möchten gerne, dass sich ‚Stark im Sturm‘ auch auf Hessen ausdehnt“, berichtet Grimmer. Kooperationen wünscht sie sich auch mit dem Ministerium in Wiesbaden, verschiedenen Stiftungen und weiteren Kliniken.
Doch gibt es auch genug Hilfsmöglichkeiten, an die Eltern und Kinder dann verwiesen werden könnten? „In Ballungsräumen gibt es viele Angebote“, sagt die Psychiaterin. Nur müssten diese bei den Betroffenen bekannt und eben von ihnen auch angenommen werden. Im ländlichen Raum hingegen seien viele Hilfsleistungen seit der Corona-Pandemie weggebrochen und der Weg zu den verbliebenen Angeboten oftmals weit und teuer. Die Initiative „Stark im Sturm“ fordert daher, dass auch der Anfahrtsweg dorthin für Familien künftig gefördert werden sollte.
Mehr Aufmerksamkeit
Insgesamt wollen Professorin Yvonne Grimmer und ihre Mitstreiterinnen mehr Aufmerksamkeit und mehr Bewusstsein für die Bedürfnisse der Kinder psychisch- und suchtkranker Eltern schaffen – in der Bevölkerung ebenso wie in Kliniken oder Hilfseinrichtungen. Und auch ihre Studierenden will die Wissenschaftlerin für das Thema begeistern – in Form von Praktika, Bachelor- oder Masterarbeiten. Zum Teil ist das schon gelungen. Im Oktober wird eine Masterstudentin aus dem Fachbereich Media ein "Animation Video Project" zu „Stark im Sturm“ beginnen. Das Projekt ist eine Zusammenarbeit mit Prof. Georg Struck vom Fachbereich Media. Das Ziel: „Wir wollen den Kindern helfen“.
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