Verkehrsprojekte

Teammitglieder des SPV sitzen in einem Meeting an einem langen Holztisch mit Laptop
Die Transport-Gurus

Der Ball kam ins Rollen mit einer Anfrage der FIFA für eine Verkehrserhebung zum Confederations Cup 2005. Daraus entstand vor 20 Jahren das Studentische Projektbüro Verkehrswesen an der Hochschule Darmstadt. Seither hat das Studierenden-Team der h_da erfolgreich Projekte wie den Radschnellweg von Darmstadt nach Frankfurt, urbane Seilbahnstrecken oder Verkehrssicherheits- und Mobilitätsvorhaben realisiert, etliche Preise gewonnen und zuletzt sogar eine Einladung ins Kanzleramt nach Berlin erhalten.

 Von Astrid Ludwig, 2.12.2025

Fußball zieht immer. Als bei Klaus Habermehl eine Anfrage des Weltfußballverbandes landete, schlug der h_da-Professor für Bauingenieurwesen sofort ein. In Frankfurt und vier weiteren deutschen Stadien sollte 2005 der Confederations Cup ausgetragen werden. Ein Jahr vor dem WM-Sommermärchen in Deutschland wollte die FIFA die Stadien einem Stresstest unterziehen und war auf der Suche nach Universitäten und Hochschulen, die eine Verkehrserhebung machen könnten. Habermehl sagte zu, holte seinen Kollegen Prof. Jürgen Follmann mit ins Boot und rund 40 Studierende des Fachbereichs Bauingenieurwesen. Ziel war, die Verkehrsströme vor und nach einem Fußballspiel im Stadion Frankfurt unter die Lupe zu nehmen, Besuchende zu befragen und ein Konzept zu entwickeln, wie Fans mit Autos, ÖPNV, zu Fuß oder dem Rad ohne große Staus und Chaos an- und abreisen könnten.

Die Geburtsstunde des Projektbüros

Studierende zu finden, erinnert sich Prof. Follmann, war kein Problem. „Sie erhielten eine FIFA-Akkreditierung und durften sich alle Spiele ansehen.“ Also nicht nur anreisende Fans befragen oder Autos zählen, sondern anschließend live dabei sein. Es waren vier Matches bis zum Endspiel. Für ihre Mitarbeit erhielten die h_da-Studierenden Verträge „und dafür brauchte es ein Projektmanagement und eine Kostenstelle“, so Follmann. Das war die Geburtsstunde des Studentischen Projektbüros Verkehrswesen (SPV) an der Hochschule Darmstadt. Das SPV bot die nötigen Rahmenbedingungen und den Verantwortlichen ging es dabei nicht allein um den Sportspaß. „Wir haben das richtig ernst genommen. Es war nur ein Jahr bis zur Weltmeisterschaft“, erinnert er sich. Von Beginn an drangen sie bei der FIFA darauf, auch ÖPNV und Radverkehr zu berücksichtigen. „Das war schon immer unser roter Faden“, betont der Verkehrsexperte.

Das h_da-Team untersuchte nicht nur die An- und Abfahrt der Fans, ob es genügend Busse und Bahnen gab oder Abstellflächen für Zweiräder und Parkraum. Es entwickelte gemeinsam mit den ebenfalls beteiligten Universitäten aus Berlin, Bochum, Braunschweig und München auch ein Konzept für die Methodik der Verkehrserhebung. Und sie machten Verbesserungsvorschläge. Vor allem die Abfahrt nach den Spielen erwies sich als Problem. „Deshalb haben wir der FIFA den Vorschlag gemacht, die Fanströme zu entzerren und vor und nach den Spielen ein Rahmenprogramm anzubieten. Ebenso müsste der RMV die S-Bahnen bis in die späte Nacht fahren lassen“, so Follmann. Ein Rat, der angenommen wurde.

Internationaler Touch

Der Ball war im Spiel und aus dem ersten Auftrag ergaben sich weitere. Durch Zufall kam das Team während des Confed-Cups in Kontakt mit den südafrikanischen FIFA-Funktionären, die 2010 die WM in ihrem Land ausrichten sollten. „Frankfurt hat ein vergleichbares Stadion wie Port Elisabeth“, erläutert Professor Follmann. Das SPV wurde daher angefragt, ob es nicht eine solche Verkehrserhebung auch für Südafrika machen könne. Follmann und der inzwischen verstorbene Klaus Habermehl wurden ans Kap eingeladen und dort mit der lokalen Zeitungsschlagzeile „Transport Gurus fly in from Germany“ begrüßt, amüsiert er sich noch heute. Von Anfang an hatte das Verkehrswesen-Team einen internationalen Touch und auch Kontakte zu Partner-Unis und Städten in China (Tongji Shanghai), Estland (Tallinn), Georgien (Tbilisi) oder – als das noch möglich war – in Russland (Ulyanovsk). „Wir waren damals schon sehr weit beim Thema Verkehrssicherheit, Straßenraumgestaltung, Mobilität und Radwege“, betont Follmann, heute auch Mobilitätsbeauftragter der Hochschule.

Das Fußball-Projekt machte das h_da-Team bekannt – in Darmstadt, dem Rhein-Main-Gebiet und bundesweit. So folgte etwa eine Studie zum Mobilitätsverhalten der Schüler*innen im Kreis Offenbach. Von der fünften Klasse bis zur Oberstufe befragten die Studierenden des SPV die Pennäler*innen, wie sie zum Unterricht kommen, ob oder welche Probleme es auf dem Schulweg gibt und werteten rund 19.000 Fragebögen aus. Das Resultat war 2008 bis 2012 ein Mobilitätskonzept für Schulen im Kreis Offenbach. 2013 entstand aus einem Projekt mit der Claus-von-Stauffenberg-Schule in Rodgau das ÖPNV-Oberstufenticket als Vorläufer des Hessischen Schülertickets. Die Studierenden, erzählt Mark-Simon Krause, wissenschaftlicher Mitarbeiter des SPV, motivierten in Klassenbesuchen 500 Schüler*innen zum Schreiben von Fahrtenbüchern und werteten 40.000 Wege aus. „Alles per Hand und anschließend wurden die Daten digital eingepflegt“ Für so viel Engagement gab es als Bonbon interessante Exkursionen, betont Follmann. Eine Anerkennung heimste das Team 2010 und 2024 beim Hessischen Hochschulpreis für Exzellenz in der Lehre ein. Aktuelle Themen und Projekte, betont der Professor, finden immer Eingang in die Lehre.

Erfahrungen am eigenen Leib

Hautnah dran sein, Betroffene befragen, die Öffentlichkeit einbinden, das ist die Maxime des Verkehrsplanungsteams. „Reallabore“ und „Experimentierräume“ gehören zur Arbeitspraxis des Projektbüros. Um etwa Anwohnenden, Nutzenden oder Entscheidern in Politik und Verwaltung die Dimension eines Verkehrskreisels oder Radweges anschaulich zu machen, werden da auch schon mal große, runde LKW-Planen oder rote Teppichrollen auf der Straße ausgelegt. Laura Kehrer, damals Studentin und heute festangestellte wissenschaftliche Mitarbeiterin des Büros, setzte sich in einen Rollstuhl, um nachzuvollziehen, warum die Bewohner*innen eines Altenheimes in Heusenstamm ungern ihre Einrichtung verließen. Wie macht man alte Menschen mobil? Indem die Studierenden bei Kaffee und Kuchen das Gespräch suchten. Gemeinsam gingen sie mit den alten Menschen durch die Stadt zu den Orten ihrer Jugend. „Viele Wege waren nicht barrierefrei, es gab keine Sitzbänke und keine Toiletten“, erzählt Kehrer. Die Stadt Heusenstamm reagierte und verlegte Parkstreifen auf die Fahrbahn, stellte Bänke auf und Geschäfte öffneten ihre WCs für Senioren*innen. „Die Studierenden haben Pionierarbeit geleistet“, findet Follmann.

„Bei den Projekten wurden wir ins kalte Wasser geschmissen“, erinnert sich Svenja Weber schmunzelnd. Sie hat als Studentin im SPV mitgearbeitet, erreichte unlängst für ihre Masterarbeit den 2. Platz beim renommierten Förderpreis des deutschen Verkehrssicherheitsrates und kümmert sich heute bei Hessen Mobil um die Radwegeplanung. Weber wirkte als SPV-Studentin in der Planungswerkstatt für die Regionaltangente West mit, ein zentrales Schienenverkehrsprojekt von Bund, Land und Kommunen, das von Dreieich, über Neu-Isenburg, den Flughafen nach Frankfurt und den Taunus führen soll. „Ich musste auf der Bühne der Hugenottenhalle vor hunderten Leuten unsere Ergebnisse präsentieren“, weiß sie noch genau. „Als Studierende standen wir immer vorne“, sagt auch Mark-Simon Krause. Bewusst. „Die Studierenden müssen in der Öffentlichkeit ihre Ideen vertreten können und die Diskussion suchen“, findet Prof. Follmann.

Anerkannte Profis für den Radverkehr

Das studentische Projektbüro Verkehrswesen hat sich Anerkennung verschafft – gerade auch im Bereich der Radverkehrsplanung. Die Einrichtung der roten Radwegestreifen und Fahrradstraßen in Seligenstadt, Heusenstamm, Groß-Umstadt, Neu-Isenburg, Offenbach und Darmstadt wurde vom SPV begleitet. „Wir haben gezeigt, wie es geht“, so Follmann. In Darmstadt hat sich der Radverkehr seither von 18 auf fast 30 Prozent gesteigert. „Ein Riesenschub.“ Der vielgelobte Radschnellweg von Darmstadt nach Frankfurt geht auf eine Idee zweier h_da-Studenten zurück. Sieben Kommunen sind heute daran beteiligt, elf der 35 Kilometer mittlerweile von Darmstadt-Arheilgen bis Langen gebaut. Bis zu 3.000 Menschen nutzen den Weg täglich und nachts sogar bei Solarbeleuchtung. „Das ist eine echte Ergänzung für die Region und wäre ohne die Arbeit des SPV nicht möglich gewesen“, betont der Verkehrsexperte, der 2019 den Wissenschaftspreis der Hochschule erhielt. Eine zweite Verbindung ist im Kreis Offenbach in Planung, eine weitere von Aschaffenburg nach Hanau und das SPV ist wieder eingebunden.

Bundesweit Beachtung findet der Verkehrsversuch, den das Projektbüro mit der Stadt Heusenstamm 2023 initiiert hat. Dort wird in einem Wohnviertel zugunsten zweier zu enger Fuß- und Radwege im Seitenraum die Kernfahrbahn für Autos auf eine einstreifige Fahrbahn mit beidseitigen Schutzstreifen – die von Autos beim Begegnen überfahren werden dürfen – reduziert. Mit dem Ergebnis, dass sich Radfahrende jetzt sicherer fühlen und Autofahrende mit mehr Abstand und nicht mehr so häufig überholen. Auch der Fußverkehr fühlt sich sicher, weil nun fast 90 Prozent des Radverkehrs auf der Fahrbahn fährt. Der Versuch ist so erfolgreich, dass über das Hessische Verkehrsministerium eine entsprechende Änderung der Straßenverkehrsordnung beim Bundesverkehrsministerium beantragt wurde und unlängst das Team dafür sogar nach Berlin ins Kanzleramt eingeladen wurde. Laura Kehrer soll weitere Ergebnisse und Erfahrungen aus Nachbarländern zusammentragen und dann erneut im Bundeskanzleramt vorstellen.

Krause und Kehrer haben sich auch als Auditor*innen für Verkehrssicherheit einen Namen gemacht. Seit 2020 auditieren sie im Auftrag des Landes die Verkehrsplanungen hessischer Kommunen, die mit öffentlichen Mitteln gefördert werden. Als eine Art Sachverständige prüfen sie mit Prof. Follmann deren Vorhaben auf ihre Verkehrssicherheit. Dafür hat das Team eine Fortbildung bei der Bundesanstalt für Straßenwesen absolviert und darf nun als Projektbüro auch selbst Auditoren*innen ausbilden. Ein hohes Renommee, sagt Follmann. In Deutschland gibt es nur drei Ausbildungsstätten – die h_da ist neben den Unis Wuppertal und Weimar die einzige Hochschule, die diesen Titel tragen darf. „Wir finanzieren uns durch eigene Akquise“, unterstreicht Mark-Simon Krause.

Von urbanen Seilbahnen und andere Zukunftsvisionen

Experten sind die h_da-Wissenschaftler*innen auch, wenn es darum geht Staus und verstopften Straßen in luftigen Höhen zu entschweben. Follmann, der sich für ungewöhnliche Ideen und Innovationen begeistert, wirbt seit Jahren für urbane Seilbahnen als ein nachhaltiges Transportmittel der Zukunft und hat mit seinen Studierenden zahlreiche Projekte geplant und einige auch begleitet. So wurde die Seilbahn für die Bundesgartenschau Mannheim 2024 von seinem Team und dem SPV hinsichtlich der Nachhaltigkeit im Vergleich zu Alternativen im ÖPNV untersucht. Gerade berechnet wird der Nutzen-Kosten-Faktor einer Seilbahnlinie vom Offenbacher Kaiserlei zur Eissporthalle Frankfurt. Das Projekt ist Teil der Auszeichnung des Rhein-Main-Gebietes als „World Design Capital 2026“. Der Titel wird alle zwei Jahre von der World Design Organization mit Sitz in Kanada vergeben und würdigt Städte oder Regionen für designorientierte Innovationen und vorbildliche Projekte. Weil die h_da führend ist bei der Planung urbaner Seilbahnen „kommen zu uns sogar Studierende der ETH Zürich oder des KIT Karlsruhe“, freut sich der Professor.

Die 20-jährige Erfolgsgeschichte stimmt die Akteure*innen zuversichtlich. Sie haben konkrete Zukunftspläne. „Wir sind Innovationsraum der h_da und wollen unser Wissen weitertragen“, sagen Follmann, Krause und Kehrer. Entweder in Form eines Institutes der Hochschule Darmstadt oder als eigenständiges Startup-Unternehmen. Gespräche dazu laufen. Räume haben sie ebenfalls schon in Aussicht - das HUB31 Technologie und Gründerzentrum im Westen der Stadt Darmstadt.

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